Osterlegende

von Karl Schubert, aus: Karl-Schubert-Schule für seelenpflegebedürftige Kinder, Stuttgart, Kurz-Nachrichten Nr. 72, April 2006.


Als Adam und Eva noch in dem schönen Paradiesesgarten weilten, da trugen sie einen wundersam leuchtenden Lichtleib, und besonders strahlend war ihr Antlitz, ein Abglanz der Herrlichkeit Gottes. Um sie herum blühten die Blumen, reiften die Früchte, glänzend in den prächtigsten Farben, herrlichen Duft verbreitend. Dabei war ein Klingen und Musizieren um sie her, voller, lieblicher und gewaltiger als alle Erdenmusik: Die Sterne tönten wie Posaunenklang, der Wind und die Wellen dröhnten gewaltiger als alles Orgelspiel; dazwischen erklang das Rauschen der Bäume, das Flüstern im Rohr lieblicher als Harfen und Geigen, und das Zwitschern der Vögel wie Flöten und Schalmeienklang.

Die Tiere sahen das Gottesleuchten im Menschengesicht und sprangen friedvoll und furchtlos um ihn herum. Hoch über Adams Haupt kreiste der Adler, der Sonne am nächsten; in der blauen Luft stieg die Lerche jubelnd auf, und die andern Singvögel, das Rotkehlchen, die Amsel, der Fink und die Nachtigall, saßen auf den Zweigen der Bäume und Sträucher und ließen ihre Stimmen erschallen. Der Löwe zeigte seine majestätischen Sprünge, das Rind lag friedvoll träumend im Gras, das zarte Reh nahte sich zierlich dem Menschen und schaute ihn mit seinen großen Augen an, ja selbst der scheue Hase spielte ganz furchtlos um Adams Füße.

So sollte es aber nicht immer bleiben, Luzifer, die Schlange, verführte Eva, dass sie die Frucht von dem Baume der Erkenntnis brach, davon aß und auch Adam zu essen gab.

Da verloren die Menschen ihren leuchtenden Lichtleib, ihr strahlendes Antlitz, standen da nackt und bloß und schämten sich. Der Engel mit dem flammenden Schwert trieb sie hinaus aus dem schönen Garten Eden und schloss das Tor. Mit ihnen wurden alle Tiere in die kalte, dunkle Erdenwelt hinausgestoßen. Der Löwe suchte nun in Wald und Wüste seine Beute, vor ihm floh das schlanke Reh in das dichteste Holz. Aber alle zusammen fürchteten und mieden den Menschen. Die Vögel schwiegen und flogen davon, wenn er sich nahte; alle Tiere des Feldes und des Waldes verbargen sich vor ihm, die Füchse und Dachse in ihre Löcher, das Eichhörnchen in die hohlen Bäume; am weitesten flüchtete der Hase und verkroch sich in dem dichtesten Gestrüpp unwegsamer Wälder.

Nur ein Mensch lebte noch, dessen Haupt das wunderbare Leuchten trug; das war Abel. Wenn er singend durch Wiesen und Wälder schritt, so tönten Blumen und Bäume, der Löwe legte seinen Grimm ab und der Hase verlor seine Furcht.

Doch Abel starb durch seines Bruders Hand. Immer trüber und trüber, immer dunkler und dunkler wurde die Erde. Aber die besten Menschen trugen noch die Erinnerung an die verlorene Schönheit und Unschuld als große Sehnsucht in ihren Herzen.

Sie wurde Erfüllung, als die Zeit erfüllet ward. Da nahm der Christus Wohnung in dem Leibe des Jesus von Nazareth, sein Blut floss herab und sein Leib wurde in die Erde gelegt. Am Ostermorgen erstand er aus dem Grabe und wandelte sieben Wochen als ein Verklärter über das Land. Sein Leib war so rein, strahlend und licht, wie der Leib Adams im Paradiesesgarten.

Seitdem erlangt zur Osterzeit der Mensch seine Unschuld zurück und wieder geht von seinem Antlitz ein Glänzen und Strahlen aus. Das sehen die Tiere und feiern jubelnd den Auferstehungstag mit. Vergessen ist alle Furcht und Scheu. Alle nahen sich ihm wieder. Friedlich kommt der Löwe mit dem Lamm, zutraulich das Reh aus dem Walde hervor. Die Vögel kehren zurück und singen ihre Lieder, und der flüchtige Hase verlässt sein Versteck und bringt dem Menschen als Oster- und Friedensgabe leuchtend rote und gelbe und blaue Eier. De Mensch nimmt sie voller Dankbarkeit hin und denkt an den großen Ostertag, wo die Erde ihre Erfüllung finden wird. Da werden wieder Mensch und Tier, Blumen, Bäume und Steine in wunderbarer Schönheit und Freude zusammen weben und leben, und die ganze Erde wird ein duftender, schwingender, tönender Gottesgarten sein.