Das Niklasschiff

von Paul Keller, aus: Maria Rathmann: Wir wandern zur Krippe. Evangelische Verlagsanstalt, 1962.


Zu mir kam der Nikolaus nie. Dagegen in jedem Jahr zu unserem Nachbarssohne, dem reichen Mühl-Karl. In der Schule zeigte er mir dann an jedem 7. Dezember die schönen Sachen, die er geschenkt bekommen hatte. Ich muß sagen, daß ich einen Groll auf den Niklas hatte. Auch dann noch, als mir meine kluge Tante gesagt hatte. „Siehst du, wir haben so ein kleines Haus, da ist es schon leicht möglich, daß es der Nikolaus übersieht. Denn er ist nun doch einmal ein alter Mann.“

Das ließ ich mir eine Reihe von Jahren gefallen, als ich aber zehnjährig war, beschloß ich, mich an den Weg zu stellen, dem Nikolaus aufzulauern und ihn auf unser kleines Haus aufmerksam zu machen.
Um halb acht käme er immer, hatte mir Karl verraten. Gut, um halb acht stand ich auf der Straße vor der Mühle und paßte auf. „Herr Nikolaus“, wollte ich sagen, „bitte schön, ich wohne dort drüben! Dort in dem kleinen Hause, wo der Kastanienbaum davorsteht! Wenn Sie bis an den Kastanienbaum herangehen, werden Sie das Haus schon sehen. Ich kann den Katechismus noch besser als der Karl, und ich hab' bei der Schulprüfung eine Prämie gekriegt und er nicht!“
So wollte ich sagen. Ich hatte lange nachgedacht über diese Ansprache und konnte sie sehr gut auswendig.

Ach, es war eine von den schönen Reden, die nicht gehalten werden. Denn als der Niklas wirklich kam, ein großer Mann mit einem wilden, langen Bart, mit einem umgedrehten Zottelpelz und einem Strohseilgurt, da verließ mich der Mut, und ich wäre hinter dem Lattenzaune, wo ich steckte, fast gestorben vor Angst, als er vorbeiging. Erst, als er weit weg war, kriegte ich all meine Courage wieder und schrie nun wie besessen:
„Herr Niklas! - Herr Niklas! - Ich wohne dort drüben - dort in dem kleinen Hause - bei dem Linden - nein, bei dem Kastanienbaume - hören Sie, bei dem Kasta-nien-baume!“ Er wandte sich nicht um, er verschwand in der Mühle. Ich zitterte am ganzen Leibe, und zornige Tränen kamen mir in die Augen.
Ich würde auch dieses Jahr nichts kriegen. Das war klar! Denn der Niklas hatte die Ohren verbunden gehabt.
Außerdem - die zwei wichtigsten Dinge, Katechismus und Schulprämie, hatte ich vergessen.

In dieser Nacht lag ich eine qualvolle, lange Viertelstunde schlaflos wach im Bette. Ich wußte, daß ich nie wieder glücklich sein würde im Leben. Aber dann kam der große Tröster, der so wonnig zu lügen versteht, der Schlaf. Er löschte meine Leiden aus und stellte ein holdes Glück an ihre Stelle. Er erzählte mir, ich hätte zwei Bleisoldaten vom Niklas erhalten, einen blauen und einen roten.


Am andern Tage hatte richtig der Mühl-Karl wieder eine ganze Menge Sachen mit in der Schule. Ich wollte anfangs nichts davon ansehen, als er aber ein kleines Holzschifflein auf die Schulbank stellte, war es aus mit meiner Selbstbeherrschung.
Ach, es war ein süßes, süßes Schifflein! Es hatte einen Mastbaum und zwei Segel, ja sogar einen kleinen eisernen Anker. An der Seite stand der Name des Schiffes: „St. Niklas!“
Da weiß ich heute noch, wie ich damals plötzlich den Kopf auf die Schulbank legte und bitterlich zu weinen anfing. Die anderen Kinder lachten anfangs, dann redeten sie auf mich ein; zuletzt lief einer nach dem Lehrer, der drüben in seiner Wohnstube frühstückte. Denn es war eine Dorfschule, und der Unterricht hatte noch nicht begonnen. Ich sagte auch dem Lehrer den Grund meiner Tränen nicht. Aber ich hörte auf zu weinen. Ein wilder Trotz überkam mich. An diesem Tage ließ ich den Mühl-Karl die Rechenaufgaben nicht abschreiben, und als er Hiebe bekam, freute ich mich.

Hiebe! Da hatte er es nun mit seinem Schiffe! Da hätte nur jetzt mal der Niklas zum Fenster reingucken sollen, wie sein geliebter Mühl-Karl über dem Stuhl lag und ich so stolz in der Bank saß und eine Tafel hatte, auf der alles richtig herauskam!
Oh, ich war auf dem Wege, ein schlechter Kerl zu werden! Ich bekam nicht einmal Gewissensbisse, als mich auf dem Heimwege der Karl trotz allem, was vorangegangen war, freundlich einlud, mit ihm am Nachmittag das Schiffchen auf dem Mühl­bache schwimmen zu lassen. Nein, ich schlug es grob ab. Ja, ich setzte etwas hinzu, was mir nur in der tiefen Verbitterung mei­nes Herzens einfallen konnte. „Überhaupt sind wir mit euch ver­feindet. Denn mein Großvater hat mit deinem Vater einen Pro­zeß wegen dem Brunnen gehabt, und da hat mein Großvater alles unschuldig bezahlen müssen.“
So wurde aus der Feindschaft der Alten auch eine Feindschaft der Kinder. Das mit dem Prozeß stimmte. Denn wir hatten mit den Müllersleuten einen gemeinsamen Brunnen, und wo ein gemeinsamer Brunnen ist, muß auch ein Prozeß sein. 


Es vergingen fast zwei Wochen. Der Mühl-Karl bekam öfter Prügel in der Schule. Der Lehrer fand, daß er nicht nur im Rechnen, sondern namentlich im Aufsatz sehr zurückgegangen sei. Du lieber Gott! Der Lehrer hatte 110 Schüler in vier verschiedenen Abteilungen; der konnte wirklich hinter die Schliche solcher Intriganten, wie ich einer war, nicht kommen.

Zu meiner Ehre kann ich wahrheitsgetreu angeben, daß ich mich nach und nach über die Prügel, die der Mühl-Karl bekam, nicht mehr freute. Wenigstens nicht mehr so heftig freute wie am 7. Dezember. Am 20. Dezember trat der Karl auf dem Heimwege abermals an mich heran.

„Komm doch heute mit mir Schiffel fahren!“ sagte er.
Ich sehe jetzt noch, wie bittend ihm die braunen Augen aus dem roten robusten Gesichte leuchteten. Einen Augenblick schwankte ich. Aber der Groll siegte.
„Gelt, daß ich dich dafür morgen abschreiben lass'! Ich werd' mich schön hüten!“
Und ich wandte ihm den Rücken.
Es war eine schwere Schuld, die ich auf mich lud.

Am selben Tage, kurz ehe die Dämmerung hereinbrach, sah ich die Müllerin schreiend über den Hof laufen, gleich hinterher rannte der Müller, dann die Dienstboten, zuletzt humpelte sogar die lahme Mühl-Großmutter bis vors Tor. Und ein bißchen später brachte der stärkste Knecht aus der Mühle den Karl getragen.
Er hatte mit seinem Schiffchen gespielt und war in den eiskalten Mühlgraben gefallen.

Zuerst war alles in mir stumpf und still. Eine Schadenfreude kam mir nicht; dafür war ich zu sehr erschrocken. Bloß eine Neugierde war in mir, was jetzt werden würde. Aber dann, als es finster wurde, immer finsterer, als immer noch nicht unsere Lampe angezündet wurde, wurde ich so unruhig, so schwer unruhig.

Der Großvater war still, die Tante sagte kein Wort. Und kein Licht - kein Lichtl Der Sturm fing auch an zu gehen. Vor dem Sturme am Abend, dem finsteren Sturme, hatte ich immer Angst.
Ich rückte zum Feuer. Aber unser Hund knurrte mich an, weil ich ihn verscheuchte.
Ein Wagen rumpelte draußen. Wir gingen alle ans Fenster. Es war des Müllers Glaswagen mit den zwei Laternen.
„Sie bringen den Doktor“, sagte der Großvater.
Und die Tante sagte: „Wer weiß!“
Da packte mich etwas an der Kehle, und als ich die Tante fra­gen wollte, was sie gemeint habe, brachte ich kein Wort heraus.
Wenn er sterben müßte!

Oh, ich war ein kleines, dummes Büblein, hatte keine verfeinerte Seele, aber ein nacktes, blutzartes Herz, das von einem jähen Angstweh durchschnitten wurde, als ihm Tod und Schuld so nahe traten. Ich bekam keine Luft; ich schlich hinaus, dann rannte ich über die Höfe hinüber zum Müllerhaus. Ich stand eine Weile frierend vor der Tür, dann kam eine Magd, die ich fragen konnte.
Der Doktor könne nichts versprechen, sagte sie, und der Karl läge da mit offenen Augen, aber er könne nicht reden und auch nicht hören.
Langsam kehrte ich um. Ich lehnte lange an Müllers Gartenmauer; ich setzte mich endlich auf unsere Haustürschwelle und starrte hinüber nach den erleuchteten Fenstern. So fand mich die Tante und brachte mich zu Bett.


Ich dachte unausgesetzt an den Karl. Einen einzigen Trost hatte ich - daß er die Augen offen hatte. Wenn sie nur nicht zufielen! Ich streckte meine Hände aus auf der Bettdecke und stellte mit vor, daß ich Mühl-Karls Augendeckel offenhalten könnte.
Ja, ich mußte sie offenhalten – musste! Wäre ich mit ihm gegangen, dann wäre er nicht ins Wasser gefallen. Nun durften die Augen nicht zufallen! Nein, nein, sie durften nicht zufallen!
Und ich hielt zwischen Daumen und Zeigefinger je ein Stücklein Bettzeug und dachte immer, es seien Karls Augendeckel.
Einmal fiel mir ein, wenn der Karl stürbe, hätten wir einen Tag keine Schule und könnten das schöne Lied „Wo findet die Seele die Heimat“ singen.
Aber der Gedanke, der mich sonst bei Todesfällen im Dorfe immer begeistert hatte, erfror diesmal an einem inneren Frost, der mir die Glieder schüttelte. Und Daumen und Mittelfinger preßten sich fester zusammen,
Zuletzt wollte ich beten. Und in seiner großen Angst demütigte sich mein Herzlein.

Drei Tage vergingen. Am Brunnen hatte ich täglich der Marie, des Müllers Magd, aufgelauert.
Ja, er hätte immer noch die Augen offen, hatte sie mir gesagt.
Wenn die Augen so lange offenstehen, wird er schon gesund werden, tröstete ich mich. Aber die Sorge, sie möchten zufallen, verließ mich nicht, und ich grübelte auch immer schmerzlich darüber nach, warum denn der Karl nichts sehen könne, wenn er doch die Augen offen habe. Ich versuchte es eifrig, mit offenen Augen nichts zu sehen, aber es gelang nicht. Ich sah sogar am Abend und in der Nacht.

Endlich hielt ich's nicht länger aus, und ich befragte meine freundliche, kluge Tante. Sie besann sich eine Weile, dann sagte sie: „Weißt du, der Karl hat jetzt keine Seele.“
Das war am 23. Dezember gewesen. Es war gut, daß wir schon keine Schule mehr hatten, denn ich hätte nicht ein einziges bißchen lernen und aufpassen können. Ich dachte jetzt immerfort daran, daß der Karl keine Seele mehr habe.
Wo die Seele hin sei, darüber zersann ich mir den Kopf Stunde um Stunde. Daß sie nicht im Himmel sein konnte, wußte ich, da der Karl noch nicht gestorben war.
Wo war nur die Seele hin?
In der Nacht auf den 24. lag ich lange wach. Das kleine Herz schlug schnell und laut, die Hände irrten auf dem Deckbett hin und her, der Kopf brannte. Es war so heiß in der Kammer.

Und da fiel mir's urplötzlich ein.
Wie der Karl ins Wasser gefallen ist, ist die Seele herausgegangen aus seinem Munde und im Bache ertrunken.
Mit einem Ruck saß ich aufrecht im Bette. Ich fror zum Erbarmen, und doch lief mir der Schweiß über das Gesicht. Die Seele! Karls Seele! Ins Wasser gefallen! Ertrunken! Hilflos ertrunken! O Gott! So eine Seele ist etwas Zartes, Feines, etwas in einem dünnen, weißen Hemdchen.
Wenn das in den eisigen Mühlbach fiel und darin ertrank und erfror!
Es ist mein bitterer Ernst, wenn ich sage, daß ich nie wieder so heiß und hoffnungslos gelitten habe im Leben wie damals, als sich die Krallenfinger der Angst und Reue zum erstenmal in mein wehrloses junges Herz eingruben.
Damals hörte ich das erstemal die Mitternachtsstunde schlagen. Nach langer Zeit war ich so erschöpft, daß ich halb betäubt ins Bett zurücksank. Und in der schweren Müdigkeit kam dem kleinen Kämpfer endlich ein milder Trostgedanke.
Das Schifflein! Das Schifflein war ja auch im Wasser gewesen. Vielleicht hatte sich Karls Seele an das Schifflein angeklammert! 


Am Heiligabendtage ging ich frühzeitig zum Brunnen. Ich mußte lange warten, dann kam die Müller-Magd.
„Hat er die Augen noch offen?­“
„Nein, seit gestern abend hat er sie zu!“
„Ist er - ist er gestorben?“
„Jetzt ist er noch nicht gestorben.“

Sie füllte ihre Kannen und ging. Unbeweglich schaute ich ihr nach, wie jemandem, der die letzte Hoffnung fortträgt. Er war noch nicht gestorben! Aber er hatte die Augen schon zu! Es schien mir der Augenblick der höchsten Gefahr.
Die Seele mußte ich suchen - die Seele!
Ich eilte durchs Hoftürchen hinaus aufs Feld, über einen Acker weg, auf den Mühlbach zu. Die Glieder bebten mir in eisiger Angst, aber ich ging.
Ach, ganz fertig brachte ich es doch nicht! Abseits vom Bache rannte ich flußaufwärts. Ich spähte sehnsüchtig verlangend hinüber, aber die Füße blieben mir in den Löchern des Sturzackers gefangen. Dort war die große Esche. Dort war er hineingefallen. Noch einmal überkam mein Kinderherz eine heiße, Todesangst. Dann aber sah ich den Karl vor mir liegen mit geschlossenen Augen, und laut aufweinend vor Furcht und Sorge rannte ich hin zur Esche.

In der Nacht war ein milder Frost gekommen, der hatte eine dünne Eisdecke über den Bach gespannt. Spiegelglatt lag die glitzernde Fläche vor mir. Eine lächelnde, tote Fläche!
Gefroren! Nun war sie nicht mehr zu finden! Nun steckte sie unter dem Eise!
Langsam schlich ich den Bach hinab. Einmal schrak ich zusammen, als ich etwas Weißes im Eise sah. Aber es war nur so eine Luftblase. Da gab ich alle Hoffnung auf. Der Kopf schmerzte mir, die Füße strauchelten oft und glitten aus. Und eine schneidende Todeskälte stieg vom Bache herauf. Es war eine traurige Wanderung für ein Kind am Heiligen Abend.


Und da traf mich das Wunder!
Eingefroren, nicht weit vom Ufer weg, stand Karls kleines, süßes Holzschifflein. „St.Niklas“ stand daran, und der Wind spielte leicht mit den kleinen Segeln.
Drinnen aber, drinnen im Schiff lag etwas Weißes.
Mit glühenden, weiten Augen starrte ich hin. Zuerst fiel mir ein, es möge ein verwehtes Blatt sein, das der Reif so weiß gemacht habe. Aber bald kam mir eine viel, viel bessere Erkenntnis.
In dem Schiffe war Karls Seele! Ein bißchen zusammengefroren, ein bißchen bereift in den kalten Winternächten - aber doch Karls kleine, weiße Seele. - Sie hatte sich gerettetl
Oh - alleluja – gerettet! ...

Ich rutschte auf den Knien den Bachrand hinab, ich ergriff einen dünnen Erlenzweig und beugte mich weit über das Wasser. Einen Augenblick schwebte ich so zwischen Tod und Leben, dann hielt ich das Schifflein in den Händen. Keinen Blick warf ich mehr hinein. Nein, das wagte ich nicht. Aber mit hocherhobenen Händen, so wie ein Priester einen heiligen Kelch trägt, so trug ich in dem Holzschiffe Karls Seele heim.
Als der Wind übers weiße Feld fuhr, als mir die großen, schwarzen Vögel über dem Haupte flogen, drückte ich das Schifflein an meine Brust.
Als aber die goldene Sonne durch die Wolken schien, trug ich es wieder hoch in den Händen und ging langsam, glücklich, zuversichtlich Schritt für Schritt.
An des Müllers Tür war eine Klingel. Mit erstarrter Hand riß ich an dem Zuge, daß die Glocke schrill durchs Haus gellte.
Der Müller kam scheltend herausgesprungen. Ich aber stand ruhig und ernst da und sagte so feierlich, als ob ich ein Gebet spräche: „Ich bringe Karls Schifft In dem Schiff ist seine weiße Seele!“
Der Müller starrte mich an. Als ich ihm aber so gläubig in die Augen sah, sagte er kein Wort, nahm mir das Schifflein ab. und trug es ins Haus. 

Und noch ehe die Lichter meines kleinen Christbaums angezündet wurden, trat der Müller in unsere Stube. Er entschuldigte verlegen sein Kommen und sagte, er freue sich so, denn der Doktor sei eben wieder dagewesen und habe gesagt, der Karl werde nun bestimmt gesund werden. Das komme er uns sagen, weil wir öfter hätten nachfragen lassen. Der Großvater und die Tante waren freundlich zum Müller. Ich sagte kein Wort. Auch dann wich das andächtige Schweigen der Freude von mir nicht als der Müller fortfuhr:

„Gerade als euer Paul das Holzschiffchen brachte und so sehr mit unserer Klingel läutete, ist der Karl aufgewacht aus seinem Schlafe und hat die Besinnung wiedergehabt. Und uns allen sind die Augen übergegangen, weil doch euer Paul meinte, in dem Schiffe bringe er Karls Seele.“