Der Hirtenhund

von Johanna Wolf, aus: Maria Rathmann: Wir wandern zur Krippe. Evangelische Verlagsanstalt, 1962.


Unter den Hirten auf dem Felde bei Bethlehem war einer, der schor die Schafe, und sie hielten ihm still. Ganz behutsam tastete er mit seinen Händen über ihre Köpfe und Leiber. Sein Schermesser verletzte sie nie, und sie blökten geradezu freundlich während der Schur, als gäben sie ihm ihre Wolle gern. Wenn kleine Lämmlein kamen, saß er beim Mutterschaf und sprach beruhigend mit ihm. Er liebte die Herde; aber er konnte sie nicht mehr hüten, denn er war blind geworden. Darum sah er auch nicht das große Licht der Klarheit des Herrn in der Heiligen Nacht, und die Gefährten beschrieben ihm nicht, was sie erblickten. Sie waren viel zu aufgeregt. Er nahm nur, erschauernd, die himmlischen Stimmen wahr. Dann hörte er die anderen davonlaufen und war mit den Tieren allein.

Der blinde Hirt ertastete sich einen Stein, setzte sich. darauf, legte sein Gesicht in die Hände und war traurig über seine Verlassenheit. „Euch ist heute der Heiland geboren“, hatte der Fremde gesagt mit einem Wohllaut, wie er ihn noch nie vernommen hatte. Euch! Ihm also auch! Und sie hatten ihn nicht mitgenommen zum Heiland! - Du, der du vorhin gesprochen hast, flehte er in die Nacht hinaus, schicke mir einen, der mich hinführt zu der Krippe, von der du sagtest, daß Christus der Herr als Kind darin liege!

Eine kühle Nase schnüffelte an seinen Fingern. Eine feuchte Zunge leckte ihm übers Gesicht. Unwillig wehrte er den Hirtenhund ab. Der nahm's ihm nicht übel, sondern winselte bettelnd: Geh mit! - War etwas mit einem der Schafe? Er nahm seinen Gürtel und band ihn dem Hund um den Leib, das eine Ende festhaltend. So hatte er sich im Weidegelände schon oft führen lassen. Doch was waren das heute für Wege? Er führte ihn von der Herde hinweg, man hörte sie nicht mehr atmen und spürte ihre Nähe nicht mehr! Das war eine steinige Straße, das war unbekannte Gegend! Er zog an dem Gürtelende, er stieß mit dem Fuß nach dem Hunde, aber im Grunde war es ihm mit seinem Zorn gar nicht ernst. In dem Hunde war eine Fröhlichkeit, die sich ihm geradezu durch den Lederriemen mitteilte.

Jetzt klang es, als gingen sie zwischen Häusern; ein Hof konnte das sein dem Widerhall der Schritte nach. Da gab der Hund einen Freudenlaut, wie ihn wohl alle Hunde der Weit von sich geben, wenn sie ihre Herren wiederfinden. - Hier sind sie also, dachte der blinde Hirt; und nun wird der Hund an ihnen in die Höhe springen, und sie werden ihn streicheln. - Nichts derartiges geschah. Der Hund zerrte ihn zwischen Menschen hindurch, die offenbar knieten, denn er berührte Köpfe mit seinen Ellenbogen. Und jetzt ein Ton aus der Hundekehle wie in Mondnächten, wenn er das Gestirn auf seine Weise grüßte; aber heute klang es fast wie Gesang. Dann legte sich das starke Tier und blieb ganz still.

Der blinde Hirt ließ das Gürtelende los und streckte seine Hände tastend nach vorn. Er griff ins Leere. Da kniete er nieder neben dem Hund und berührte nun mit seinen Fingern vier gekreuzte Hölzer, einen Kasten darauf, aus dem der Zipfel eines Leinentuches hing, und es war ein Duft wie von weißen Lilien um ihn...

Heiland, Heiland, liegst du hier? fragte er mit tiefer, zitternder Stimme.

Meist weinen neugeborene Kinder; aber dieses, weil es Gottes Sohn war, lachte leis und zart. Und der Blinde hörte: Ja, ja, ja!

Dann streckte das Kind seine kleine Hand über die harte Kante der Krippe, und es war, als segne es den Blinden und den Hund.