David und die Weihnachtsgeschichte

von Jella Lepman, aus: Diakonisches Werk: "...daß immer Friede ist". 1985.


David, das ist der Name des Hirtenknaben aus der Bibel, der den Riesen Goliath mit seiner Steinschleuder besiegte und später König wurde. Und David heißt der kleine Junge, von dem ich euch erzählen will.

Er war ein fröhlicher kleiner Junge mit braunen Augen, die wie zwei Kastanien glänzten. Und obgleich er wie David, der Hirtenknabe, tapfer war und sich zu wehren wußte, hatte er doch ein warmes Herz. Er half Menschen und Tieren, wo er konnte, ja er half sogar den Sträuchern und Blumen, wenn er sah, daß sie dürsteten. Als er in die Schule kam, gefiel ihm zuerst das Stillsitzen nicht sehr, und er pflegte mit seinen Sandalen kleine klappernde Geräusche zu machen, so, als liefe er über Stock und Stein. Der Lehrer, der ihn gern mochte, ließ ihn gewähren, er hatte als kleiner Junge genau dasselbe Geräusch mit seinen Sandalen probiert.

Als Weihnachten näher und näher rückte, bestürmten die Kinder ihren Lehrer um ein Weihnachtsstück, das sie bei der Weihnachtsfeier spielen wollten.
„Warum nicht?“ sagte der Lehrer. „Wie wär's mit der Weihnachtsgeschichte? Sie ist doch die schönste von allen Geschichten, und ihr kennt sie ja jetzt schon auswendig.“
Da umtanzten die Kinder ihren Lehrer vor Freude, und dann stürzten sie nach Hause, und es war keine Kleinigkeit für sie, das Geheimnis zu bewahren. Denn ein Geheimnis sollte es bleiben bis zum Abend der Aufführung, das hatten sie dem Lehrer versprochen.

Natürlich ist es gar nicht so einfach, in einem kleinen Dorf, in dem jeder den anderen kennt, ein Geheimnis zu bewahren, so sehr vertrauten die Dorfbewohner einander, daß sie sogar nachts nicht einmal die Haustüren abschlossen.
„Warum sollten wir das auch tun?“ sagten sie zueinander. „Unser Dorf liegt weit weg von der großen Landstraße und den lauten Städten, Reichtümer gibt es bei uns sowieso nicht zu holen, wir müssen uns nicht vor Dieben fürchten.“ Und wirklich, trotz der unverschlossenen Haustüren geschah nie etwas Böses. Aber ich muß schon sagen, es war ein ganz besonderes Dorf, und wenn ihr dort nicht wohnt, nehmt doch lieber den Schlüssel und schließt eure Türen ab!


Als es an das Verteilen der Rollen ging, da wollten natürlich alle Maria und Joseph spielen, manche auch die Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland oder die Hirten, die plötzlich den neuen, funkelnden Stern am Himmel entdeckten.
„Du bekommst die Rolle eines Herbergsvaters, der Maria und Joseph von seiner Tür weist“, sagte der Lehrer zu David. „Du bist groß für dein Alter und wirst es schon recht machen.“ David erschrak, wie sollte er einen Herbergsvater spielen, der Maria und Joseph fortjagte, es war die allerletzte Rolle, die er spielen wollte. Aber er war zu scheu, um den Lehrer um eine andere Rolle zu bitten, und schließlich war er, David, wirklich einer der größten der Klasse. So fügte er sich, wohl oder übel.

Dann begannen die Proben, und es war gar nicht so leicht, in das Gewand und Leben derjenigen zu schlüpfen, deren Geschichte die Kinder so oft gehört, deren Bilder sie so viele Male in der Bibel betrachtet hatten. Sie selbst waren die Kinder des Zeitalters der Autos und Flugzeuge, der Mondraketen und Roboter, sie trugen „blue jeans“ und Pullover mit Rollkragen und Reißverschluß. Ja, sogar in ihr kleines Dorf war die neue Zeit eingezogen, auch wenn die Leute ihre Haustüren nicht abschlossen.

David erhielt das Gewand eines Herbergsvaters aus biblischer Zeit - das war aus Kartoffelsäcken zusammengeschneidert und blau wie der blaueste Himmel eingefärbt. Das Gewand schlotterte um seine Beine, und mehr als einmal verwickelte er sich darin und fiel zu Boden. Am liebsten wäre er da liegengeblieben, so elendiglich kam er sich in seiner Rolle als der harte Herbergsvater vor.

„Alles ist überfüllt in Bethlehem“, hatte er zu sagen. „und für Leute wie euch gibt es sowieso keinen Platz in meiner Herberge. Macht, daß ihr weiterkommt!“ Und damit hatte er die Tür zuzuschlagen und mit einem knarrenden Geräusch den Schlüssel im Schloß zu drehen.

David spielte seine Rolle schlecht, daß der Lehrer nur so den Kopf schüttelte. „Du bist doch sonst unter den Besten. Was ist dir nur über die Leber gekrochen? Es gehört doch nicht viel dazu, die zwei Sätze zu sprechen. Maria und Joseph müssen zehnmal soviel sagen, und sogar die Tiere - die Lämmer, die Ziegen, die Hunde und erst recht das Eselein - sprechen ja in der Heiligen Nacht, und mehr als du!“

David senkte seine Augen, die wie zwei Kastanien glänzten, und gab keine Antwort. Wie hätte er sonst dem Lehrer auch erklären können, daß dies die allerletzte Rolle sei, die er spielen wolle, es fehlten ihm ganz einfach die Worte dazu.


Und so kam der Abend der Aufführung, der Saal war voll von Menschen, sogar aus den Nachbardörfern waren sie gekommen. Vorne saßen der Pfarrer und der Lehrer, sie sahen sehr würdevoll aus, und dann ertönte ein Glöckchen als Klingelzeichen, und das Spiel begann.

David war einer der ersten, die an die Reihe kamen, schon gingen Maria und Joseph mit langsamen Schritten über die Bühne, auf deren Kulisse das biblische Bethlehem von Kinderpinseln gemalt war. Auch die Herberge war aufgemalt, aber in die hölzerne Kulisse war eine Tür eingebaut, die man öffnen und schließen konnte.

Hinter dieser geschlossenen Tür stand David und zitterte am ganzen Körper. Schon machte es „poch, poch“ an der Tür. Draußen rief eine Stimme: „Laßt uns ein und gebt uns ein Obdach, wenigstens für diese eine Nacht. Ich bin der Zimmermann Joseph, und mit mir ist Maria, meine Frau, die ein Kindlein haben soll. Um Gottes Willen, laßt uns ein!“ So flehend klang diese Stimme, daß sie hätte einen Stein erweichen müssen.

Vielleicht war es der Klang der Sätze, die David vollends verwirrten. Für ihn war dies plötzlich kein Spiel mehr, sondern er stand in der Mitte eines wunderbaren Geschehens.
Weit riß der die Tür der Herberge auf, streckte seine Hände aus und rief:

„Kommt herein, o kommt herein, wie könnte es für euch in meiner Herberge keinen Platz geben!“ Sein Gesicht leuchtete, und er hatte plötzlich alle Scheu verloren. Er nahm Joseph seinen hohen Wanderstab und sein Bündel ab und fügte, halb wie im Traum. hinzu: „In unserem Dorf sind immer alle Türen offen, Tag und Nacht sind sie offen.“ Und damit führte er Maria und Joseph in seine Herberge.

Eine große Stille legte sich über den Saal, die Stille der Heiligen Nacht. Und diese Stille hielt mindestens eine Weile an. Erst dann stand der Lehrer von seinem Platz auf, um die Dinge wieder einzurenken, so daß das Spiel seinen Fortgang nehmen konnte. Das war weniger schwierig, als ihr denkt, Maria und Joseph erschienen ganz einfach wieder auf der Bühne, und Joseph sagte etwas stockend den Satz, den ihm der Lehrer rasch zurechtgezimmert hatte:
„Das war ein guter Herbergsvater, aber er konnte uns beim allerbesten Willen nicht helfen“, und dann nahm das Spiel ungehindert seinen Lauf.

David aber stand hinter der Bühne, noch ganz benommen von dem, was ihm geschehen war. Er fürchtete sich vor keinem Tadel und keiner Strafe, er hatte etwas gutzumachen versucht, das seit Wochen mit Zentnerlast auf ihm gelegen hatte. Vielleicht hatte er sogar sehr viel mehr getan und ungezählten andern Menschen die Tür zur Heiligen Nacht geöffnet und die Weihnachtskerzen in ihren Herzen angezündet. In seinem eigenen Herzen jedenfalls brannten sie lichterloh.