Ostern – eine Frage der Wahrhaftigkeit

Rudolf Steiner: Vortrag vom 2.4.1920, Karfreitag, GA 198 („Paulus, der Künder des Christus-Impulses“).


[...] Man sollte sich eigentlich heute doch gestehen, ganz ernst und ehrlich gestehen, daß es schwierig ist, in die ganz andersartigen Vor­stellungen sich hineinzuleben – anders gegenüber den heutigen –, die sich in den Evangelien und in den Paulusbriefen befinden. Aber man ist gewohnt worden, mit solchen Vorstellungen gar nicht mehr zu rechnen. Im Grunde genommen liegt es dem Menschen, der ganz durchdrungen ist mit den Vorstellungsgewohnheiten der Gegen­wart, sehr, sehr ferne, sich bei Paulusworten das Richtige zu denken. Bemüht sich doch selbst eine große Anzahl der heutigen Theologen, das Ereignis von Damaskus so materialistisch als möglich aufzufas­sen; ja, es bemüht sich eine Anzahl von Theologen, indem sie noch vorgeben, wirkliche Christen zu sein, sogar darum, die wirkliche Auferstehung des Christus Jesus abzuleugnen! Damit bezeugen die­se Persönlichkeiten nur, daß sie eben nicht geneigt sind, irgendeine Erkenntnis des Übersinnlichen auf das Wesen des Christentums, auf die Erscheinung des Christus Jesus innerhalb der Erdenentwick­lung anzuwenden. [...]

Damit hat eben jene Anschauung ihren Charakter bekommen, die selbst das Ereignis von Damaskus noch ableugnet als ein sol­ches, das einer Wirklichkeit entspricht, und die das Ereignis von Damaskus nur nehmen will wie etwas, was eine Art Halluzination des Paulus war. Wenn aber das Ereignis von Damaskus eine bloße Halluzination war – oder ich kann auch sagen, wenn das Ereignis von Damaskus das war, was bei einer großen Anzahl der modernen Theologen das Ereignis von Damaskus sein soll –, dann müßte man auch den Mut haben, zu sagen: So schnell wie möglich weg mit dem Christentum –, denn dann ist der größte Unsinn mit dem Christen­tum in die Menschheit hereingezogen.

Das ist, was eigentlich gegenüber den neueren theologischen Leh­ren nötig wäre, wenn die Menschen diese neueren theologischen Lehren noch erstens ernst und zweitens mutig genug nehmen wür­den. Aber sie nehmen sie weder ernst noch mutig. Sie weichen zu­rück vor der bloßen äußeren sinnlichen Wissenschaft, leugnen den inneren realen Impuls des Ereignisses von Damaskus, halten aber dennoch an dem Christentum fest. Gerade in solchen Dingen drü­cken sich die inneren, die seelisch‑geistigen Schäden unserer Zeit am allerdeutlichsten aus, denn in solchen Dingen zeigt sich die tiefe innere Unwahrheit unserer Zeit. Die Wahrheit müßte sich gestehen: Entweder war das Ereignis von Damaskus eine Realität, etwas, was sich auf eine Realität bezieht, dann hat das Christentum Sinn, – oder das Ereignis von Damaskus war dasjenige, was die moderne The­ologie sagt, die sich der neueren Wissenschaft fügen will, dann hat das Christentum keinen Sinn. Das ist so wichtig, daß sich die Men­schen solche Dinge vor die Seele rückten in dieser unserer Zeit, die eigentlich eine Zeit schwerer Prüfung ist. Denn indem die Menschen innerlich vor sich selber unwahrhaftig geworden sind in bezug auf ihre heiligsten Angelegenheiten, indem sie unwahrhaftig geworden sind in dem Sinne, daß sie das nicht mehr Christentum nennen dürf­ten, was sie so nennen, hat die Neigung, die oftmals unbewußte, aber darum nicht minder verderbliche Neigung zur Unwahrheit die Menschheit eben ergriffen. Und deshalb ist diese Neigung zur Un­wahrheit da. Deshalb ist diese Neigung zur Unwahrheit so innerlich verknüpft mit den Ereignissen, die nunmehr zur völligen Dekadenz des europäischen Kulturlebens führen müssen, wenn nicht für die­ses europäische Kulturleben noch zur rechten Zeit die Besinnung auftritt, zu einer geistigen Erkenntnis sich hinzuwenden.

Sich hinzuwenden zu einer geistigen Erkenntnis, dazu genügt nun wahrhaftig nicht, in dieser Zeit der schweren Prüfungen im Kleinen stehenzubleiben, sondern dazu genügt nur, wirklich die Dinge in ihren Tiefen zu nehmen und an die Notwendigkeit großer Umwandelungen gerade in unserer Zeit zu denken. Immer wieder und wiederum muß betont werden: Was ist denn im Grunde ge­nommen heute ein solches Fest wie das Osterfest für einen großen Teil der Menschheit? Wenn dieses Osterfest für einen großen Teil der Menschheit heranrückt, dann besteht für die Gedanken, die man sich bei diesem Osterfeste im Kreise derjenigen macht, mit denen man es noch zusammen feiern will, dieses, daß man alte Denkge­wohnheiten festhält, daß man auch ziemlich in den alten Worten redet, mehr oder weniger automatisch fortredet, daß man dieselben Formeln hersagt, die man herzusagen gewöhnt war durch lange Zei­ten. Aber haben wir heute ein Recht, diese alten Formeln herzusagen, da wir in unserem Umkreis überall den Unwillen bemerken, teilzunehmen an der großen, notwendigen Umgestaltung der Zeit? Können wir uns denn mit Recht auf das Paulinische Wort beru­fen: „Nicht ich, sondern der Christus in mir“, wenn wir so wenig geneigt sind, hinzuschauen auf das, was die Menschheit in großes Unglück gebracht hat im Laufe der neuesten Zeit? Muß es nicht zusammenhängen gerade mit dem Osterfeste, sich klar zu werden über das, was die Menschheit getroffen hat, und über das, was einzig und allein aus der Katastrophe herausführen kann: die übersinnliche Erkenntnis? Wenn das Osterfest, das ja in seiner Bedeutung ruht auf der übersinnlichen Erkenntnis – denn nimmermehr kann dasjenige, was das Osterfest bedeutet, die Auferstehung des Christus Jesus, bloß eine sinnliche Erkenntnis bedeuten –, müßte nicht, wenn dieses Osterfest ernst genommen würde, die Menschheit darauf bedacht sein, daß Übersinnliches wiederum in die Erkenntnisse des Men­schen einziehen muß? Sollte nicht heute der Gedanke auftauchen: Die Verlogenheit der neueren Kultur, sie ist davon gekommen, daß wir selbst über solche Dinge nicht mehr ernst sein konnten, wie dasjenige, was wir als unsere heiligen Feste anerkennen?

Auferstehung aus dem Erkenntnisgrab

Wir feiern das Osterfest, das Auferstehungsfest, und haben längst aus der materialistischen Gesinnung heraus aufgehört, im Ernste die Auferstehung begreifen zu wollen. Wir machen volle Feindschaft mit der Wahrheit, und wir suchen uns alle möglichen Auswege, um statt der Wahrheit den Weltenspaß hereinzubekommen; den Weltenspaß – denn ein solcher wäre es zu nennen, oder ist es zu nennen, wenn die Menschen das Fest der Auferstehung feiern und der neueren Wissenschaft glauben, die selbstverständlich an eine solche Auferstehung niemals appellieren kann. Materialismus und Osterfest‑Feiern, das sind zwei Dinge, die unmöglich zueinander gehören, die unmöglich nebeneinander bestehen sollten. [...]

Es ist notwendig, daß diejenige Tendenz, welche in der fünften nachatlantischen Zeit heraufgekommen ist, die Tendenz nach einer begreifbaren, dem menschlichen Urteilsvermögen angemessenen wissenschaftlichen Erkenntnis, auch einziehe in die Erkenntnis der übersinnlichen Welt. Denn zu den Ereignissen, die durchaus in der übersinnlichen Welt liegen, gehört das Ereignis von Golgatha. Zu den Ereignissen, die nur verstanden werden können durch über­sinnliche Vorstellungen, gehört das Ereignis von Damaskus, wie es Paulus erlebt hat. Von dem Verständnis dieser Ereignisse hängt es ab, ob man in Wahrheit von dem Christus‑ Impuls etwas fühlen kann, oder ob man von dem Christus‑Impuls nichts fühlen kann. Geradezu eine Probe sollte sich der Mensch der Gegenwart aufer­legen, indem er sich frägt: Wie stehe ich in derjenigen Zeit, die man auf das „Osterfest“ getauft hat, wie stehe ich zu dem, was über­sinnliche Erkenntnisse sind? [...]

Aus einer Welt, in die man nur hinein rechnet, oder in der man die Eigenschaften der Sonne mit dem Spektro­skop untersucht, in einer solchen Welt ist allerdings der Ort nicht zu suchen, aus dem der Christus heruntergekommen sein sollte, um sich mit dem Erdenleben zu verbinden! Ein gewisser Teil der Menschheit zieht es ja heute vor, weil er nicht zurecht kommt mit seinen Gedanken, lieber sich gar nicht damit zu beschäftigen, son­dern fortzureden mit denjenigen Worten, die man gelernt hat aus den Evangelien, aus den Paulusbriefen, nachzuplappern, was man da gelernt hat, nicht nachzudenken, ob sich das verträgt mit dem, was man sonst als Anschauung gewinnt über die Entwicklung der Erde und der Menschheit. Aber eben darin besteht die tiefe inne­re Unwahrheit unserer Zeit, daß man sich herumdrückt um das wirklich nebeneinander zu Denkende, notwendig nebeneinander zu Denkende. Einen Nebel will man sich vormachen, damit man das Zusammengehörige nicht zusammen zu denken braucht. Einen Ne­bel macht man sich deshalb schon auch vor, wenn man Feste feiert, wenn man vom Osterfeste spricht, vom Feste der Auferstehung, und eigentlich weit davon entfernt ist, sich einen Begriff von dieser Auferstehung zu machen, der ja heute nur mit geistig‑übersinnlicher Erkenntnis gemacht werden kann. [...]

Es ist schon notwendig, daß die Menschen der Gegenwart sich eine Klarheit darüber, ein Bewußtsein davon verschaffen, daß auferstehen muß aus diesem Grabe des materialistischen Anschauens die übersinn­liche Erkenntnis. Denn mit der übersinnlichen Erkenntnis wird die Erkenntnis des Christus Jesus aus diesem Grabe auferstehen. Im Grunde genommen hat man heute kein anderes Symbolum, das treffend ist für das Osterfest, als dieses: Des Menschen ganzes See­lenschicksal ist gekreuzigt in der materialistischen Weltanschauung. Aber der Mensch selber, die Menschheit muß etwas tun, damit aus dem Grabe des Materialismus auferstehe dasjenige, was aus der übersinnlichen Erkenntnis kommen kann.

Dieses Streben nach der übersinnlichen Erkenntnis ist selbst et­was Österliches; es ist etwas, was, wenn es empfunden wird, den Menschen wiederum ein Recht gibt, so etwas zu feiern, wie es das Osterfest ist. [...] Und ehe nicht die Menschen dazu kommen, die gegenwärtige, rein am Sinnlichen klebende Art von Erkenntnis als das Erkenntnisgrab anzusehen, aus dem eine Auferstehung kommen muß, eher wird die Menschheit nicht dazu kommen, sich zu solchen Gefühlen und Empfindungen zu erheben, die österliche sein werden.