Zwischen Traum und Tag

Die Legende von der verborgenen Himmelfahrts-lkona

Anne-Monika Glasow, aus: Zwischen Traum und Tag, Hans Sörensen Verlag, 1956.


Er war zum ersten Mal allein in der Blockhütte, der junge Prochor, seit er vor Jahren vor den harten Schlägen des Bauern geflüchtet war – ein armes Wai­senkind, das immer Unrecht hatte, was es auch tat und sagte. Halbtot vor Angst und Hunger hatte ihn Vater Makarij auf der Schwelle seiner Hütte gefunden, ihn gehegt und gepflegt und ihn an Leib und Seele gesunden lassen. Und als er erfuhr, daß der Junge niemandem zugehörte, behielt er ihn bei sich. Nun war Prochor wohl schon lange da – er verstand es nicht, die Zeit nach Jahren zu zählen –, war ein kräftiger, aber stiller Jüngling gewor­den, glücklich in der Einsamkeit bei seinem Väterchen Makarij.

Heute war er zum ersten Mal allein. Vater Makarij war in das nächste Kloster gewandert – zwei Tagesreisen weit, um dort das Fest der Himmel­fahrt Christi und das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes, das Fest der Heiligen Dreieinigkeit zu begehen. Ihn hatte er zurückgelassen: „Du mußt bleiben, Prochor, und die Vögel und die Tiere füttern, wenn sie zur gewohn­ten Stunde kommen. Tiere sind Gottesgeschöpfe. Wie dürften wir ihrer an den heiligen Festtagen vergessen.“

Prochor war gern zu Hause geblieben. Er liebte das Kloster nicht. Die strengen Regeln und die engen Zellen bedrück­ten ihn, wenn auch das viele Gold und die brennenden Kerzen in der Kirche ihn beeindruckt hatten. in der einfachen Klause und im stillen Walde konnte er andächtiger beten und fühlte sich dem Heiligen näher.

Wie ihm aufgetragen, versorgte er die Tiere und gab ihnen, was auch seine und Vater Makarij‘s Nahrung war – oft nur Brosamen des getrockneten Bro­tes.

Er ging in der Hütte umher und sah, ob auch alles ordentlich und sauber war. Größer als sonst erschien ihm der Raum, groß in der Stille und Einsam­keit. Aber er fürchtete sich nicht. In der Ecke über der ewigen Lampe hing ja eine Christus-Ikona, die Vater Makarij gemalt hatte. Und niemals gab der Alte sie her, so oft ihn auch reiche Kaufleute und hohe Offiziere, die ihn aufsuchten, um seinen Rat zu hören, darum gebeten hatten. Sie boten ihm hohe Summen und große Geschenke. „Gib sie uns, Väterchen, uns sündi­gen Menschen zum Heil und zur Stärkung gegen das Böse.“ Er gab ihnen andere lkonen von Heiligen, die er gemalt, und hieß sie die Geschenke ins Kloster tragen. Nur die nötigste Nahrung für Prochor und sich und für die Vögel und Tiere behielt er.

„Warum er wohl gerade diese Ikona nicht hergibt?“ hatte Prochor ge­dacht und Vater Makarij darum gefragt. „Wenn unser Erlöser uns die Gnade schenkt, mit diesem Bilde selbst in unsere Hütte zu kommen und uns da­durch Heil und Segen zu schenken und uns vor vielem Bösen zu bewahren, dann kann man ihn nicht wie Judas um Geld verraten, und wären es dreißig mal dreißig Silberlinge.“

Prochor wußte, Vater Makarij lebte mit der lkona und traf keine Entschei­dung, ohne ihren Rat im Gebet einzuholen. Ja, Vater Makarij hatte so man­che lkona gemalt, aber nur dann, „wenn Gott ihm dazu rief“ und ihn „schauen“ ließ, was er malen sollte. Dazu hatte er die Erlaubnis der Ältesten des Klosters erhalten.

Wenn er Prochor befahl, zu lasten und zu beten, und wenn er selbst die Nächte hindurch vor der Christus‑lkona kniete in tiefem Gebet, dann wußte es schon der kleine Prochor vor Jahren, daß Vater Makarij bald malen würde. Bei Sonnenaufgang ging der Alte dann hinaus auf den nahegelege­nen Hügel; und wenn er zurückkam, war er so fern und fremd, daß Prochor nicht wagte, ihn anzureden. Der Alte öffnete die Tür zum Nebenraum und schloß sie hinter sich; und Prochor ging erst zu ihm, wenn er ihn rief. Das dauerte oft mehrere Tage. Dann mußte er dem Alten helfen, neue Farben zu bereiten. Alles, was man dazu brauchte, sammelte Makarij selbst und mischte eigenhändig jede Farbe. „Wenn uns die Gnade zuteil wird, Heiliges für die Menschen sichtbar zu machen, dann werden uns auch die Farben dafür gegeben, denn nicht taugen dazu die gewöhnlichen Farben, mit denen man Irdisches malt.“ Nur, wenn er dem Alten helfen durfte, betrat Prochor den Raum; er konnte dann wahrnehmen, wie das Bild sich entfaltete und wie eine lebendige, Geist‑tragende Ikona daraus wurde.

An diese Erlebnisse, die er schon als Kind in sich aufgenommen, dachte Prochor. Er öffnete die Tür zum Nebenraum. Da lagen noch die Farben, die Makarij für die letzte lkona, die er ins Kloster mitgenommen, gebraucht hatte. Auf dem einfachen Gestell stand eine zum Malen fertige, dreifache Holztafel. Sie war noch leer. Prochor sah sie lange und sehnsüchtig an. „Ob ich einmal so werden kann, daß ich malen darf?“ dachte er, „ich habe aller­dings noch nie einen Engel oder einen Heiligen geschaut und nicht, was aus uns selbst kommt, dürfen wir malen, nur, was uns im Schauen geschenkt wird“, sagt Vater Makarij. Außerdem – das wußte er – durfte man nur mit Erlaubnis der Ältesten dieses heilige Werk des Malens beginnen. Er seufzte tief, verließ den Raum und schloß sorgfältig die Tür.

Noch drei Tage waren es bis zum Fest der Himmelfahrt. Wie Vater Makarij es ihn gelehrt, fastete Prochor und betete am Tage und in der Nacht.

So kniete er auch in der letzten Nacht vor der Christus‑lkona. Worte fand er nicht, aber sein Herz war voll Andacht, ehrfürchtiger Liebe und Hingabe. Kurz vor Sonnenaufgang verließ er die Hütte. Es war, als ob er an der Hand genommen und auf den freiliegenden Hügel geführt würde. Dort kniete er nieder, um den Sonnenaufgang zu erwarten.

Die Sterne waren verblaßt, der Himmel in ein grünes‑gelbliches Licht ge­taucht. Nun erschienen, schimmernd zwischen den weißen Birkenstäm­men, die ersten, goldroten Strahlen der Sonne. Prochor breitete die Arme aus: „Herr, ich bin bereit.“ Er wußte nicht, daß er so sprach.

Und dann schaute er sie – die himmlische Gestalt, strahlender als die Sonne und reiner als der Schnee. Wer dürfte mit unseren armen Menschenworten mehr über sie sagen! Strahlen gingen von ihr aus, verbreiteten sich in die Höhe, in die Weite, in die Tiefe. Immer größer wurde die Erscheinung; sie verlor ihre ursprüngliche Gestalt und wurde einer Wolke gleich. Die Strahlen reichten nach oben bis in die Himmel; nach unten drangen sie hinein bis tief in das Herz der Mutter Erde, und die Strahlen, die in die Weite gingen, neigten sich, als wollten sie das ganze Erdenrund umschließen.

Prochor glitt mit ausge­breiteten Armen auf die Erde, als wollte auch er sie umfangen. Da hörte er eine Stimme aus der Tiefe der Erde und aus den Höhen der Himmel. „Siehe, ich bleibe bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Es wurde still, die Natur hielt den Atem an. Dann fing es leise an zu rauschen in den Zweigen der alten Bäume; zaghaft erhob sich hier und da eine Vogelstimme, bis allmäh­lich der jubelnde Chor durch die Lüfte tönte. Zutraulich strichen zwei Rehe durch den Wald; am Wiesenrande spielten die Hasen.

Wie im Traum ging Prochor in die Hütte zurück; er ging durch den ersten Raum hindurch und öffnete die Tür zum zweiten. Da stand die Holztafel – als wartete sie. Wie im Traum ergriff Prochor den Pinsel, rückte die Farben zurecht und fing an zu malen. Er malte, was er geschaut. Er wußte, daß er Christi Himmelfahrt geschaut.

Und er malte sie. Er malte, solange es Tag war. Nachts kniete er vor der Christus‑Ikona. Er aß nicht und trank nicht. Er fühlte keine Schwierigkeit, kein Zögern beim Malen. Wie konnte es auch anders sein: er war ja begna­det! Bis eines Tages eine Stimme zu ihm sagte: „Lege jetzt den Pinsel aus der Hand.“ Er gehorchte. „Sieh auf das Bild“, sagte die Stimme. Er sah das Bild an und fand alles darin, was er geschaut. Und das Bild hatte heiliges Leben in sich: es war eine lkona. Da sank er rücklings hin und blieb vor dem Bilde liegen.

So fand ihn Vater Makarij. Er sah den Jüngling, der mit geschlossenen Augen in verklärter Ruhe dalag. Dann erblickte er das Bild. Es zwang ihn in die Knie. Und er wußte alles, was geschehen war.

In dieser Nacht kämpfte er um das Leben des Jünglings, wie er schon einmal um das des kleinen Kindes, das er auf seiner Schwelle fand, gekämpft hatte. Auch dieses Mal blieben seine Gebete Sieger über die dunkle Macht. Gegen Morgen hörte er eine schwache Stimme: „Vater, seid Ihr mir böse?“

„Es ist gut, daß diese Frage deine erste ist; aber richtig müßte sie lauten: ist der heilige Gott, ist der Erlöser mir böse? Daß du ihn schauen durftest, war eine Gnade und der Anfang eines gnadenvollen Weges. Aber nur der Anfang. Daß du ihn weiter beschrittest, deinen eigenen Wünschen folgend, war Unrecht. Wer gab dir die Erlaubnis festzuhalten, was dir erschien in einem gesegneten Augenblick? Darüber entscheiden die Väter, die Gott dazu ausersehen; und ihre Entscheidung treffen sie nach heißem Ringen im Gebet.“ Prochor wollte etwas sagen, aber er überwand sich und schwieg im Gehorsam.

Lange überlegte Vater Makarij, was nun weiter zu geschehen hatte. Er bat vor der Christus‑lkona um Erleuchtung. Sollte er das eigenmächtige Tun des Jünglings den Ältesten melden? – Gar streng waren die Regeln des Klosters! Sollte er das Bild vernichten? – da sei Gott vor: heiliges Leben trug es in sich. Sollte er es, um den Jungen zu schützen, für sein eigenes ausgeben? – wie könnte er Heiliges mit einer Lüge beflecken! Aber das Bild den Frommen zur Anbetung übergeben – das durfte er auch nicht: es war im Ungehorsam entstanden, ohne Segen – konnte es den Betern Heil und Segen bringen?

Im Gebet fand Vater Makarij endlich den Ausweg. Er nahm das Bild, über­zog es mit einer durchsichtigen Flüssigkeit, die es vor jeglicher Wirkung der Elemente und vor Zerstörung schützte. Dann rief er Prochor. „Nimm Ab­schied von dem Bilde.“ Prochor streckte die Arme nach dem Bilde aus; mit angstvollen Augen sah er auf den strengen Alten, aber er sagte kein Wort. Milder wurde Vater Makarij. „Das Bild bleibt erhalten, denn es ist eine lkona – trotz allem. Es wird weiterleben in der Verborgenheit, bis Gott selbst die Offenbarung, die es in sich trägt, den Menschen schenken will.“ Er hieß den Jungen zurückbleiben, nahm das Bild und verließ die Hütte.

Durch tiefen Wald, ohne Weg und Steg, trug er das Bild bis hin zu einer Quelle, deren silberhelles Wasser aus Felsgestein sprang und zwischen blu­migen Wiesen, dichtem Gebüsch und alten Bäumen seinen Weg abwärts suchte. Der Alte dämmte den Lauf des Wassers mit einem großen Stein; dann hob er eine flache Grube aus im hellen Grund und legte das Bild hinein, nachdem er sich demütig bekreuzigt hatte. Er beschwerte den Rand des Bildes mit einigen schweren Steinen; dann entfernte er den dämmen­den Stein. Das Wasser, der Fessel entledigt, sprang dahin in seinem alten Bett; es floß über den Sand und die Steine, es floß über die Himmelfahrts-­Ikona.

Vater Makarij verließ den Ort. Die Büsche schlugen hinter ihm zusam­men. Es wurde ganz still. Das Wasser der Quelle rieselte und raunte geheim­nisvoll. Schräge Sonnenstrahlen fielen durch die Äste der hohen Birken. Wenn die Strahlen das Wasser der Quelle traten, glänzte es darin wie himm­lisches Licht. Am Abend kamen die Tiere zur gewohnten Trinkstelle. Sie neigten sich über das Wasser. Die hellen Tieraugen blickten aufmerksam in den Wasserspiegel, der durchsichtig war bis auf den Grund. Dann gingen sie fort und tranken von da an weiter unterhalb ihrer altgewohnten Tränke. [...]