Im Schein einer Osterkerze

aus Ottfried Preußler: Krabat. Arena, 1976.


Ostern war diesmal spät im Jahr, es fiel in die zweite Aprilhälfte. Am Abend des Karfreitags wurde Witko in die Schwarze Schule aufgenommen. Nie zuvor hatte Krabat einen so dürren und struppigen Raben gesehen wie ihn; auch glaubte er, einen rötlichen Schimmer auf seinem Gefieder wahrzunehmen, aber das bildete er sich vielleicht nur ein. Den Karsamstag verbrachten die Müllerburschen, indem sie auf Vorrat schliefen. Am späten Nachmittag tischte Juro ihnen gewaltig zu essen auf. „Haltet euch nur dazu“, mahnte Hanzo, „ihr wißt ja, es muß eine Weile vorhalten!“

Lyschko durfte zum erstenmal wieder aus der gemeinsamen Schüssel essen: bei Anbruch der Osternacht mußte aller Streit, den es unter den Müllerburschen gegeben hatte, begraben sein - das verlangte die Regel. Ums Dunkelwerden schickte der Meister die Knappen aus, sich das Mal zu holen. Alles vollzog sich genau wie im Jahr zuvor. Wieder wurden die Burschen vom Meister ausgezählt, wieder gingen sie paarweise aus der Mühle.

Krabat kam diesmal mit Juro zusammen.
„Wohin?“ fragte Juro, nachdem sie sich Decken geholt hatten.
„Wenn es dir recht ist: zu Bäumels Tod.“
„Ist gut“, meinte Juro, „wenn du den Weg nur weißt. Auf mich ist bei Nacht kein Verlaß, da muß ich schon froh sein, wenn ich vom Haus in den Stall finde, ohne mich zu verlaufen.“
„Ich gehe voraus“, sagte Krabat. „Sieh zu, daß du in der Dunkelheit nicht abhanden kommst!“

Den Weg, den sie gehen mußten, war Krabat erst einmal gegangen, mit Tonda damals. Den Koselbruch zu durchqueren, war ja nicht schwer. Erst draußen, jenseits des Waldes konnte es schwierig werden, wenn es den Feldweg zu finden galt, der an Schwarzkollm vorbeiführte, „Schlimmstenfalls“, sagte sich Krabat, „müssen wir querfeldein laufen ...“ - aber da fehlte nichts.

Trotz der Finsternis stießen sie wie von selbst auf den Pfad. Die Lichter des Dorfes zur Linken, gingen sie durch die Felder, erreichten nach einer Weile die Fahrstraße jenseits des Ortes und folgten ihr bis zur nächsten Biegung.

„Hier müßte es sein“, sagte Krabat.
Sie tasteten sich am Waldrand von Föhre zu Föhre. Krabat war froh, als er endlich den kantigen Stamm des Holzkreuzes mit den Fingern berührte.
„Zu mir her, Juro!“ Eilends kam Juro herbeigestolpert.
„Wie du das bloß geschafft hast, Krabat - das soll dir mal einer nachmachen!“

Er kramte in seinen Taschen nach Stahl und Feuerstein, dann setzten sie eine Handvoll Reisig in Brand. Beim Schein des Feuerchens klaubten sie auf dem Waldboden Rindenstücke und dürre Äste zusammen.
„Das Nachschüren übernehme ich“, sagte Juro. „Mit Feuer und Holz kann ich umgehen, dazu reicht es gerade noch.“ 

Krabat hüllte sich in die Decke und setzte sich unter das Kreuz. Wie Tonda vor einem Jahr hier gesessen hatte, saß heute er da: aufrecht, mit angezogenen Knien, den Rücken gegen den Stamm gelehnt.

Juro vertrieb sich die Zeit mit Geschichtenerzählen. Dann und wann sagte Krabat „ja“ dazu, oder „ach“ oder „sieh mal an!“ Er sagte es auf gut Glück, ohne richtig hinzuhören. Mehr brauchte es nicht, um Juro zufriedenzustellen. Eifrig erzählte er weiter, von dem und jenem, was ihm gerade einfiel. Es schien ihm nichts auszumachen, daß Krabat kaum bei der Sache war.

Krabat dachte an Tonda - und dachte zugleich an die Kantorka. Ohne daß er es wollte, war sie ihm eingefallen. Er freute sich auf den Augenblick, da er sie würde singen hören, vom Dorf herüber um Mitternacht. Und wenn er sie nicht hörte? Wenn ein anderes Mädchen vorsang in diesem Jahr?

Bei dem Versuch, sich die Stimme der Kantorka vorzustellen, machte er die Entdeckung, daß ihm das nicht mehr möglich war: daß sie weg war aus seinem Gedächtnis, verschwunden, ausgelöscht. Oder kam ihm das nur so vor?

Das war schmerzlich für ihn; und der Schmerz, den er da empfand, war von einer besonderen Art, die ihm neu war: als sei er an einer Stelle getroffen worden, von der er bislang nicht gewußt hatte, daß es sie gab. Er versuchte, darüber hinwegzukommen, indem er sich sagte: „Ich habe mir nie was aus Mädchen gemacht, und so will ich es auch in Zukunft halten. Was hätte ich denn davon? Es würde mir eines Tages doch nur wie Tonda ergehen. Dann säße ich da - und das Herz ist mir schwer von Kummer - und nachts, wenn mein Blick auf die mondhelle Heide fällt, gehe ich manchmal aus mir hinaus und suche den Ort auf, wo die, der ich Unglück gebracht habe, unterm Rasen liegt. ..“

Die Kunst des Aus-sich-Hinausgehens hatte Krabat inzwischen erlernt. Sie gehörte zu jenen wenigen Künsten, die anzuwenden der Meister die Burschen gewarnt hatte - „weil es leicht sein kann, daß jemand, der seinen Körper verlassen hat, nicht mehr hineinfindet.“ Denn das hatte der Meister den Mühlknappen eingeschärft: aus sich hinausgehen konnte man erst nach Einbruch der Dunkelheit - und zurückkehren nur vor Anbruch des neuen Tages.

Wer sich versäumte und länger ausblieb, für den gab es kein Zurück mehr. Sein Körper blieb ihm verschlossen und wurde für tot begraben, während er selbst dann umherirren mußte, ruhelos zwischen Tod und Loben, unfähig, sich zu zeigen, zu sprechen oder sich sonstwie bemerkbar zu machen - und darin lag die besondere Qual dieses Zustandes: noch der windigste Poltergeist konnte ja wenigstens klopfen, mit Töpfen klappern und Holzscheiter gegen die Wand schmeißen.

„Nein“, dachte Krabat, „ich werde mich hüten, aus mir hinauszugehen - was immer mich auch verlocken sollte.“

Juro war still geworden, er hockte am Feuer und rührte sich kaum. Wenn er nicht ab und zu einen Ast in die Glut geschoben, ein Rindenstück nachgeschürt hätte: Krabat wäre versucht gewesen zu glauben, er sei ihm davongeschlafen.

So wurde es Mitternacht.

Wieder tönten von ferne die Osterglocken, und abermals hob in Schwarz-kollm eine Mädchenstimme zu singen an - die Stimme, die Krabat kannte, auf die er gewartet, nach der er vergebens in seinem Gedächtnis gesucht hatte.

Jetzt aber, da er sie hörte, fand er es unbegreiflich, wie er sie hatte vergessen können.

„Erstanden ist der heilig Christ,
Halleluja, Halleluja!“ 

Krabat lauscht dem Gesang der Mädchen im Dorf, wie die Stimmen sich abwechseln, erst die eine und dann die andern, und während die anderen singen, wartet er schon darauf, daß die eine sie wieder ablöst.

„Was für Haar sie wohl hat, die Kantorka?“ muß er denken. „Braun vielleicht - oder schwarz - oder weizenfarben?“
Das möchte er wissen. Er möchte das Mädchen sehen, das er da singen hört, es verlangt ihn danach.
„Wenn ich aus mir hinausginge?“ denkt er. „Für wenige Augenblicke nur - bloß so lang, um ihr ins Gesicht zu schauen ...“

Schon spricht er die Formel, schon spürt er, wie er sich loslöst aus seinem Körper, wie er sich ausatmet, in die schwarze Nacht hinaus.

Er wirft einen Blick auf das Feuer zurück: auf Juro, der dahockt, als werde er jeden Augenblick einschlafen - auf sich selbst, wie er aufrecht sitzend am Kreuz lehnt, nicht tot, nicht lebendig. Alles, was Krabats Leben ausmacht, ist nun hier draußen, ist außerhalb. Frei ist es, leicht und unbeschwert - und sehr wach, sehr viel wacher mit allen Sinnen, als er es je gewesen ist.

Noch zögert er, seinen Körper allein zu lassen. Es gilt da, ein letztes Band zu lösen. Das fällt ihm nicht leicht, weil er weiß, daß es eine Trennung für immer sein kann. Trotzdem wendet er sich vom Anblick des Burschen am Feuer, der seinen Namen trägt, ab - und begibt sich ins Dorf.

Niemand hört Krabat, niemand vermag ihn zu sehen. Er selbst aber hört und sieht alles mit einer Deutlichkeit, die ihn staunen macht.

Singend ziehen die Mädchen mit ihren Laternen und Osterkerzen die Dorfstraße auf und ab, in der Abendmahlstracht, die schwarz ist, vom Schuh bis zum Häubchen - mit Ausnahme eines weißen Stirnbandes über dem in der Mitte gescheitelten, straff nach hinten gekämmten Haar.

Krabat verhält sich, wie Krabat sich auch verhalten hätte, wäre er sichtbar gewesen: Er gesellt sich den Dorfburschen zu, die in Gruppen zu beiden Seiten der Straße stehen, die Mädchen beobachtend. Scherzworte fallen und Zurufe.

„Könnt ihr nicht lauter singen - man hört euch kaum!“
„Aufpassen mit den Lichtern - daß ihr euch nicht die Nasen daran verbrennt!“
„Mögt ihr nicht herkommen und euch ein bißchen wärmen lassen - ihr seid ja ganz blaugefroren!“

Die Mädchen tun so, als seien die Burschen am Straßenrand nicht vorhanden für sie. Dies ist ihre Nacht, sie gehört ihnen ganz allein. Ruhig ziehen sie ihres Weges und singen, straßauf, straßab. Später gehen sie dann in eines der Bauernhäuser zum Aufwärmen. Die Burschen versuchen nachzudrängen, der Hausvater weist sie ab. Da eilen sie an die Stubenfenster und spähen hinein. Die Mädchen umringen den Ofen, die Bäuerin reicht ihnen Osterküchlein und heiße Milch. Mehr sehen die Burschen nicht, denn gleich ist der Hausvater wieder zur Stelle, diesmal mit einem Stecken.

„Ksch!“ macht er, wie man lästige Kater fortscheucht. „Weg da, ihr Kerle - oder es setzt was!“

Die Burschen verziehen sich maulend; auch Krabat folgt ihnen, der es gar nicht nötig hätte. In der Nachbarschaft warten sie, bis die Mädchen das Haus verlassen und weiterziehen.

Krabat weiß ja nun, daß die Kantorka helles Haar hat. Schmal ist sie und von hohem Wuchs, und sie hat eine stolze Art, wie sie geht und den Kopf hält. Eigentlich könnte er längst zu Juro ans Feuer zurückkehren, und das sollte er wohl.

Doch bisher ist es so gewesen, daß er die Kantorka nur aus der Ferne beobachtet hat, vom Straßenrand, und nun will er ihr in die Augen sehen. Krabat wird eins mit dem Kerzenlicht, das die Kantorka vor sich herträgt. Nun ist er ihr nahe - so nah, wie er nie zuvor einem Mädchen gewesen ist. Er blickt in ein junges Gesicht, das sehr schön ist im strengen Rahmen von Stirnband und Häubchen. Die Augen sind groß und sanft, sie blicken auf ihn hernieder und sehen ihn nicht - oder doch? Er weiß, daß es höchste Zeit ist, ans Feuer zurückzukehren. Aber die Augen des Mädchens, die hellen Augen im Kranz der Wimpern, halten ihn fest, er kommt nicht mehr los davon. Die Stimme der Kantorka hört er nur noch von fern, sie ist ihm jetzt nicht mehr wichtig, seit er ihr in die Augen sieht.

Krabat weiß, daß es auf den Morgen zugeht: er kann sich nicht trennen. Er weiß, daß sein Leben verspielt ist, wenn er sich nicht zur rechten Zeit losmacht und heimkehrt: er weiß es - und schafft es nicht. Bis ein plötzlicher, greller Schmerz ihn durchzuckt, der wie Feuer brennt und ihn jäh hinwegreißt.

Krabat fand sich am Waldrand wieder, bei Juro. Auf seinem Handrücken lag ein glühendes Stückchen Holz, rasch schüttelte er es ab.

„O Krabat!“ rief Juro, „das habe ich nicht gewollt! Du bist mir auf einmal so merkwürdig vorgekommen, so anders als sonst - da hab ich dir ins Gesicht geleuchtet, mit diesem Span da. Wer konnte denn wissen, daß dir die Glut auf die Hand fällt. . . Zeig her, ob es schlimm ist!“

„Es geht“, sagte Krabat.
Er spuckte auf die verbrannte Stelle. Wie dankbar er Juro war für sein Ungeschick, durfte er ihm nicht zeigen. Ohne sein Zündeln säße er jetzt nicht hier, gewiß nicht. Der Schmerz auf dem Handrücken hatte bewirkt, daß Krabat sich in Gedankenschnelle mit seinem Körper vereinigt hatte - um keine Minute zu früh.
„Es tagt“, sagte Krabat, „wir wollen die Späne schneiden.“

Sie schnitten die Späne, sie steckten sie in die Glut. 

„Ich zeichne dich, Bruder,
Mit Kohle vom Holzkreuz -
Ich zeichne dich
Mit dem Mal der Geheimen
Bruderschaft.“ 

Auf dem Heimweg zur Mühle begegneten sie den Mädchen mit ihren Wasserkrügen. Einen Augenblick überlegte Krabat, ob er die Kantorka ansprechen sollte. Aber dann ließ er es bleiben: weil Juro dabei war - und weil er die Kantorka nicht erschrecken wollte.