Pfingsten, das Fest der freien Individualität

Rudolf Steiner, Vortrag vom 15.5.1910, GA 118.


Was dieses Pfingstfest für die Menschen des Abendlandes bedeutet, das stellt sich vor uns hin in einem gewaltigen, in einem tief ins Gemüt sprechenden Bilde. [...] Der Begründer, der Stifter des Christentums weilt noch eine Weile, nachdem er das Mysterium von Golgatha vollzogen hat, unter denen, die ihn zu sehen vermögen in jener Leiblichkeit, die er nach dem Mysterium von Golgatha angenommen hat. Und dann wird uns die weitere Folge der Ereignisse in einer bedeutungsvollen Bilderreihe vor die Seele gerückt. Es löst sich auf, sichtbar in einer gewaltigen Vision für seine nächsten Bekenner, die Leiblichkeit, die der Begründer des Christentums nach dem Mysterium von Golgatha angenommen hat, in der sogenannten Himmelfahrt.

Und dann folgt nach zehn Tagen das, was uns nun gekennzeichnet wird durch ein Bild, das eine eindringliche Sprache führt für alle Herzen, die es verstehen wollen. Versammelt sind die Bekenner des Christus, versammelt die, welche ihn zuerst verstanden haben. Tief fühlen sie den gewaltigen Impuls, der durch ihn eingezogen ist in die Menschheitsentwickelung, und erwartungsvoll harrt ihre Seele nach der Verheißung, die ihnen geworden ist, der Ereignisse, die sich in diesen Seelen selbst vollziehen sollen. [...] Und erhoben werden ihre Seelen zu höherer Anschauung, gerufen werden sie gleichsam durch das, was uns dargestellt wird als „gewaltiges Brausen“, um ihr Betrachtungsvermögen nach dem hinzulenken, was da werden soll, was ihnen bevorsteht, wenn sie in immer neuen Wiederverkörperungen mit dem Feuerimpuls, den sie in ihre Herzen empfangen haben, auf dieser unserer Erde leben werden.

Und hingemalt wird vor unsere Seele das Bild der „feurigen Zungen“, die sich niederlassen auf das Haupt eines jeglichen Bekenners, und eine gewaltige Vision sagt den Teilnehmenden, wie die Zukunft dieses Impulses sein wird. Denn die also versammelten und die geistige Welt im Geiste schauenden ersten Versteher des Christus fühlen [...] ihre Herzen weit, weit hinausversetzt zu den verschiedensten Völkern des Erdkreises, und sie fühlen, wie wenn in ihren Herzen etwas lebt, was übersetzbar ist in alle Sprachen, in das Verstehen der Herzen aller Menschen. Wie umringt fühlen sich die ersten Bekenner in dieser gewaltigen Vision, die ihnen aufgeht von der Zukunft des Christentums, wie umringt von den zukünftigen Verstehern aus allen Völkern der Erde. [...]

Nun war aber durch den Christus-Impuls eine neue Anschauung gekommen, eine Anschauung, daß dieser Geist, von dem man früher gesprochen hat, dieser Volksgeist abgelöst werden sollte von einem ihm zwar verwandten, aber viel höher wirkenden Geist, von einem solchen Geiste, der sich verhält zu der ganzen Menschheit, wie sich der alte Geist verhalten hat zu den einzelnen Völkern. Dieser Geist sollte der Menschheit mitgeteilt werden und sie erfüllen mit der inneren Kraft, die da sagt: Ich fühle mich nicht mehr bloß angehörig einem Teile der Menschheit, sondern der ganzen Menschheit; ich bin ein Glied der ganzen Menschheit, und werde immer mehr ein Glied dieser ganzen Menschheit sein! – Diese Kraft, die also ausgoß das allgemein Menschliche über die ganze Menschheit, schrieb man dem Heiligen Geist zu. [...]

Dieser Geist ist also schöpferisch betätigt, indem er mit der Geburt des Jesus von Nazareth seine Kräfte einfließen läßt in die Menschheitsentwickelung. Und er ist weiter betätigt bei jenem gewaltigen Akt der Johannestaufe am Jordan. Nun verstehen wir, was die Kraft des Heiligen Geistes ist: Es ist die Kraft, welche den Menschen immer mehr und mehr erheben soll von allem, was ihn differenziert und absondert, zu dem, was ihn zu einem Glied der ganzen, die Erde erfüllenden Menschheit macht, was als Seelenband wirkt von einer jeglichen Seele zu einer jeden andern Seele, ganz gleichgültig, in welchem Leibe sie wohnt. [...]

Nachdem der Träger dieses menschlichen Allgemeingeistes auf der Erde gewirkt hat, nachdem der Christus die letzten Hüllen hat zerfließen lassen [...] im geistigen Erdendasein, da ist erst die Möglichkeit gegeben, daß aus den Herzen der Versteher des Christus-Impulses hervorgeht die Möglichkeit, zu sprechen von diesem Christus-Impuls, zu wirken im Sinne dieses Christus-Impulses. Untergegangen ist der Christus-Impuls, insofern er sich in äußeren Hüllen manifestiert hat, in der einheitlichen geistigen Welt durch die Himmelfahrt; wieder aufgetaucht ist er zehn Tage danach aus den Herzen heraus der einzelnen Individualitäten, der ersten Versteher. [...]

Und der Mensch kann fühlen, je mehr er sich vervollkommnet, daß der Heilige Geist aus seinem eigenen Innern in dem Maße spricht, als das Denken, Fühlen und Wollen des Menschen durchdrungen ist von diesem Heiligen Geist, der durch seine Spaltung, seine Vermannigfaltigung ein individueller Geist auch ist in jeder einzelnen Menschenindividualität. Dadurch ist dieser Heilige Geist für uns Menschen in bezug auf unsere Zukunftsentwickelung der Geist der Entwickelung zum freien Menschen, zur freien Menschenseele. [...]

Frei werden kann der Mensch nur im Geiste. Solange er abhängig ist von dem, worin sein Geist als in seiner Leiblichkeit wohnt, solange bleibt er ein Sklave dieser Leiblichkeit. Frei werden kann er nur, wenn er sich im Geiste wiederfindet und aus dem Geiste heraus Herr wird über das, was in ihm ist. „Frei werden“ setzt voraus: sich als Geist finden in sich selber. Der wahre Geist, in dem wir uns finden können, ist der allgemeine Menschengeist, den wir als die in uns pfingstlich einziehende Kraft des Heiligen Geistes erkennen, den wir selber in uns gebären müssen, zur Erscheinung kommen lassen müssen. So verwandelt sich für uns das Pfingstsymbol in unser gewaltigstes Ideal der freien Entwickelung der Menschenseele zu einer in sich geschlossenen freien Individualität.