Der Altpate erzählt

aus: Axel Hambraeus: Weihnachtsgäste. Siebenstern Taschenbuch Verlag, 1966.


Es waren die Leute vom Öjeshof, die in diesem Jahre den Altpaten als Weihnachtsgast hatten. Er war fast mit jedem Hof des Dorfes verwandt. Aber er wohnte allein in einer alten Kate und war noch frisch und gesund genug, um für sich selber zu sorgen. Meistens saß er an einem Tisch und baute Geigen. Darin war er ein Meister; und spielen darauf konnte er auch, jene alten Weisen, an die sich die jungen Spielleute kaum noch erinnerten. Wenn Weihnachten kam, wurde es dem Altpaten langweilig, beschäftigungslos am Herde zu sitzen, darin zog er sich sein bestes Zeug an und ging in irgendeinen Hof, wo er sich zu Hause fühlte, und überall war er willkommen.

Der Öjeshof war der größte Hof im Öjedorf. Ob er den Namen nach dem Dorf hatte oder umgekehrt, kann niemand sagen. Aber prächtige Leute wohnten auf diesem Hof. Alle hielten zusammen, fleißig bebauten sie die Erde, und alle kamen sie zu hohem Alter. Als sie sich nun zum Weihnachtsfest versammelten, waren vier Generationen vertreten. Besonders hübsch waren die Töchter des Hofes; mit einem Öjehofmädchen verheiratet zu sein, galt für eine große Ehre im Dorf. Jetzt war nur eine von den Töchtern des Öjebauern noch unverheiratet, und allem Anschein nach würde sie es auch bleiben, solange der Vater lebte, denn er wollte nicht, daß sie den Bränd Erik heiratete, den man zwar als tüchtigen Burschen kannte, der aber einer der ärmsten Familien des Dorfes angehörte. Galt der Vater als eigensinnig, so war Öjes Kersti aus dem gleichen Holz. „Bekomme ich Erik nicht, so nehme ich keinen“, hatte sie das einzige Mal gesagt, als die Sache zur Sprache gekommen war. Dabei sah sie nicht aus, als ob sie Kummer hatte, o nein, so etwas gab es bei den Öjeleuten nicht.

Der Weihnachtsabend im Öjehof verlief wie auf jedem anderen Hof. Vielleicht war mehr Essen auf dem Tisch, mehr Holz im Herde, mehr Kerzen in den Haltern, mehr Kraft in der Stimme des Öjebauern, als er das Weihnachtsevangelium las, lauter der Gesang, als man den Choral anstimmte: Vom Himmel hoch, da komm ich her.


Der Altpate sang alle Verse mit, bis man den elften gesungen hatte. Da verstummte er und blieb in tiefen Gedanken sitzen. Er hatte während des Gesanges die Augen auf Kersti gerichtet. Was war mit ihr los? ... Sie hatte wie die anderen begonnen, frisch und jung, aber bei jedem neuen Vers wurde sie immer nachdenklicher, und schließlich verstummte ihre Stimme, ihre Augen wurden groß und dunkel und füllten sich mit Tränen. Kein anderer sah es als der Altpate, denn er saß auf einem Holzklotz am Herde, zu den anderen gewandt und leitete den Gesang mit seiner Geige. Als man vom Kind in der Krippe sang, konnte Kersti sich nur mit Mühe beherrschen. Die Tränen fielen auf ihre gefalteten Hände, aber sie wagte nicht, sich zu bewegen, damit niemand es bemerken sollte. Das tat auch keiner außer dem Altpaten.

Allmählich wurde Kersti wieder ruhig. Und als man den. Vers anstimmte: „Ach mein herzliebstes Jesulein...“, sang sie wieder mit. Aber da war der Altpate verstummt. Er starrte, als sähe auch er etwas. Er sah das Kind, das kleine Jesuskind in der Krippe, und er sah Maria und Joseph. So deutlich, als ob er einer der Hirten im Stall wäre, sah er sie. Maria hatte Kerstis Züge. Aber wer war Joseph? Oh, jetzt sah er: Erik vom Brändhofe. Der prächtige Erik, der viel zu arm war, um Schwiegersohn im Öjeshof zu werden.

Während die andern den Choral zu Ende sangen, wiederholte der Altpate in Gedanken den Vers, der in seinem Gedächtnis haften geblieben war:

„Das hat also gefallen dir,
die Wahrheit anzuzeigen mir,
wie aller Welt Macht, Ehr und Gut
vor dir nichts gilt, nichts hilft noch tut.“

Und plötzlich sah er so klar, wie alte Leute zuweilen sehen, daß ein großes Unglück über den Öjeshof kommen würde. Es war das Unglück, das in aller Welt das größte ist, wenn man Geld und Gut mehr achtet als das wertvollste von allem: die Liebe.

Hier brannte die Liebe rein und klar in zwei Menschenherzen. Erik und Kersti gehörten zusammen, die beiden müßten einander haben, einander lieben, miteinander glücklich werden. Sie müßten wie glückliche Eltern ihren Kindern zulächeln und arbeiten und opfern, wie der Mensch für denjenigen, den er liebt, arbeiten und opfern soll. Aber hier ward ihnen das nicht vergönnt, weil aller Welt Macht, Ehr und Gut im Herzen des Öjebauern mehr galt als die Liebe.


Als der Choral verstummt war, blieben alle eine Weile still sitzen. Es schien, als wage man sich nicht zu bewegen, damit das Heilige, das die Gemüter bewegt hatte, nicht verflöge. Plötzlich hörte man einen tiefen Seufzer, er kam vom Altpaten. Man hatte bemerkt, daß er aufhörte mit Singen und Spielen, ehe man den Choral zu Ende gesungen hatte, und jetzt war sein Kopf tief herabgesunken, als ob er über etwas nachgrübele. Das sah ihm so gar nicht ähnlich, denn er war sonst der fröhlichste von allen.

„Warum seufzt du, Altpate?“ fragte der Öjebauer, „stimmt etwas nicht mit deiner Fiedel? Du hörtest so plötzlich auf.“
„Meiner Fiedel fehlt nichts“, sagte der Altpate, „nur wird es ihr so schwer, fröhliche Weisen zu spielen, sobald jemand anderm das Herz weh tut. Aber wenn es heilen könnte, möcht ich gern etwas erzählen, das mir einfiel, als wir eben den Choral sangen.“
„Lieber Altpate, erzähle“, riefen die jüngeren im Chor. Aber Kersti schwieg. Sie war rot und blaß geworden, als der Altpate das mit dem wehen Herzen gesagt hatte.

(...)

Doch der Altpate sah durchaus nicht so aus, als ob er etwas erzählen wollte. Er betrachtete seine Geige im Schein des Feuers und zupfte etwas an den Saiten. Plötzlich stand er auf, legte Geige und Bogen auf den Tisch und ging zu den alten Leuten, die an diesem Abend den Ehrenplatz an dem Langtisch hatten.

„Erinnerst du dich noch an Lissdaniels Kari“ rief er dem alten Vater des Öjebauern ins Ohr, der mit seiner alten Frau auf dem Altenteil im Hofe wohnte.
„O ja, freilich erinnere ich mich an sie“, antwortete der Alte mit zittriger Stimme.
„Weißt du noch, als ihr Bräutigam aus Amerika nach Hause kam?“
„O ja, freilich weiß ich das noch.“
„Davon will ich jetzt erzählen.“
Der Alte nickte.

Der Altpate ging zu seinem Holzklotz am Herde zurück, setzte sich und begann zu erzählen. Und alle fanden es schön von ihm, daß er daran gedacht hatte, dem alten Vater zu sagen, was er erzählen wollte. So war der taube Alte auch mit in den Kreis hineingezogen.


„Als ich jung war“, begann der Altpate, „geschah hier im Dorf etwas Merkwürdiges. Aber das, was geschah, war das Ende einer langen Geschichte, und darum muß ich noch weiter in der Zeit zurückgehen. Also vor sehr langer Zeit lebten hier im Dorf zwei junge Menschen, die von dem Vater im Himmel füreinander bestimmt waren, wenn nicht die Menschen in ihrem Vorwitz es so gemacht hätten, daß sie erst im Tode vereint wurden. Das Mädchen hieß Lissdaniels Kari, und sie soll in ihrer Jugend das hübscheste Mädchen gewesen sein, das es je im Öjedorf gab. Sie war auch mit den Öjesbauern verwandt“, fügte der Altpate hinzu und sah Kersti lächelnd an.

„Aber Karis Vater als der reichste Bauer im Dorf wollte nicht, daß sie den heiratete, den sie lieb hatte; er hieß Styvers HaIvar. Nein, Halvar war zu arm für die reiche und hübsche Kari. Jedesmal, wenn Halvar um sie freite, und er kam häufig wieder, mußte er nur hören, daß er zu arm sei. Dieser Vorwürfe zuletzt überdrüssig, beschloß Halvar, reich zu werden. Zu dem Zwecke begann er zu arbeiten, wie noch nie ein Bauernbursche in Öjedorf gearbeitet hatte. Er schwendete Wald, er rodete Boden, er brach Steinblöcke aus den Feldern und errichtete die großen Steinhaufen, die noch beim Styvershof hier im Norden des Dorfes zu sehen sind. Er baute den Hof um; sowohl das Wohnhaus als auch, die Ställe zimmerte er neuer und größer, als sie gewesen waren, und das Glück war mit ihm.

Aber wie er auch arbeitete und wie er auch in Scheunen und Truhen sammelte, so war er doch für die feine Lissdaniels Kari nicht reich genug.

Da kamen die Zeiten, da die Leute nach Amerika zogen, wo man nach dem Gerücht Gold scheffeln konnte. Als nun der eine nach dem andern nach Amerika fuhr, ging Styvers Halvar zum letzten Mal zum Lissdaniels-Bauern und bat um Karis Hand. Aber er erhielt wieder eine Absage. Da ballte er die Faust unter der Nase des Bauern und sagte: 'Jetzt fahr ich nach Amerika und komme erst wieder, wenn ich so viel Geld habe, daß ich das ganze Öjedorf kaufen kann.‘ Der Bauer lachte höhnisch, aber hinter dem Stallpfosten stand Kari und weinte. Und als Halvar dort vorbeiging, fiel sie ihm um den Hals und bat ihn, zu Hause zu bleiben. 'Es ist besser, daß wir uns wenigstens manchmal sehen, als daß wir so weit getrennt sind‘, sagte sie. Aber Halvar war unerschütterlich und ließ sich nicht erweichen. 'Ich habe mein Wort gegeben‘, sagte er, 'und das werde ich halten. Aber ich komme zurück.‘

'Bleib nur nicht zu lange‘, schluchzte Kari.
'Willst du auch auf mich warten?‘ fragte Halvar.
'Ja‘, sagte Kari, 'ich werde bis zu meinem letzten Lebenstage auf dich warten, aber komm bald wieder.‘
'Ich komme wieder, wenn ich reich genug bin‘, sagte Halvar.


Aber wann ist ein Mensch reich genug?“ Der Altpate schwieg nach diesen Worten eine Weile und sah sich im Kreise um. Sein Blick machte zuletzt bei dem Öjebauern halt. Aber dieser saß mit einer kalten Pfeife im Munde und sah scheinbar gleichgültig zu Boden.

„Jahre vergingen, und viele Freier kamen auf den Lissdanielshof. Aber wenn der Vater ja sagte, so sagte die Tochter nein. Und so blieb sie unverheiratet. Ihre Schwestern heirateten alle ... die Mutter starb. Und dann starb auch der Vater. Kari blieb allein auf dem Hof zurück, den sie kraftvoll leitete. Ab und zu erhielt sie von Halvar einen Brief. Es ginge ihm gut, aber er sei noch nicht reich genug. Als der Vater starb, schrieb Kari, jetzt sei sie frei, zu heiraten, wen sie wolle. Aber auch auf diesen Brief antwortete Halvar, daß er noch nicht reich genug sei. Kari begann zu altern. Noch immer kamen Briefe, noch immer schrieb sie, aber noch war Halvar nicht reich genug.

Kari hatte ihre ganze Aussteuer schon in Ordnung gebracht. Auch ein Brautkleid hatte sie sich angeschafft, wie es die Frauen des Kirchspiels zu tragen pflegten, wenn sie als Braut vor den Altar traten. Häufig nahm sie die Tracht aus der Truhe und betrachtete sie, damit sie auch in Ordnung sei, wenn Halvar heimkehrte.

Und die Zeit verging. Kari wurde vierzig Jahre alt, sie wurde fünfzig Jahre alt. Aber als sie sechzig Jahre alt war, war sie eine alte Frau. Eines Tages sagte sie: 'Jetzt kann ich nicht mehr warten, jetzt muß ich an Halvar schreiben, daß er kommen muß.‘ Auf diesen Brief erhielt sie endlich die erwartete Antwort: 'Ich komme.‘

Aber als sie diese Worte las, war ihr, als sei etwas in ihrem Herzen zerbrochen. 'Ich habe zu lange gewartet‘, sagte sie, 'meine Kraft ist zu Ende, aber ich will versuchen auszuhalten, bis Halvar kommt.‘

Kari war jetzt so schwach, daß sie sich ins Bett legen mußte. Dort lag sie mit gefalteten Händen und bat Gott um Kraft, solange zu leben, daß sie Halvar noch einmal sehen könnte. Ich weiß nicht, warum Gott ein solches Gebet nicht erhört hat“, sagte der Altpate; „aber seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken. Noch in der Todesstunde wandte Kari ihr Gesicht zur Tür: 'Kommst du nicht, Halvar?‘ flüsterte sie.

Sie hatte gebeten, daß man ihr ihre Brauttracht anziehen sollte, wenn man sie in den Sarg legte. Ich erinnere mich noch an den Tag, als sei es gestern gewesen“, sagte der Altpate, und alle sahen, wie seine Augen groß wurden und in die Ferne schauten.

„Kari lag in ihrem Sarg auf dem grünen Hofplatz des Lissdanielshofes. Sie war im Tode ganz verändert, lag da und lächelte wie ein junges Mädchen in ihrer Brauttracht. Aber gerade als der Pfarrer mit der Aussegnung beginnen wollte, kam jemand auf den Hof gewandert. Es war ein vornehm gekleideter alter Herr. Er sah wie ein richtiger Patron aus, der gewohnt war, vielen Menschen zu befehlen. Er ging an uns Bauersleuten vorbei gerade auf den Pfarrer zu, ohne nach dem Sarg zu sehen, und fragte nach Lissdaniels Kari. Der Pfarrer machte eine Bewegung mit dem Buche. 'Sie liegt hier‘, sagte er.

Da sah der Mann eine Weile Kari an. Dann griff er sich mit der Hand ans Herz und fiel tot über den Sarg. Und da sahen wir alle, daß es Styvers Halvar war. Jetzt war er zurückgekommen, jetzt war er reich genug, aber jetzt war es zu spät.

Es gab an diesem Tage keine Beerdigung. Aber einige Tage später standen zwei Särge auf dem Lissdanielshofe. Halvar hatte in seinem Koffer eine feine Bräutigamstracht mitgebracht. Und die zog man ihm an. Und so wurden sie mit Erde anstatt mit einem goldenen Ring getraut. So erhielten sie einander im Tode, die sich im Leben nicht bekommen hatten.


Ihr wundert euch, warum ich vorhin aufhörte zu singen“, sagte der Altpate. „Ja, seht ihr, weder die Fiedel noch ich kamen an dem Vers vorbei, 'wie aller Welt Macht, Ehr und Gut vor Dir nichts gilt, nichts hilft noch tut‘. Ich mußte daran denken, wie viel in dieser Welt uns an dem Wichtigsten hindert, einander zu lieben. Und sollen wir den Geburtstag dessen feiern, der die Liebe war, dann können wir ihn nicht feiern, wenn wir etwas anderes an die Stelle dessen setzen, was das Wichtigste im Leben ist. Gold, Weihrauch und Myrrhen sind zwar köstliche Dinge, und Höfe, Felder und Wälder sind auch nicht zu verachten. Aber ein liebendes Herz ist mehr als dies alles, das war der Reichtum Jesu, und Gott gebe, daß wir alle diesen Reichtum hätten.“

Es wurde allen etwas schwer, wieder in die richtige Weihnachtsstimmung zu kommen, nachdem der Altpate seine ernste Erzählung beendet hatte. Aber als er selbst die Geige nahm und eine alte Weihnachtspolka aufspielte, die Kinder sich um ihn sammelten, während Kersti die Kerzen des Weihnachtsbaumes anzündete und die Mutter den Kaffee einschenkte, da wurde es wieder Weihnachten im Öjeshofe.

Aber als man dann beginnen wollte, die Julklappgeschenke zu verteilen, stellte sich heraus, daß der Vater nicht da war. Er ging eigentlich schon fort, nachdem der Altpate seine Erzählung beendet hatte, was aber nur vom Altpaten bemerkt worden war. Der hatte sowohl Kersti als auch ihren Vater angesehen. Und vielleicht war es wahr, was die Leute sagten, daß der Altpate eine merkwürdige Kraft in seinen Augen hatte. Er verstand die Kunst, die Herzen sowohl zu beruhigen als auch zu beunruhigen. Und wenn er alles, was er konnte, tat, um Kerstis Herz zu beruhigen, so tat er auch alles, was er konnte, um ihres Vaters Herz zu beunruhigen.

„Wo ist Vater?“ Man rief nach ihm, draußen und drinnen. Man konnte doch nicht gut damit beginnen, die Julklappgeschenke zu verteilen, ehe er kam.

Endlich hörte man seine Schritte in der Vorlaube.

„Wo bist du gewesen, Vater?“ fragte die Frau, etwas besorgt.
„Oh, ich hatte ja das Weihnachtsgeschenk für Kersti vergessen.“
„Für mich? „ sagte Kersti und errötete. Sie wurde so leicht rot.
„Ja, gerade für dich“, sagte der Vater. „Aber du mußt es selbst holen. Ich habe es nur bis zur Vorlaube gebracht.“

Kersti brauchte ihr Weihnachtsgeschenk nicht zu holen. Sie glaubte, das Herz würde ihr vor Glück stehen bleiben.
Denn in die Tür trat Bränd Erik.