Der bucklige Engel

von Daniela Zabel-Plothow, aus: Maria Rathmann: Wir wandern zur Krippe. Evangelische Verlagsanstalt, 1962.


Die Kinder von Hinterwaldebach waren dabei, ein Krippenspiel einzuüben. „Immer diese Neuerungen!“ sagten die alten Hinterwaldebacher und meinten damit die jungen Pfarrersleute. Aber die Jugend machte mit. Das Volk, das zuerst, in dunkle Wolldecken gehüllt, im Finstern wandeln mußte, tat es, ohne zu kichern und sich zu schubsen. Das große Licht, von Stotterfritz bedient, funktionierte tadellos, ebenso das Entzünden der Kerzen und das Aufsagen der Weissagungen dazu, die Herr Pfarrer zusammengestellt und gerecht verteilt hatte.

Die großen Mädchen in Frau Pfarrers Singkreis hatten schon unmittelbar nach Totensonntag mit den himmlischen Lobgesängen begonnen, welche sich von der zweite Empore aus vollkommen unirdisch anhörten, besonders das „Friede auf Erden“.

Alle Rollen waren besetzt. Die Kostüme, soweit sie nicht noch täglich in Ställen und guten Zimmern gebraucht wurden, lagen in Pfarrers bisher unbenutztem Kinderzimmer, während im „Kommandensaal“ heute der Kerzenreigen der kleinen Engel um die Krippe als letztes einstudiert werden sollte. Sie waren alle erschienen, die rotbäckigen Bauernmädchen mit ihren frischgestärkten Bettlakengewändern, und ihre Kulleraugen hafteten an den Silberflügeln, die auf einer Wäscheleine hingen, weil das Silberpapier noch nicht fest genug klebte.

Es waren durchaus keine liturgischen Flügel, es waren rein pädagogische Flügel, ohne die bei Hinterwaldebacher Mädchen kein engelisches Bravsein möglich gewesen wäre.

Frau Pfarrer paßte vorsichtig schon einmal an, und da blieb ein Flügelpaar übrig. Sie wußte sofort, was der Hahn gekräht hatte (denn er kräht ja nicht nur in Jerusalem, sondern auch anderswo).

„Wo habt ihr Ele gelassen?“ fragte sie.
„Daheim“, antwortete der Engel Gundula, „sie kann doch mit ihrem Buckel nicht mittanzen!“

Der Pfarrfrau war's plötzlich, als ob die Engelgewänder sich in Ballkleider verwandelten, die aufgedrehten Engelslocken in Kaltwellen, die kleinen Mädchen in große. Aber dieser Satz, der blieb und behielt den gleichen Klang. „...sie kann doch mit ihrem Buckel nicht mittanzen!“


Die Pfarrfrau sah in lauter vorwurfsvolle Gesichter. Der Engel Heidemarie sprach es aus, für die andern mit: „Niemand guckte dann mehr nach unsrem Kerzenreigen. Sie würden alle nur auf Ele zeigen und sagen: Seht mal, ein buckliger Engel! Und sie ist auch immer so frech! Und sagen Sie selbst, Frau Pastor, das gibt es doch überhaupt nicht: einen buckligen Engel!“

Nein, das wußte die Pfarrfrau auch, daß es in Gottes Nähe nichts Unvollkommenes, kein Leid und keine Tränen, gab, also auch keinen buckligen Engel. Sie musste Heidemarie recht geben, aber sie fügte hinzu: „Wir wollen rasch überlegen, was sich für ein Ausweg finden läßt - es gibt bestimmt einen! Ich stelle mir vor, wie das wäre, wenn mitten in unserem Spiel aus der Krippe eine Stimme fragte: 'Wo ist meine kleine Ele, die ich so liebhabe?' Denn ihr wißt doch, daß das Christkind die Kranken und die Frechen und die Traurigen liebt.“

„Dann soll sie eben als Engel an der Krippe knien und beten“, schlug Ursel vor. Das war gut! Nun konnten sie beruhigt das langsame Schreiten üben, das Kerzenhalten und die feierliche Miene.

Gleich anschließend jedoch flog einer der Kerzenengel mit der frohen Botschaft dieses Christfestes in den Gänsestall der Lambrechts, wo die Lütte hockte und mit ihrem Kummer nicht fertig werden konnte: „Komm heraus, Ele, und heule nicht! Du bist natürlich genau so'n Engel wie wir. Sie hat dich vermißt, und du sollst sofort in die Pfarre kommen.“ Weg war er.

Das Kind wusch Gesicht und Hände und eilte, wie einst die Hirten gen Bethlehem, zum Pfarrhaus, um die Geschichte zu sehen, die da geschehen war, die ihm der Engel kundgetan hatte. Dort gab es ein längeres Gespräch, ein kleines Opfer auf der einen Seite, noch einmal ein paar Tränen auf der anderen Seite, und danach begann es, in einem dunklen Kinderleben ein wenig heller zu werden, durch das Licht, das von der Weihnachtskrippe ausging.

Die Weihnachtskrippe war Bastians Sägebock, durch zwei Seitenbretter und Roggenstroh mit lang herüberhängenden Halmen jedermann in seiner jetzigen Bedeutung erkennbar. Bienes große Schlafaugenpuppe darin, in Windeln gewickelt und mit echthaarigen Flachslocken, sah ganz so aus, als möchte sie jeden Augenblick ihre langen Wimpern hochklappen und rufen: „Wo ist meine kleine Ele, die ich so liebhabe?“


Kein Mensch hätte sehen oder raten können, daß aus Ele ein Engel geworden war, einer von den elf weißgewandeten Engelsgestalten, die steif und feierlich wie Kerzenhalter aus der Sakristei in den Stall zu Bethlehem schritten, wobei sie mit blanken Augen auf das Licht in ihren Händen starrten und manchmal flink zur Krippe hinschielten. Nur der letzte Engel trug kein Licht. Während die anderen summend die Krippe umkreisten, ging er stracks zu ihr hin und kniete auf dem Strohbündlein dahinter nieder. Er wußte genau, daß das Christkind ihn trotz der Schlafaugen ansah, ihn, den kleinen buckligen Engel, der es mit einem Lied erfreuen sollte.

Die leise atmende Gemeinde sah zwischen den schreitenden Engeln hindurch zuweilen in ein vor Andacht und Hingabe glühendes Kindergesicht, umrahmt von den abstehenden Zuckerwasserwellen rotbraunen Haares, sah zwei magere Hände, die eine Blockflöte hielten, welche die Musik hergab für den Reigen: Vom Himmel hoch, o Englein, kommt...

Ele mit der Flöte, die Frau Pfarrer ihr geschenkt hatte, sah zwischen den Engeln hindurch in der ersten Bank auf dem Schoße der Großmutter das Paulchen sitzen. Das Paulchen hatte seine blinden Augen weit aufgerissen, so, als schaute es immer auf einen Punkt am Himmel. Eles Herz zog sich zusammen vor Mitleid mit diesem Kinde, das von allen Herrlichkeiten hier nichts und gar nichts erblicken konnte, nicht die Mutter Maria, die anbetenden Könige und die Geschenke der Lammfellhirten, nicht das liebe Krippenkind und den schimmernden Verkündigungsengel, der Frau Pastors Brautkleid trug, nicht den Kerzenreigen der kleinen Engel - aber ihr Flötenlied, ihre frohe Botschaft, die sie weitergab, „weil dies ein himmlisch Kindelein“, das konnte Paulchen hören. Sie sah deutlich, wie der Junge horchte und herlauschte, und da spielte sie nur noch für ihn, damit er auch froh werden sollte. Vielleicht sah er innen in sich etwas, denn die Großmutter hatte ihm vorgesagt: „Jetzt kommen die Englein tanzen!“

Als nun die zehn Engel mit ihren Kerzen einen weiten Kreis um die Krippe bildeten und der letzte Flötenton verklang, da sagte das blinde Paulchen laut durch die Kirche: „Des war schöön!“

Und dieser Kinderruf gab dem kleinen buckligen Engel seine Weihnachtsgabe: die tröstliche Gewißheit, daß das Christkind weder auf seinen Buckel noch auf seine vielen Bosheiten im vergangenen Jahre sah, sondern darauf, ob Ele an fremden Kummer denken konnte und Freude bereiten wollte, wie es Frau Pastor gesagt hatte.

„O du fröhliche, selige Weihnachtszeit“ sangen die Hinterwaldebacher, und hernach meinten einige der Alten. „Doch nicht übel - solche Neuerungen!“