Die menschliche Intelligenz und der Christus

Rudolf Steiner, 16.8.1919, GA 296 („Die Erziehungsfrage als soziale Frage“), 5. Vortrag, S. 85-97. [Zwischen-/Überschriften eingefügt]


[...] Sie haben ja aus den gestrigen Auseinandersetzungen gesehen, wie es immer notwendiger und notwendiger wird, die starren, abstrakten Begriffe, die der gegenwärtige Mensch gewohnt ist, zu verwandeln in flüssige, bewegliche, lebendige Begriffe, wenn wir im Leben weiter­kommen wollen als Menschheit.
Ein besonderes Licht wirft auf alle die in dieser Beziehung in Betracht kommenden Tatsachen die Betrachtung desjenigen, was wir unter den menschlichen Seelenkräften die Intelligenz nennen. Sie wissen ja, der Mensch der Gegenwart ist auf seine Intelligenz ganz besonders stolz. Er betrachtet die Intelligenz gewissermaßen als dasjenige, das er sich im Laufe der Zeit als ein besonders Auszeichnendes errungen hat.

Wenn der Mensch der Gegenwart zurücksieht auf frühere Zeit­epochen, sieht, wie die Menschen in früheren Zeitepochen manches sich bildlich vorgestellt haben, wie sie dasjenige, was der Mensch der Gegenwart glaubt jetzt richtig zu erkennen durch seine Intelligenz, durch seine Wissenschaft, wie die Menschen früherer Entwickelungsepochen das durch Mythen, Legenden und dergleichen zu durch­dringen versuchten, dann nennt der Mensch der Gegenwart diese frühere Geistes- und Seelenverfassung wohl kindlich. Er blickt dann zurück auf kindliche Stufen der Entwickelung und tut sich so recht etwas darauf zugute, wie er es weit gebracht hat, besonders in der Ausbildung der Intelligenz. Die heutige Auseinandersetzung möge einmal gerade der Eigentümlichkeit der menschlichen Intelligenz gewidmet sein, möge ins Auge fassen diese Seelenkraft, auf die der Mensch der Gegenwart ganz besonders stolz ist. Wenn man gegen­wartig von Intelligenz spricht, dann hat man eben eine Seelenkraft im Auge, die man sich in einer bestimmten Weise vorstellt, und von der man nur denkt, daß sie so sein könne und sein müsse, wie man gewohnt worden ist, sie sich vorzustellen.

Nun, es haben Intelligenz, wenn auch Intelligenz von anderer Form, auch gehabt die Menschen früherer Entwickelungsepochen, und will man die Bedeutung der sogenannten Intelligenz für den Men­schen der Gegenwart voll kennenlernen, dann muß man schon die Frage aufwerfen: Wie sah die Intelligenz der Menschen früherer Entwickelungsepochen aus und wie hat sich diese Intelligenz der Menschheit von früheren Zeiten bis in unsere Zeiten herein allmählich verändert?

Die Entwicklung der Intelligenz...

[...] Wir wollen betrachten die besondere Eigentümlich­keit der Intelligenz bei den alten Ägyptern, Chaldäern, bei den Griechen und Römern und dann übergehen zu der Betrachtung der besonderen Art von Intelligenz, welche uns Menschen des fünften nachatlantischen Zeitraumes eigen ist. Sie sehen daraus, daß ich vor­aussetze, daß das nicht richtig ist – und es ist auch nicht richtig –, wenn man denkt, Intelligenz ist einmal Intelligenz, ist nur auf eine Art möglich; wer unsere Intelligenz hat, ist eben intelligent, wer unsere Intelligenz nicht hat, ist eben unintelligent. Das ist nicht richtig. Die Intelligenz geht Metamorphosen durch, die Intelligenz verwandelt sich. Sie war anders in der ägyptisch-chaldäischen Zeit, als sie bei uns ist. Die andersartige Intelligenz der ägyptisch-chaldäischen Zeit macht man sich am besten anschaulich, wenn man sich sagt, daß instinktiv durch seine Intelligenz der alte Ägypter, auch der alte Chaldäer die Verwandtschaft fühlte, die Verwandtschaft auffaßte, begriff, seiner eigenen menschlichen Wesenheit mit dem ganzen Kosmos.

Über dasjenige, worüber der heutige Mensch nachdenkt durch seine Intelligenz, dachten ja die ägyptisch-chaldäischen Menschen wenig oder gar nicht nach. Denn diese Art von Intelligenz hatten sie nicht. Wenn sie dachten, wenn sie ihre Intelligenz in Fluß brachten, dann lebte in dieser Intelligenz ihr Zusammenhang mit dem Kosmos. Der alte Ägypter, der alte Chaldäer wußte, wie er mit dem oder jenem Tierkreisbilde in Beziehung stand; er wußte, welchen Einfluß auf seine seelische, leibliche Beschaffenheit Mond, Sonne, die anderen Planeten haben. Er wußte, wie auf die menschliche Wesenheit wirkt die Aufeinanderfolge der Jahreszeiten. Das alles faßte er auf durch seine Intelligenz. Ein völlig inneres Bild bekam er von seiner Ver­wandtschaft mit dem Kosmos durch seine Intelligenz.

Diese Intelligenz verwandelte sich, als die ägyptisch-chaldäische Periode der Menschheit abgelaufen war im 8. Jahrhundert vor der Begründung des Christentums. Nach und nach wurde da die Intelli­genz etwas völlig anderes, als sie in der ägyptisch-chaldäischen Zeit war. In die Intelligenz kam nicht mehr herein vollständig, so wie es vor dem 8. vorchristlichen Jahrhundert der Fall war, das Begreifen des Zusammenhanges mit dem Kosmos. Man wußte noch von diesem Zusammenhang mit dem Kosmos, aber man wußte mehr wie in einer Art von Nachklang, wie in einer Art von Erinnerung an dasjenige, was man früher in dieser Beziehung gewußt hat; dafür aber kam her­ein in die griechische Intelligenz mehr ein Nachdenken des Menschen über sich selbst, wie er ist weniger in Beziehung auf den Kosmos, wie er ist mehr abgesehen vom Kosmos, als Erdenbewohner. Der Grieche hatte aber ein deutliches Gefühl davon, ein deutliches Empfinden davon, indem er gerade seine Intelligenz anwandte; er begriff alles dasjenige von der irdischen Welt durch diese Intelligenz, was dem Tode unterliegt.

Dieses Gefühl ist wiederum verlorengegangen mit der Entwicke­lung der Intelligenz seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, seit dem fünften nachatlantischen Zeitraum. Der Grieche wußte, wenn er übersinnliches verstehen wollte, da mußte er sich wenden an das Schauen, das mehr oder weniger atavistisch insbesondere in der vor­christlichen Zeit noch vorhanden war. Durch das Nachdenken, durch die Intelligenz wußte er, lernte er nur kennen diejenigen Gesetz­mäßigkeiten, diejenigen Regeln, welche zugrunde liegen all dem, was auf der Erde dem Tode unterliegt, was stirbt. Will ich das Lebendige verstehen, muß ich schauen – so sagten sich die Plato-Schüler; indem ich nur nachdenke, begreife ich bloß das Tote. [...]

Während der ägyptisch-chaldäische Mensch in seiner Intelligenz empfand und wahrnahm seine Verwandtschaft mit dem ganzen Kos­mos, nahm der griechische Mensch wahr durch seine Intelligenz das­jenige, was Grabstätten beherrscht. Auch wir nehmen durch unsere Intelligenz nur dasjenige wahr, was Grabstätten beherrscht, nur sind wir uns dessen nicht bewußt. Wir gehen deshalb – diejenigen, die das lernen sollen – in die Seziersäle, untersuchen den Leichnam und halten die Gesetzmäßigkeit des Leichnams, die wir durch unsere Intelligenz begreifen, für die Gesetzmäßigkeit des Menschen. Es ist aber nur die Gesetzmäßigkeit des Grabes; und dasjenige, was die Intelligenz begreift, ist die Gesetzmäßigkeit des Grabes.

... hin zur Verwandtschaft mit dem Bösen

Aber wiederum mit dem Übergange durch die Mitte des 15. Jahr­hunderts verändert sich neuerdings die Intelligenz, und wir stehen im Anfange dieser Veränderung, dieser Umwandlung der Intelligenz. Unsere Intelligenz geht einen gewissen Weg; heute sind wir noch sehr stark in einer solchen Entwickelung der Intelligenz darinnen, wie sie die Griechen hatten. Wir begreifen durch unsere Intelligenz dasjenige, was dem Tode unterliegt. Aber auch diese Art von Intelligenz, die das Tote begreift, verwandelt sich. Und in den nächsten Jahrhunderten und Jahrtausenden wird diese Intelligenz etwas anderes, etwas weit weit anderes werden. Sie hat heute schon eine gewisse Anlage, unsere Intelligenz. Wir werden als Menschheit einlaufen in eine Entwickelung der Intelligenz so, daß die Intelligenz wird die Neigung haben, nur das Falsche, den Irrtum, die Täuschung zu begreifen und auszudenken nur das Böse.

Das wußten ja die Geheimschüler und wußten namentlich die Ein­geweihten seit einer gewissen Zeit, daß die menschliche Intelligenz entgegengeht ihrer Entwickelung nach dem Bösen hin, daß es immer mehr und mehr unmöglich wird, durch die bloße Intelligenz das Gute zu erkennen. Die Menschheit ist heute in diesem Übergange. Wir können sagen: Gerade noch gelingt es den Menschen, wenn sie ihre Intelligenz anstrengen und nicht in sich ganz besonders wilde In­stinkte tragen, nach dem Lichte des Guten etwas hinzuschauen. Aber diese menschliche Intelligenz wird immer mehr und mehr die Neigung bekommen, das Böse auszudenken und das Böse dem Menschen ein­zufügen im Moralischen, das Böse in der Erkenntnis, den Irrtum. [...]

Es ist schließlich gar nicht umsonst, daß die Intelligenz dem gegenwärtigen Menschen so viel Stolz und Hochmut einflößen kann. Das ist, möchte ich sagen, der Vorgeschmack für das Böse-Werden der Intelligenz im fünften nachatlantischen Zeit­raum, an dessen Anfang wir stehen. Und würde der Mensch nichts anderes ausbilden als seine Intelligenz, dann würde er auf der Erde ein böses Wesen werden. Wir dürfen nicht rechnen, wenn wir mit der Zukunft der Menschheit rechnen und diese Zukunft uns als heilsam denken wollen, wir dürfen nicht rechnen auf die einseitige Ausbildung der Intelligenz. Diese Intelligenz war noch in der ägyptisch-chal­däischen Zeit etwas Gutes, diese Intelligenz ist dann dasjenige geworden, was seine Verwandtschaft eingegangen hat mit den Kräften des Todes. Diese Intelligenz wird eine Verwandtschaft eingehen mit den Kräften des Irrtums, der Täuschung und des Bösen.

Das ist etwas, worüber sich die Menschheit eigentlich keiner Illusion hingeben sollte. Die Menschheit sollte unbefangen damit rechnen, daß sie sich zu schützen hat gegen die einseitige Entwickelung der Intelligenz. Und nicht umsonst wird gerade durch anthroposo­phisch orientierte Geisteswissenschaft ein anderes hinzukommen, hin­zukommen die Aufnahme desjenigen, was durch ein erneuertes Schauen aus der geistigen Welt heraus gewonnen werden kann, was nicht durch Intelligenz begriffen werden kann, sondern nur begriffen werden kann, wenn man eingeht auf dasjenige, was die Wissenschaft der Einweihung holt aus den geistigen Welten heraus durch Schauung.

Der Christus-Impuls in der Menschheitsentwicklung

Aber ein Objektives ist dazu notwendig. Und hier tritt man vor ein tiefes Geheimnis gerade der christlich-esoterischen Entwickelung. Wäre das Mysterium von Golgatha nicht im Laufe der Erdenentwicke­lung geschehen, dann wäre es unvermeidlich, daß die Menschen nach und nach durch ihre Intelligenz böse und in den Irrtum verfallende Wesen werden müßten. Sie wissen ja, mit dem Mysterium von Gol­gatha ist nicht nur eine Lehre, eine Theorie, eine Weltanschauung, eine Religion in die Entwickelung der Menschheit eingeflossen, sondern mit dem Mysterium von Golgatha ist etwas Tatsächliches geschehen. In dem Menschen Jesus von Nazareth hat gewohnt das außerirdische Wesen, der Christus. Dadurch, daß der Christus in dem Jesus von Nazareth gewohnt hat, der Jesus von Nazareth gestorben ist, ist das Christus-Wesen übergegangen in die irdische Entwickelung, da ist das Christus-Wesen darinnen. Wir müssen uns nur bewußt sein, daß das eine objektive Tatsache ist, daß das eine Tatsache ist, die mit dem, was wir subjektiv erkennen, was wir subjektiv empfinden, als solches nichts zu tun hat. Wir müssen es erkennen um unseres Erkennens willen. Wir müssen es aufnehmen in unser Ethos, um dieses unseres Ethos willen. Aber der Christus ist ausgeflossen in die Menschheits­entwickelung, da ist er seitdem darinnen – was man die Auferstehung nennt – und er ist vor allen Dingen in unseren eigenen Seelenkräften. Fassen Sie nur einmal diese Tatsache in ihrer ganzen Tiefe auf!

Blicken Sie hin auf den Unterschied des Menschen, der gelebt hat vor dem Mysterium von Golgatha, und des Menschen, der lebt nach dem Mysterium von Golgatha. Gewiß, es sind immer dieselben Men­schen, denn die Seelen gehen ja durch die wiederholten Erdenleben. Aber indem wir den Menschen als Erdenmenschen betrachten, müssen wir diesen Unterschied machen zwischen dem Menschen, der vor dem Mysterium von Golgatha gelebt hat, und dem Menschen, der nach dem Mysterium von Golgatha lebt.

Sehen Sie, wenn man zu einem allgemeinen Gottes-Begriffe kommt, so ist dieser allgemeine Gottes-Begriff nicht der Christus-Begriff. Den allgemeinen Gottes-Begriff kann man bekommen, wenn man die Natur in ihren Erscheinungen verfolgt, wenn man das menschliche physische Wesen, so weit es äußerlich zu betrachten ist, verfolgt. Die Christus-Wesenheit ist so, daß man ihr nur nahekommt, wenn man im Lauf des irdischen Lebens etwas in sich selber entdeckt. Den allgemei­nen Gottes-Begriff kann man finden, indem man einfach sich sagt, man ist aus den Kräften der Welt zum Dasein gekommen. Den Christus-Begriff muß man finden in sich, indem man weiter kommt, als die Natur einen kommen läßt. Findet man, wenn man in der Welt lebt, nicht den Gottes-Begriff, dann ist dieses Nichtfinden des Gottes­-Begriffes eine Art von Krankheit. Ein gesunder Mensch ist niemals wirklich atheistisch. Man muß in irgendeiner Weise leiblich oder seelisch krank sein. Diese Krankheit äußert sich oftmals eben durch nichts anderes, als daß man Atheist ist.

Christus nicht zu erkennen, ist nicht eine Krankheit, sondern ein Unglück, ist ein Versäumnis des Lebens. Dadurch, daß man sich besinnt auf das Geborenwerden aus der Natur und ihren Kräften heraus, kann man, wenn man mit gesunder Seele dieses Geborenwerden verfolgt, zum Gottes-Begriff kommen. Dadurch, daß man im Laufe des Lebens etwas erlebt wie eine Wiedergeburt, kann man zum Chri­stus-Begriff kommen. Die Geburt führt zu Gott, die Wiedergeburt zu Christus. Zu dieser Wiedergeburt, durch welche der Christus als Wesenheit im Menschen gefunden werden kann, konnte der Mensch vor dem Mysterium von Golgatha nicht kommen. Und das ist der Unterschied, auf den ich Sie bitte Ihr Augenmerk zu richten: daß der Mensch vor dem Mysterium von Golgatha, weil der Christus noch nicht ausgeflossen war mit seiner Wesenheit in die Menschheit, nicht zu dieser Wiedergeburt kommen konnte, nicht erkennen konnte, daß in ihm der Christus lebt. Nach dem Mysterium von Golgatha kann das der Mensch. Er kann den Funken des Christus in sich selber finden, wenn er sich anstrengt durch sein Leben.

Und in dieser Wiedergeburt, in diesem Finden des Christus­-Funkens in sich, in diesem aufrichtigen und ehrlichen Sich-sagen­-Können: „Nicht ich, sondern der Christus in mir“, liegt die Möglich­keit, den Intellekt nicht in Täuschung und in das Böse verfallen zu lassen. Und das ist im esoterisch-christlichen Sinne der höhere Begriff der Erlösung. Wir müssen unsere Intelligenz ausbilden, denn wir können ja nicht unintelligent werden; aber wir stehen, indem wir anstreben unsere Intelligenz auszubilden, vor der Versuchung, dem Irrtum und dem Bösen zu verfallen. Wir können der Versuchung, dem Irrtum und dem Bösen zu verfallen, nur entgehen, wenn wir uns aneignen die Empfindung von dem, was das Mysterium von Golgatha in die Menschheitsentwickelung hineingebracht hat. [...]

„...bei jedem Kinde eine Rettung zu vollziehen hat“

Jetzt lebt die Mensch­heit im Beginne eines Zeitalters, wo die Intelligenz böse werden würde, wenn die menschliche Seelenwesenheit sich nicht mit der Christus-Kraft durchdringen würde. Denken Sie einmal, das ist eine sehr ernste Sache. Das bezeugt, wie man nehmen muß gewisse Dinge, die sich in unserer Zeit ankündigen, wie man daran denken muß, daß in unserer Zeit die Menschen die Anlage bekommen zum Bösen, gerade weil sie einer höheren Ausbildung ihrer Intelligenz entgegengehen. Es wäre natürlich eine völlig falsche Spekulation, zu glauben, daß man etwa die Intelligenz unterdrücken soll. Die Intelligenz darf nicht unterdrückt werden, aber es gehört für den Einsichtigen in der Zukunft ein gewisser Mut dazu, der Intelligenz sich hinzugeben, weil die Intelligenz die Versuchung bringt zum Bösen und zum Irrtum und weil wir in der Durchdringung der Intelligenz mit dem Christus­-Prinzip finden müssen die Möglichkeit, diese Intelligenz umzuwan­deln. Ganz und gar ahrimanisch würde die Intelligenz der Menschen, wenn das Christus-Prinzip die Seelen der Menschen nicht durch­dränge.

Sie wissen ja, wie vieles da ist, in der Entwickelung der Mensch­heit ersichtlich ist, besonders in der Gegenwart, von dem, was für den Einsichtsvollen schon zeigt, daß die Dinge sich so ankündigen, wie ich sie eben charakterisiert habe. [...] Man sollte nicht in oberflächlicher Weise die sogenannten Kulturerscheinungen unseres Zeitalters betrachten, man sollte wahrhaftig nicht daran zweifeln, daß die Menschen der Gegen­wart sich aufraffen müssen zu einem wirklichen Erfassen des Christus-­Impulses, wenn sie einer heilsamen Entwickelung entgegengehen wollen. Es ist zweierlei heute schon stark zu bemerken: Menschen, die sehr intelligent sind und die einen deutlichen Hang zum Bösen haben; und es ist auf der anderen Seite zu bemerken, wie viele Men­schen unbewußt diesen Hang zum Bösen dadurch unterdrücken, nicht bekämpfen, daß sie ihre Intelligenz schlafen lassen. Schläfrigkeit der Seele oder aber bei wachen Seelen ein starker Hang zum Bösen und zum Irrtum, das ist in der Gegenwart durchaus zu bemerken.

Und nun erinnern Sie sich einmal, wie ich vor meiner letzten Abreise an einem Abend hier auseinandersetzte, wie anders die Kinder seit fünf bis sechs bis sieben, acht Jahren geboren werden heute, mit einem, man möchte sagen, melancholischen Anflug über den Ge­sichtern, der deutlich zu bemerken ist für denjenigen, der so etwas bemerken kann. Und ich habe gesagt: Das rührt davon her, daß die Seelen heute nicht gern heruntergehen in die von Materialismus erfüllte Welt. Man könnte sagen: Die Seelen haben vor ihrer Geburt eine gewisse Furcht und Angst in die Welt einzutreten, in der die Intelligenz den Hang, die Neigung zum Bösen hat und in absteigender Entwickelung begriffen ist.

Das ist auch etwas, wovon ein Bewußtsein entwickelt werden muß bei denjenigen Menschen, die für die Menschenzukunft Erzieher und Unterrichter werden. Die Kinder sind heute anders, als sie waren vor Jahrzehnten. Das ergibt sich schon einer oberflächlichen Betrach­tung sehr deutlich. Man muß sie anders erziehen und anders unterrichten, als man sie vor Jahrzehnten unterrichtet hat. Man muß mit dem Bewußtsein unterrichten, daß man eigentlich bei jedem Kinde eine Rettung zu vollziehen hat, daß man jedes Kind dahin bringen muß, im Lauf des Lebens den Christus-Impuls in sich zu finden, eine Wieder­geburt in sich zu finden.

Solche Dinge, sie lebt man da, wo man sie zum Beispiel nötig hat als Lehrer, als Erzieher, nicht aus, wenn man sie einfach nur theo­retisch kennt; sie lebt man nur aus, man führt sie nur ein in die Erziehung, in das Unterrichten, wenn man in der Seele stark erfaßt ist von diesen Dingen. Von der Lehrerschaft insbesondere muß es gefordert werden, daß sie in ihrer Seele stark erfaßt wird von diesem Sorgenvollen für die Menschheit, welche Versuchung der Intellekt mit sich bringt! Der Stolz, den die gegenwärtige Menschheit auf den Intellekt entwickelt, dieser Stolz, er könnte sich schwer rächen an der Menschheit, wenn er nicht durch dasjenige abgelähmt würde, was ich eben auseinandergesetzt habe, wenn er nicht abgelähmt würde durch ein starkes, energisches Bewußtsein: das Beste in mir als Mensch dieser und der folgenden Inkarnationen ist, was ich in mir als den Christus-Impuls finde.

Nun muß man sich klar sein darüber, daß dieser Christus-Impuls nicht sein darf die Dogmatik irgendeiner Religionsgemeinschaft. Die Religionsgemeinschaften haben seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in ihrer Entwickelung mehr beigetragen, den Christus-Impuls von der Menschheit zu entfernen, als ihn der Menschheit nahe zu bringen. Die Religionsgemeinschaften machen den Menschen allerlei vor; aber indem sie ihnen dies oder jenes vormachen, bringen sie sie dem Christus-Impuls nicht nahe. [...] Empfindet man den Sinn der Erde in dem Mysterium von Golgatha, kann man sich aufraffen dazu, sich zu sagen: Die Entwickelung der Erde wäre sinnlos, wenn die Menschen durch ihre Intelligenz dem Bösen, dem Irrtum verfallen würden. Empfindet man so den Sinn des Mysteriums von Golgatha, dann empfindet man als sinnlos die Erdenentwickelung ohne das Mysterium von Golgatha. Damit muß man sich stark, sehr stark durchdringen, wenn man heute und in der Zukunft etwas tun will, um den Menschen zu er­ziehen, den Menschen zu unterrichten. [...]