Buddha und die Auferstehung

Rudolf Steiner: Vortrag vom 11.4.1909, GA 109 („Geistige Osterglocken“). [Überschriften eingefügt].


[...] Sehen wir zurück auf die große Reihe der Menschheitsbeglücker, der Menschheitserlöser, auf die großen Gestalten der Menschheit,
die der äußere Ausdruck waren für die Avatare, für die göttlich­geistigen Mächte, die von Epoche zu Epoche herunterstiegen aus geistigen Höhen und Menschengestalt annahmen, wie Vishnu, Kris­hna und so weiter, die erscheinen müssen, damit die Menschheit den Weg zurück findet in die geistigen Welten.

Die Menschheit brauchte, damit sie den Weg zurück finden konnte, in der Vorzeit Gottes Kraft dazu, die herunterstieg. Aber dadurch, daß das Mysterium von Golgatha geschehen ist, ist dem Menschen die Fähigkeit gege­ben, aus seinem eigenen Innern heraus die Kräfte zu finden, die ihn heraufheben, hinaufführen können in die geistigen Welten. Tiefer, viel tiefer als jene Welt‑ und Menschheitsführer ist der Christus heruntergestiegen, denn er hat nicht nur himmlische Kräfte in den irdischen Leib gebracht, sondern er hat diesen irdischen Leib selber so vergeistigt, daß nun die Menschen aus diesen Kräften heraus den Weg zurück finden konnten in die geistigen Welten. Mit göttlichen Kräften haben die vorchristlichen Erlöser die Menschheit erlöst. Mit Menschenkräften hat der Christus die Menschheit erlöst. Damit aber sind diese Menschenkräfte so vor unsere Seele gestellt worden, wie sie in ihrer Urkraft sein können.

Was wäre geschehen auf unserer Erde, wenn der Christus nicht auf Erden erschienen wäre? Diese ernste, diese tief einschneidende Frage wollen wir uns heute stellen.

Welterlöser auf Welterlöser hätten heruntersteigen können aus geistigen Welten: sie hätten zuletzt unten nur Menschen gefun­den, so eingegraben in die Materie, so versunken in den Stoff, daß aus diesem unheiligen, unreinen Stoff die reinen göttlich‑geistigen Kräfte den Menschen nicht wieder hätten emporheben können. [...]

Es mußte eine starke Himmelskraft in den physischen Stoff hi­neinstrahlen, sich in den physischen Stoff hineinopfern. Nicht bloß ein Gott in der Maske der Menschengestalt durfte es sein, sondern ein wahrer Mensch mit Menschenkräften, der den Gott in sich trägt, mußte es sein. Es mußte das Ereignis von Golgatha eintreten, damit der Stoff, in den der Mensch hineingestellt ist, bereit werde, gereinigt und geläutert werde, damit das Material des so gereinigten und geheiligten Stoffes geeignet sei, daß für künftige Inkarnationen die Urweltweisheit wieder verständlich werden könne. Und es muß nun die Menschheit dahin gebracht werden, zu verstehen, wie in diesem Sinne wirklich gewirkt hat das Ereignis von Golgatha. Denn was ist das Ereignis von Golgatha für die Menschheit gewesen? Wie tief einschneidend hat es sich hineingestellt in Menschenwesen und Menschensein? [...]

Lassen wir den Blick schweifen über zwölf Jahrhunderte. Schau­en wir auf sechs Jahrhunderte vor dem Ereignis von Golgatha und sechs Jahrhunderte nach demselben. [...]

Die Erleuchtung des Buddha...

Wahrlich, man kann kaum Größeres und Bedeutsameres hin­stellen vor die empfindende menschliche Seele als jene gewaltigen Momente, die aufbewahrt hat die Buddha‑Legende von der allmäh­lichen Erleuchtung des Buddha. [...]

Ein Kind findet er, schwach und elend. Leiden ist ihm beschert in dem Dasein, in das es durch die Geburt eingetreten ist. Er empfand: Geburt ist Leiden. – Und weiter sieht der Buddha mit seiner empfänglichen Seele einen Kranken, einen Siechen. So kann der Mensch werden, wenn er durch den Durst nach Dasein in die irdische Welt hineingetragen wird: Krankheit ist Leiden. – Einen durch Alter bresthaft gewordenen Greis findet er. Was ist es, das dem Menschen durch sein Leben beschert wird, so daß er allmäh­lich nicht mehr Herr sein kann seiner Glieder? Alter ist Leiden. – Und einen Leichnam sah er. Der Tod steht vor ihm mit allem seinem Zerstören und Auslöschen des Lebens: Tod ist Leiden. – Und weiter forscht der Buddha dem Leben nach und sagt sich: Getrennt sein von dem, was man liebt, ist Leiden; vereint sein mit dem, was man nicht liebt, ist Leiden; nicht erhalten, was man begehrt, ist Leiden.

Groß und gewaltig und eindringlich erklang die Lehre vom Lei­den durch Menschenherz und Menschenbrust. Unzählige Menschen lernten die große Wahrheit von der Befreiung vom Leiden durch das Erlöschen des Durstes nach Dasein, lernten, wie sie sich hinaus­sehnen sollten aus dem irdisch‑physischen Dasein, wie sie hinaus­streben sollten aus den irdischen Inkarnationen, und wie allein das Erlöschen des Durstes nach Dasein zur Erlösung und zur Befreiung vom Leiden führen kann. Wahrlich, ein höchster Gipfel der Mensch­heitsentwicklung wird da vor unsere Seele hingestellt!

...und das Christus-Ereignis

Und nun lassen wir die Blicke schweifen über einen Zeitraum, der zwölf Jahrhunderte umfaßt, sechshundert Jahre vor unserer Zeit­rechnung und sechshundert Jahre nach unserer Zeitrechnung. Da muß eines hervorgehoben werden: da hat inmitten dieses Zeitraumes das Mysterium von Golgatha stattgefunden. Aus dem Zeitalter des Buddha sei jetzt nur eines hervorgehoben: der Leichnam und was der Buddha beim Anblick eines solchen empfand und lehrte. Und sechshundert Jahre nach dem Ereignis von Golgatha: da wandten sich unzählige Seelen, unzählige Augen einem Kreuzesholz zu, an dem ein Leichnam hängt; aber es gehen von diesem Leichnam für die Menschheit die Impulse aus, die das Leben durchgeistigen, die Impulse, daß durch das Leben der Tod besiegt wird. Es ist der Ge­genpol von dem, was der Buddha beim Anblick eines Leichnams empfunden hat.

Der Buddha hat einen Leichnam gesehen und an ihm die Nich­tigkeit des Lebens erkannt. Die Menschen, die sechshundert Jahre nach dem Ereignis von Golgatha gelebt haben, sie haben aufgeschaut mit andachtsvoller Inbrunst zu dem Leichnam am Kreuz. Er war ihnen das Zeichen des Lebens, und in ihrer Seele ging die Gewiß­heit auf, daß das Dasein nicht Leiden ist, sondern daß es über den Tod hinüberführt in die Seligkeit. Der Leichnam des Christus Jesus am Kreuze wurde sechs Jahrhunderte nach dem Ereignis von Gol­gatha zum Erinnerungszeichen des Lebens, der Auferstehung des Lebens, der Überwindung des Todes und allen Leidens, so wie der Leichnam sechshundert Jahre vor dem Mysterium von Golgatha das Erkenntniszeichen war dafür, daß Leid den Menschen befallen muß, der durch den Durst nach Dasein hineintritt in die physische Welt. Niemals gab es einen größeren Umschwung in der gesamten Menschheitsentwicklung.

Wenn sechshundert Jahre vorher der Eintritt in die physische Welt für den Menschen Leiden war, wie stellt sich für die Seele jetzt, nach dem Ereignis von Golgatha, die große Wahrheit vom Leid des Lebens dar? Wie stellt sie sich dar für diejenigen Menschen, die mit Verständnis aufblicken zum Kreuz auf Golgatha? Ist Geburt Lei­den, wie Buddha sagte? – Diejenigen, die mit Verständnis aufblicken zum Kreuz auf Golgatha, die sich mit ihm verbunden fühlen, sagen sich: Diese Geburt führt den Menschen auf eine Erde, die die Mög­lichkeit hatte, zu umkleiden aus ihren Elementen den Christus. – Sie wollen gern betreten diese Erde, über die der Christus gewandelt ist. Und durch die Verbindung mit dem Christus ersteht in der Seele die Kraft, durch die sie hinauffinden kann in die geistigen Welten, ersteht die Erkenntnis, daß Geburt nicht Leiden ist, sondern das Tor ist zum Finden des Erlösers, der sich auch mit denselben irdischen Stoffen umhüllt hat, die die menschliche Leibeshülle bilden.

Geisteskraft statt Leiden

Ist Krankheit Leiden? – Nein! – so sagten sich die, welche den Impuls von Golgatha im wirklichen Sinne verstanden – nein, Krank­heit ist nicht Leiden. Wenn auch heute die Menschheit noch nicht verstehen kann, was das spirituelle Leben in Wahrheit ist, das mit dem Christus einströmt, – die Menschen werden es in der Zukunft verstehen lernen, und sie werden wissen, daß, wer sich durchströ­men läßt von dem Christus‑Impuls, in wessen Innerstes die Chris­tus‑Kraft einzieht, daß der alle Krankheit überwinden kann durch die starken, gesundenden Kräfte, die er aus sich entwickelt. Denn der Christus ist der große Heiler der Menschheit. In seiner Kraft ist umschlossen alles das, was aus dem Geistigen heraus wirklich die starke heilende Kraft entwickeln und was die Krankheit überwin­den kann. Krankheit ist nicht Leid. Krankheit ist eine Gelegenheit, ein Hemmnis zu überwinden, indem der Mensch in sich entwickelt die Christus‑Kraft.

Über die Beschwerden des Alters muß der Mensch sich in glei­cher Weise klar werden. Je mehr wir zunehmen in der Schwachheit unserer Glieder, desto mehr können wir wachsen im Geiste, können Herr werden durch die in uns wohnende Christus‑Kraft. Alter ist nicht Leiden, denn mit jedem Tage wachsen wir ja hinein in die geistige Welt. Und auch der Tod ist nicht Leiden, denn er wird be­siegt in der Auferstehung. Durch das Ereignis von Golgatha ist der Tod besiegt worden.

Kann das Getrenntsein von dem, was wir lieben, noch Leiden sein? – Nein! Die Seelen, die sich mit der Christus‑Kraft durchzie­hen, wissen, daß die Liebe Bande schlingen kann von Seele zu Seele über alle materiellen Hindernisse hinweg, Bande im Geistigen, die unzerreißbar sind. Und es gibt nichts im Leben zwischen Geburt und Tod und zwischen Tod und neuer Geburt, zu dem wir nicht im Spirituellen den Weg finden durch den Christus‑Impuls. Es ist undenkbar, daß wir auf die Dauer, wenn wir uns mit dem Christus­-Impuls durchdringen, getrennt sein können von dem, was wir lie­ben. Der Christus führt uns zusammen mit dem, was wir lieben.

Und ebenso kann „Vereint sein mit dem, was wir nicht lieben“ nicht Leiden sein, weil der Christus‑Impuls uns lehrt, wenn wir ihn in unserer Seele aufnehmen, alles seinem entsprechenden Maße nach zu lieben. Der Christus‑Impuls zeigt uns den Weg, und wenn wir diesen Weg finden, kann niemals mehr „Vereint sein mit dem, was wir nicht lieben“ Leiden sein, denn es gibt nichts mehr, was wir nicht mit Liebe umfassen.

Und „Nicht erreichen, was man begehrt“, kann mit dem Christus nicht mehr Leiden sein, denn die Empfindungen und Gefühle des Menschen, sein Begehren, werden durch den Christus‑Impuls so gereinigt und veredelt, daß die Menschen nur noch begehren nach dem, was ihnen werden soll. Sie leiden nicht mehr unter dem, was sie entbehren; denn sollen sie entbehren, so ist es zur Läuterung. Und die Christus‑Kraft gibt ihnen die Kraft dazu, es als Läuterung zu empfinden, und daher ist es auch nicht mehr Leiden.

Was ist also das Ereignis von Golgatha? Es ist das allmähliche Hinwegschaffen der von dem großen Buddha hingestellten Tatsachen vom Leiden. Es gibt keinen größeren Einschlag im Welten­werden und Weltenwesen als das Ereignis von Golgatha. [...]

Dann aber, wenn die Menschen immer mehr vorbereitet sein werden zum Empfang des Christus‑Ich, dann wird sich das Chris­tus‑Ich immer mehr in die Seelen der Menschen ergießen. Sie wer­den dann sich hinaufentwickeln dahin, wo ihr großes Vorbild, der Christus Jesus, stand. Die Menschen werden dadurch erst verstehen lernen, inwiefern der Christus Jesus das große Menschheitsvorbild ist. Und wenn die Menschheit das verstanden haben wird, wird sie beginnen, in ihrem tiefsten Innern zu ahnen, daß die Gewißheit, die Wahrheit von der Ewigkeit des Lebens von dem toten Leichnam am Holze des Kreuzes von Golgatha ausgeht. [...]