Der Gast beim Bauern

von Nikolai Lesskow, aus: Harald von Koenigswald (Hg.): Uns ruft ein Licht. Eckart Verlag, 1955.


Diese wahre Geschichte, die davon handelt, wie Christus an einem Weihnachtsfeste selbst zu Gast zu einem Bauern kam, und davon, was er ihn da lehrte, vernahm ich von einem alten Sibirjaken, der die Begebenheit in nächster Nähe miterlebt hatte. Was er mir erzählte, werde ich mit seinen eigenen Worten wiedergeben:

Unsere Gegend ist eine Verbanntensiedlung, doch eine gute, handeltreibende Gegend. Mein Vater kam hin zu der Zeit, als in Rußland noch die Leibeigenschaft herrschte, ich aber bin bereits dort geboren. Wir hatten Vermögen, ausreichend für unsere Verhältnisse, sind auch jetzt nicht arm. Wir halten uns an den üblichen schlichten russischen Glauben. Mein Vater war belesen und brachte auch mir die Lust am Lesen bei. Wer das Wissen liebte, galt mir für den vornehmsten Freund; ich war bereit, für ihn durch das Feuer oder das Wasser zu gehen. Und nun bescherte der Herr, mir zur Freude, mir einst den Freund Timofei Ossipowitsch, von dem ich Ihnen gerade erzählen will, wie ihm ein Wunder widerfuhr.

Timofei Ossipow geriet zu uns noch als ein junger Mann. Ich war damals achtzehn Jahre alt, er aber vielleicht so einige zwanzig. Timoschas Lebensführung war die allerbeste. Warum er vom Gericht zur Verbannung verurteilt worden war, danach fragt man aus Rücksicht unter unseren Verhältnissen nicht, doch hieß es, ein Oheim habe ihn geschädigt. Jener sei des Waisenknaben Vormund gewesen und habe fast dessen gesamtes Gut entweder durchgebracht oder sich angeeignet, Timofei Ossipow aber habe damals, entsprechend seinen jungen Jahren, der Geduld ermangelt; es sei zwischen ihm und dem Oheim zum Streit gekommen, er habe auf den Oheim mit der Waffe eingestochen. Dank Gottes Barmherzigkeit sei nun diese sündige Wahnwitztat nicht zur Vollendung gekommen ‑ Timofei habe nur die Hand des Oheims durchstochen. Seiner Jugend wegen sei ihm keine schwere Strafe zuerkannt worden: Er ward als einer vom Stande der Kaufleute erster Gilde zu uns zum Siedeln verbannt.

Obwohl Timoschas Vermögen ihm zu neun Zehnteln geraubt worden war, auch mit dem letzten Zehntel ließ sich's leben. Er baute sich bei uns ein Haus und begann darin zu wohnen; das Unrecht jedoch, das er erlitten hatte, kochte in seiner Seele, und lange hielt er sich von jedermann fern. Er saß andauernd zu Hause, und nur sein Knecht und dessen Weib bekamen ihn zu sehen; zu Haus aber las er immerzu Bücher, und zwar die allerfrömmsten. Schließlich wurden wir miteinander bekannt, gerade durch die Bücher, und ich begann, ihn zu besuchen, er aber nahm mich gern an. Wir fanden Wohlgefallen aneinander.

Zu Anfang ließen meine Eltern mich nur ungern zu ihm gehen. Sie wurden aus ihm nicht recht klug: „Man weiß nicht, wer er ist, und warum er sich vor allen verbirgt. Möchte er dir nur nichts Schlechtes beibringen.“ Ich aber, der ich dem Elternwillen gehorchte, ich sagte ihnen, Vater und Mutter, wahrheitsgemäß, daß ich von Timofei nichts Schlechtes zu vernehmen bekäme, und daß wir uns damit beschäftigten, zusammen zu lesen und vorn Glauben zu sprechen, in welcherweis man gemäß Gottes heiligem Willen zu leben habe, um das Bild des Schöpfers in sich nicht zu erniedrigen und zu schänden.

So erlaubte man mir, bei Timofei zu sitzen, sooft ich wollte, und mein Vater ging selbst zu ihm; danach kam Timofei Ossipow auch zu uns. Meine Alten sahen, daß er ein guter Mensch war, und gewannen ihn lieb, und es begann ihnen sehr leid zu tun, daß er häufig düster war. Gedachte er nämlich des Unrechtes, das man ihm angetan hatte, besonders auch, wenn man vor ihm nur mit einem Wörtchen seines Oheims erwähnte, so wird er ganz bleich, ist hernach ganz durcheinander und läßt, ganz mutlos, die Hände sinken. Dann will er auch nicht mehr lesen und - anstatt seiner üblichen Freundlichkeit ‑ leuchtet Zorn in seinen Augen. Er war von musterhafter Ehrlichkeit und ein kluger Kopf; infolge seines Grames jedoch enthielt er sich jedes Unternehmens.

Doch seiner Schwermut half der Herr bald ab; ihm gefiel meine Schwester, er heiratete sie, hörte auf, sich zu grämen, begann vielmehr zu leben und zu gedeihen und zu verdienen und erwies sich nach zehn Jahren vor aller Welt Augen als ein höchst kapitalkräftiger Mann. Er errichtete sich ein Haus mit schönen Stuben; es war mit allem erfüllt, alles hatte er zur Genüge, er genoß die Achtung aller, und sein Weib war wacker, die Kinder gesund.


Was bedurfte es da noch mehr? Man möchte meinen, alles vergangene Leid ließe sich vergessen, aber er gedachte dennoch des Unrechtes,
das ihm widerfahren, und einmal, als wir zusammen in einem Wägelchen fuhren und in aller Freundschaft plauderten, fragte ich ihn:

„Wie nun, Bruder Timoscha, bist du nun mit allem zufrieden?“
„Wie meinst du das?“, fragte er.
„Hast du jetzt alles wieder, was du in deiner Heimat verloren hast?“
Er aber wurde auf der Stelle ganz bleich und antwortete kein Wort, sondern, lenkte nur schweigsam das Pferd.
Da bat ich um Entschuldigung. „Du, Bruder“, sagte ich, „vergib, daß ich so fragte. Ich dachte, jenes Böse sei schon lange ... vorbei und vergessen.“
„Es kommt nicht darauf an“, antwortete er, „daß es lange vorbei ist... Es ist vorbei, dennoch denkt man daran.“

Es tat mir leid, nicht jedoch, weil er ehemals mehr besessen hatte, sondern weil er sich in einer solchen Verfinsterung befand: daß er die Heilige Schrift zwar kannte und gut vom Glauben zu reden verstand, doch das Unrecht so ständig im Gedächtnis bewahrte, das will doch heißen, das Wort Gottes sei ihm nichts nütze.
Ich wurde nachdenklich, zumal da ich ihn in allem für klüger als mich selber hielt und von ihm durch gute Gespräche Förderung erhoffte ‑ er indessen gedenke des ihm angetanen Übels.

Er bemerkte das und spricht: „Woran denkst du eben?“
„Nur so“, sagte ich, „daran, was mir gerade einfällt.“
„Nein, du denkst nach über mich.“
„Ich denke nach auch über dich.“
„Was denkst du da von mir?“
„Du, bitte sei nicht böse, folgendes dachte ich von dir: Du kennst die Schrift, doch dein Herz ist voller Zornes und unterwirft sich nicht Gott. Hast du denn unter solchen Umständen irgendeinen Nutzen von der Schrift?“

Timofei wurde nicht böse, nur ward er im Antlitz betrübt und finster, und er spricht: „Du bist nicht kundig genug in der Heiligen Schrift, dich auf sie zu berufen.“
„Da hast du“, sage ich, „recht, Ich bin nicht kundig.“
„Kundig bist du auch nicht hinsichtlich dessen, was es in der Welt für Unrecht gibt.“

Ich stimmte ihm auch hierin zu; er aber hub an zu sagen, es gäbe derartiges Unrecht, daß man es nicht ertragen könne ‑ und erzählte mir, er sei nicht des Geldes wegen gegen seinen Oheim so zornig geworden, sondern aus einem anderen Grunde, der nicht zu vergessen sei.
„In alle Ewigkeit wollte ich darüber schweigen, jetzt aber will ich mich vor dir, als vor meinem Freund, aussprechen.“
Ich sage. „Sollte dir's frommen, sprich dich aus.“


So eröffnete er mir, daß schon sein Oheim seinen Vater tödlich gekränkt hatte, seine Mutter durch Kummer, den er ihr bereitet, ins Grab gebracht, ihn selber verleumdet und, alt, wie er gewesen, mit Schmeicheleien und Drohungen gewisse Leute bestimmt, ihm, dem Greise, zur Frau das junge Mädchen zu geben, das der Timofei von Kind auf geliebt und von jeher zu heiraten sich vorgenommen hatte.

„Kann man denn“, spricht er, „alles das vergeben? Ich vergebe es ihm zeitlebens nicht.“
„Gewiß“, erwiderte ich, „das Unrecht, das man dir angetan hat, ist groß â€‘ das stimmt. Daß aber die Heilige Schrift dir zu nichts nütze ist, ist ebenfalls keine Lüge.“

Er aber führte mir wieder zu Gemüte, daß meine Schriftkunde schwächer als die seine sei, und begann mir auseinanderzusetzen, wie doch nach dem Alten Testamente die heiligen Männer selber der Gesetzesbrecher nicht geschont, ja sie mit eigenen Händen abgeschlachtet hätten. Wollte doch der Arme derart seine Gesinnung vor mir rechtfertigen.

Ich aber antwortete ihm bei meiner Einfalt einfältig. „Timoscha“, spreche ich, „du bist ein kluger Kopf, bist belesen und weißt alles, und ich kann, in Sachen der Schrift, dir nicht widersprechen. Was ich gelesen habe, ‑ gestehe ich dir ‑ verstehe ich nicht durchweg, weil ich ein sündiger Mensch und beschränkten Verstandes bin. Doch möchte ich dir sagen, daß man im Alten Testamente alles so altertümlich und dem Verstande irgendwie zweideutig schildert; im Neuen aber steht es deutlicher. Dort leuchtet über allem das 'liebe und vergib', und das ist köstlicher als alles, ist wie ein goldener Schlüssel, der jedes Schloß aufschließt. Was aber ist denn zu vergeben? Etwa irgendeine geringe Verfehlung und nicht gerade die ärgste Schuld?“

Er schwieg. Da dachte ich: „Herr, gefiele dir's doch, durch mich ein Wort der Seele meines Bruders zu sagen!“ Und ich hielt ihm vor, wie sie Christus schlugen, mißhandelten, bespien und mit ihm so verfuhren, daß er nirgends eine Stätte hatte; er aber vergab allen. „Folge“, sagte ich, „lieber diesem Beispiel und nicht dem Rachebrauche.“

Er aber hub an mit weitläufigen Auslegungen des Inhaltes, es habe jemand geschrieben, gewisse Dinge vergeben, wäre dasselbe, wie das Übel mehren. Dem konnte ich nicht widersprechen, so sagte ich nur, ich besorgte, daß „viele Bücher einen um den Verstand brächten“ ‑ „Du“, sagte ich, „wappne dich wider dich selber. Solange du des Bösen, das dir widerfahren, gedenkst, ist das Böse lebendig. Laß es nur sterben, dann wird auch deine Seele in Frieden leben.“

Timofei hörte mich an bis zu Ende und drückte mir fest die Hand, redete von nun an nicht mehr weitläufig, sondern sagte nur kurz: „Ich kann nicht. Laß ab, du machst das Herz mir schwer.“
Ich ließ ab. Ich wußte, er hatte Leid, und schwieg.

Doch die Zeit ging hin, und es verstrichen noch sechs Jahre, und all die Zeit beobachtete ich ihn und sah, daß er immer noch litt und daß er, wenn man ihn völlig frei ließe und er irgendwo den Oheim träfe, die ganze Heilige Schrift vergessen sein und er dem Rachesatan verfallen werde. In meinem Herzen aber war ich getrost, weil ich da den Finger Gottes wahrnahm: schon begann dieser, sich ein wenig zu zeigen; nun, so würden wir gewiß auch die ganze Hand zu sehen bekommen; der Herr werde meinen Freund aus der Sünde des Zorns erretten.

Das aber verwirklichte sich auf höchst wunderbare Weise.


Damals lebte Timofei schon das sechzehnte Jahr bei uns als ein Verbannter, und schon waren fünfzehn Jahre vergangen, seit er sich beweibt hatte.
Er mochte wohl siebenunddreißig bis achtunddreißig Jahre zählen, hatte drei Kinder und ein schönes Leben. Besonders lieb hatte er die Blumen ‑ Rosen, und hatte deren viele bei sich, an den Fenstern wie auch am Bretterzaun. Der ganze Platz vor dem Hause war mit Rosen bepflanzt, und dank ihrem Dufte war das ganze Haus voller Wohlgeruches.

Und nun hatte Timofei die folgende Gewohnheit: Regelmäßig, sobald die Sonne tief stand, trat er aus dem Haus, putzte selbst seine Rosenstöcke aus und las alsdann auf der Bank ein Buch. Außerdem, soviel ich weiß, betete er auch häufig dort.

Derart begab er sich auch einmal nach dem Platze und hatte das Evangelium mitgenommen. Er sah nach den Rosenstöcken, dann setzte er sich, schlug das Buch auf und begann zu lesen. Da las er nun, wie Christus zu Gaste zum Pharisäer kam, und sie gaben ihm nicht einmal Wasser, die Füße zu waschen. Da fühlte Timofei ganz unerträglich die dem Herrn angetane Kränkung, und dieser tat ihm so leid, daß er zu weinen anhub darüber, wie jener reiche Hausherr mit seinem heiligen Gaste umgegangen. Und siehe: in diesem nämlichen Augenblick ereignet sich der Beginn des Wunders, worüber mir Timofei folgendes mitteilte:

„Ich blicke“, spricht er, um mich und denke: Was habe ich doch für ein Auskommen und einen Überfluß, aber mein Herr ging einher in solcher Armut und Niedrigkeit! ... Und meine Augen füllten sich ganz mit Tränen, und ich konnte trotz allen Blinzelns ihrer nicht Herr werden; alles um mich herum aber wurde rosenfarbig, selbst meine Tränen. In diesem Zustand, gleichsam ungewußt oder in einer Ohnmacht, rief ich aus: Herr, kämest du zu mir, ich gäbe mich selbst dir hin!“

Ihm aber wehte da plötzlich irgendwoher durch das Rosenlicht im Windhauch die Antwort zu: „Ich werde kommen“.

Timofei kam zitternd zu mir gerannt und fragte: „Wie dünkt dich? Kann der Herr wirklich zu mir zu Gaste kommen?“
Ich antwortete: „Das, Bruder, geht mir über den Verstand. Ließe sich darüber nicht etwas in der Heiligen Schrift finden?“
Timofei aber spricht: „Es ist immer derselbe Christus heute und in Ewigkeit. Ich wage nicht, es zu glauben.“
„Dann“, sage ich, „glaub es“.
„Ich werde befehlen, daß man tags ein Gedeck auf dem Tische für ihn bereit halte.“
Ich zuckte die Achseln und antwortete: „Frag mich nicht weiter. Sieh du nur selber zu, was ihm am wohlgefälligsten wäre. Übrigens meine ich nicht, daß ein Gedeck auf deinem Tische ihn kränkte; immerhin, wäre das nicht Hochmut?“
„Es steht geschrieben“, sagte er: „Dieser nimmt die Sünder an und ißt mit den Zöllnern.“
„Es steht aber auch das geschrieben“, antwortete ich: „Herr, ich bin nicht wert, daß Du unter mein Dach gehst. Auch das scheint mir am Platze.“
Timofei erwiderte: „Das verstehst Du nicht.“
„Gut ‑ wie du willst.“

Timofei ließ sein Weib seit dem folgenden Tage einen überzähligen Platz bei Tische bereit halten. Setzten sie sich zu Tische, zu fünfen, er, seine Frau und drei Kinder ‑ immer ist da noch ein sechster Platz bereit, der Ehrenplatz am Tischende, und davor ein großer Lehnsessel.

Die Frau war neugierig; was heißt das, wozu und für wen sei das bestimmt. Timofei jedoch weihte sie nicht in alles ein. Seinem Weibe und anderen sagte er nur, so müsse es seines innerlichen Gelübdes wegen gehalten werden „für den vornehmsten Gast“. Wer damit wirklich gemeint war, das wußte ‑ außer ihm und mir ‑ kein Mensch.


Timofei erwartete den Erlöser am Tage, nachdem er das Wort im Rosengarten vernommen hatte, er erwartete ihn auch noch am dritten Tage, danach am nächstfolgenden Sonntag, ‑ doch dieses Warten fand keine Erfüllung.
Lange noch hielt er mit seinem Warten an. An jedem Feiertage erwartete Timofei immer wieder Christus zu Gaste, und er erschöpfte sich vor lauter Unruhe, ließ aber nicht nach im Vertrauen, daß der Herr sein Versprechen halten ‑ daß er kommen werde. Das gestand Timofei mir mit folgenden Worten: „Tagtäglich“, spricht er, „bete ich: Ja, komm, Herr! und warte. Doch höre ich nicht die ersehnte Antwort: Ja, ich komme bald!“

Ich war ungewiß im Geiste, was ich Timofei darauf antworten sollte, und oft dachte ich, mein Freund wäre hochmütig geworden und dafür verwirre ihn jetzt eine trügerische Versuchung. Gottes Vorsehung aber fügte es anders.

Das Christfest kam. Es war harte Winterszeit. Timofei kam zu mir am Heiligen Abend und spricht: „Lieber Bruder, morgen erwarte ich den Herrn.“

Ich pflegte schon lange nicht mehr auf dergleichen Reden zu antworten und fragte damals nur: „Was gibt Dir dazu die Gewißheit?“
„Diesmal“, antwortete er, „sobald ich nur das Komm, Herr, gebetet hatte, geriet meine ganze Seele in Wallung, und es klang in ihr auf wie mit Posaunenschall, ja, ich komme bald! Morgen ist sein heiliges Fest ‑ sollte er nicht an diesem Tag mich besuchen wollen? Komm Du zu mir mit der ganzen Verwandtschaft, sonst bebt mir die Seele nur immer vor lauter Furcht.“
Ich sagte: „Timofei, Du weißt, daß ich über dieses alles kein Urteil habe, auch nicht erwarte, den Herrn zu schauen, weil ich ein sündiger Mann bin. ‑ Doch Du bist von unserer Sippe, wir werden zu Dir kommen... Du aber, wenn Du bestimmt einen so großen Gast erwartest, ruf Du dann nicht Deine Freunde zusammen, sondern suche nach einer wohlgefälligen Gesellschaft.“

„Ich verstehe“, antwortete er, „ich werde sofort meine Knechte und meinen Sohn durch das ganze Dorf schicken und alle Verbannten einladen, die da in Not und Bedürftigkeit wären. Sollte Gott mir die wunderbare Gnade erweisen, daß er käme, soll er alles, wie er es geboten hat, vorfinden.“

Mir schien auch dieses sein Wort nicht recht. „Timofei“, sagte ich, „wer vermöchte alles, so wie es geboten, ausrichten? Das eine verstehst du nicht, das andere wirst du vergessen, das dritte wiederum vermagst du nicht zu erfüllen. Doch wenn dieses alles so stark in deiner Seele posaunt, so sei dem so, wie es dir offenbart wird. Wird der Herr kommen, so wird er alles, was noch gebräche, ergänzen, und solltest du jemand, den er haben will, vergessen, wird er den Erforderlichen schon selbst herbeiführen.“


Wir kamen am Weihnachtstage zu Timofei mit der ganzen Familie, ein wenig später, als man sonst zu einem Mittagsmahle auf Einladung kommt.
Denn so hatte er eingeladen, damit man erst, wenn alle Erwarteten zur Stelle wären, mit dem Mahl beginne. Wir fanden seine geräumige Stube voller Leute, in der sibirischen Verbannten Art: Männer und Weiber und das heranwachsende Kindergeschlecht, Leute aus jedem Beruf und aus verschiedenen Gegenden, so Russen wie Polen und Bekenner des estnischen Glaubens. Timofei hatte alle die armen Siedler, die seit Ankunft in ihren Wirtschaften noch nicht auf die Beine gekommen waren, versammelt.

Die Tische waren groß, mit Leinen gedeckt und bestellt mit allem Erforderlichem. Die Mägde liefen hin und her und stellten Kwas und Schüsseln mit Fleischpasteten darauf. Draußen begann es schon zu dämmern; auch war niemand mehr zu erwarten; alle Boten waren wiedergekehrt, von nirgendher mehr waren noch Gäste zu erwarten, weil draußen ein Schneegestöber begonnen hatte, ein Stürmen und Wehen, als wäre der jüngste Tag hereingebrochen.

Ein Gast nur fehlt und fehlt ‑ der werter ist denn alle.

Schon hätte man die Kerzen anzünden und sich zu Tisch setzen müssen, denn es war schon ganz dunkel geworden, und wir alle harrten im Finstern beim schwachen Licht der Lämpchen vor den Heiligenbildern.

Timofei ging bald umher, bald saß er; er befand sich augenscheinlich in quälender Unruhe. Seine ganze Zuversicht war ins Wanken geraten, schien es doch schon gewiß, daß „der große Gast“ nicht kommen würde.

Es verging noch eine Minute, und Timofei seufzte auf, sah mich traurig an und spricht:
„Nun lieber Bruder. ich sehe, entweder ist es Gottes Wille, mich zum Gespötte zu machen, oder Du hast recht: Ich habe nicht verstanden, alle die Erforderlichen zu versammeln, denen er begegnen möchte. Alles geschehe nach Gottes Willen; laßt uns beten und uns zu Tische setzen.“
Ich antwortete: „Also bete.“

Er trat vor das Heiligenbild und begann laut zu beten. „Vater unser, der du bist im Himmel...“ und danach: „Christus wird geboren, lobsinget, Christ kommt vom Himmel, verkündet es, Christ ist auf Erden...“


Kaum aber hatte er dieses Wort ausgesprochen, als plötzlich irgend etwas so fürchterlich von außen an die Wand schlug, daß alles zu wanken anhub,
dann aber fuhr ein breites Getöse durch den Flur und unversehens sprang die Stubentür von selbst, sperrangelweit auf.

Alle Leute, so viele dort waren, warfen sich in unbeschreiblichem Schrecken in eine der Zimmerecken, viele stürzten zu Boden, nur die Wagemutigsten blickten auf die Tür. In der Tür auf der Schwelle steht ein alt‑uralter Mann, bekleidet mit nichts als schlechten Lumpen, zittert und hält sich, um nicht umzufallen, mit beiden Händen an den Wandbrettern fest; hinter ihm her jedoch, aus dem Flur, der unbeleuchtet war, fällt ein unsäglicher rosenfarbener Schein, und über die Schulter des Alten streckt sich in die Stube vor eine schneeweiße Hand; und sie hält eine länglich gestaltete tönerne Lampe mit einer Flamme, wie man sie auf Darstellungen des Nikodämusgespräches gemalt sieht. Der Wind mit dem Schneegestöber tobt da draußen, aber die Flamme bringt er nicht zum Flackern. Und diese Flamme scheint dem Alten ins Antlitz und auf die Hand, auf der Hand aber fällt einem in die Augen eine vernarbte alte Schramme, die von der Kälte ganz weiß geworden ist.

Kaum erblickte ihn Timofei, so schrie er auf: „Herr, ich sehe ihn und nehme ihn auf in deinem Namen: Du selbst aber gehe nicht bei mir ein, ich bin ein böser und sündiger Mensch.“ Und damit verneigte er sich mit dem Antlitz bis zu dem Boden.
Mit ihm zugleich aber fiel auch ich nieder, aus Freude darüber, daß ihn die echte christliche Demut angerührt hatte, und rief aus, daß alle es hörten: „Seien wir des inne, Christus ist mitten unter uns!“ Alle aber antworteten: „Amen“ ‑ das bedeutet: „Es ist gewißlich wahr.“

Nun brachte man Licht ‑ Timofei und ich, wir richteten uns auf vom Boden, die weiße Hand war schon nicht mehr zu sehen ‑ nur der Alte war geblieben.

Timofei stand auf, nahm ihn an beiden Händen und setzte ihn auf den vornehmsten Platz. Wer aber dieser Alte war ‑ vielleicht erraten Sie es selber ‑, es war des Timofeis Feind, der Oheim, der ihn so völlig zugrunde gerichtet hatte. Mit knappen Worten berichtete jener, daß bei ihm alles in Trümmer gegangen sei: Familie und Reichtum seien verloren, er wandere schon lange, um den Neffen aufzufinden und ihn um Verzeihung zu bitten, er habe danach gedürstet und sich dennoch vor Timofeis Zorn gefürchtet, in diesem Schneegestöber jedoch den Weg verloren und, dem Erfrieren nahe, nur sterben zu müssen gewähnt.

„Plötzlich jedoch“, erzählte er, „leuchtete mir irgendein Unbekannter und sagte, gehe hin und wärme dich an meinem Platze und iß aus meiner Schale, griff mich an beiden Händen, und so war ich denn hier, weiß selber nicht woher.“

Timofei jedoch antwortete vor allen: „Ich, Oheim, kenne deinen Geleiter. Das ist der Herr, der da gesagt hat: Hungert dein Feind, so speise ihn mit Brot; dürstet ihn, so tränke ihn mit Wasser. Setz dich bei mir auf den vornehmsten Platz und iß und trink ihm zur Ehre und bleibe in meinem Hause nach Herzenslust bis zu deinem Lebensende.“

Seitdem nun blieb auch der Alte bei Timofei; und sterbend segnete er ihn, Timofei aber fand für immer Ruhe in seinem Herzen.

So ward dieser Bauer gelehrt, in seinem Herzen eine Krippe für den auf Erden geborenen Christus herzurichten. Und ein jedes Herz vermag gleichfalls zu einer Krippe zu werden, falls er das Gebot erfüllt: „Liebet eure Feinde, tuet wohl denen so euch beleidigen.“ Christus wird in dieses Herz eingehen wie in eine geschmückte Kammer und wird dort Wohnung nehmen.

„Ja, komm, Herr! Ja, komm bald!“