Der Lehrer der Weisheit

von Oscar Wilde, aus: Elisabeth Borchers (Hg.): Das Weihnachtsbuch. Insel, 1973.


Doch ein Kind, war er voller Erkenntnis Gottes, und da er noch ein Knabe war, waren heilige Männer und Frauen, die in seiner freien Geburtsstadt wohnten, zu Staunen be­wegt von der tiefen Weisheit seiner Rede.

Als ihm seine Eltern das Kleid und den Ring der Mannbar­keit gegeben hatten, küßte er sie und verließ sie, um in die Welt zu gehen, der Welt von Gott zu reden. Denn in jener Zeit gab es viele, die Gott nicht kannten oder schlecht kannten, oder die falsche Götter anbeteten, die in Hainen wohnen und sich um ihre Verehrer nicht kümmern.
Er wandte sich gegen die Sonne und schritt dahin, ohne Sandalen an den Füßen, wie er die Heiligen hatte gehen sehen, und an seinem Gürtel trug er einen kleinen Sack und eine tönerne Kürbisflasche.
Er zog die Landstraße dahin voller Freude, die aus der voll­kommenen Kenntnis Gottes wird, und ohne Aufhören sang er sein Lob; nach einer Zeit kam er in ein fremdes, städtereiches Land.

Durch elf Städte kam er. Einige davon waren in Tälern, andere auf dem Ufer großer Flüsse, und wieder welche auf Bergen. In jeder Stadt fand er einen Schüler, der ihn liebte und ihm folgte, und so folgte ihm auch aus jeder Stadt eine große Menge Volkes, und die Erkenntnis Gottes breitete sich aus im ganzen Lande; viele Hauptstädte be­kehrten sich, und die Priester der Götzentempel sahen die Hälfte ihrer Einkünfte verloren, und wenn sie des Mittags auf ihre Trommeln schlugen, kamen nur ganz wenige Gläubige mit Steuern und Gaben aller Art.

Und doch: je mehr Volk ihm nachfolgte und je größer die Zahl seiner Schüler wurde, desto größer wuchs sein Schmerz. Und er wußte nicht, weshalb sein Schmerz so groß war. Denn immer sprach er von Gott und entzündete sich an der völligen Erkenntnis Gottes, die Gott ihm ge­geben hatte.

Eines Abends ging er aus der elften Stadt, die eine armeni­sche Stadt war, und seine Schüler und eine große Menge Leute folgten ihm; er stieg auf einen Berg, ließ sich auf einen Felsen nieder, der auf dem Berge war, und seine Schüler scharten sich um ihn, und die Menge kniete im Tal.
Er legte sein Haupt in seine Hände und weinte; und er sagte zu seiner Seele: „Warum bin ich voll von Schmerz und Kummer, und warum ist jeder meiner Schüler ein Feind, der im Lichte wandelt?“
Und seine Seele antwortete: „Gott hat dich mit seiner voll­kommenen Erkenntnis erfüllt, und die hast du andern ge­geben. Die preislose Perle hast du geteilt, und das Kleid ohne Naht hast du zerschnitten. Der die Weisheit gibt, die er besitzt, der entäußert sich selbst. Er gleicht jenem, der einem Diebe seine Schätze gibt. Ist Gott nicht weiser als du? Wer bist du, daß du das Geheimnis preisgibst, das Gott dir anvertraut hat? Einstmals war ich reich, und du hast mich arm gemacht. Einstmals sah ich Gott, nun hast du ihn mir verborgen.“
Und er weinte von neuem, denn er wußte, daß seine Seele die Wahrheit gesprochen hatte und daß er die vollkommene Erkenntnis Gottes den andern preisgegeben hatte und daß er wie einer war, der sich an das Kleid Gottes klammert, und daß sein Glaube ihn ver­ließ, weil andere an ihn glaubten.

Er sagte zu sich: „Ich will nicht mehr von Gott reden. Der, der seine Weisheit gibt, beraubt sich selbst.“

Nach einigen Stunden kamen seine Schüler zu ihm, fielen vor ihm nieder und sagten: „Herr, sprich uns von Gott, denn du hast die vollkommene Kenntnis Gottes, und kei­ner sonst als du besitzt sie.“
Er antwortete ihnen: „Von allem will ich zu euch reden, was im Himmel und auf Erden ist, aber ich werde euch nicht von Gott reden.“
Da wurden sie unwillig gegen ihn und sagten: „Du hast uns in die Wüste geführt, damit wir dich hören; und schickst uns und die Menge, die du dir folgen machtest, heim in Hunger?“
Er antwortete ihnen: „Ich werde euch nicht von Gott spre­chen.“ Da murrte die Menge gegen ihn und sprach: „Du hast uns in die Wüste geführt und hast uns keine Nahrung gegeben. Sprich uns von Gott, und es wird uns genug sein,“ Aber er sagte darauf kein Wort mehr. Denn er wußte, er beraubte sich seines Schatzes, wenn er von Gott redete.

Und seine Schüler gingen traurig von dannen, und die Menge zog heim. Viele starben auf dem Weg.

Als er allein war, erhob er sich, wandte sein Antlitz gegen den Mond - und wanderte sieben Monde lang, sprach zu keinem und gab keinem Antwort. Am Ende des siebenten Mondes erreichte er die Wüste, welche die Wüste des großen Stromes ist. Er fand eine Höhle, die ehemals ein Zen­taur bewohnt hatte, nahm sie zu seinem Wohnort und machte sich darin aus Schilf ein Lager.

Er wurde ein Ere­mit. Und zu jeder Stunde lobte der Eremit den Herrn, daß er ihm erlaubt habe, noch einige Erkenntnis von ihm zu behalten, von ihm und seiner unendlichen Größe.

Da der Eremit eines Abends vor seiner Höhle saß, sah er einen jungen, schönen Menschen, der ein schlechtes Leben führte, vorübergehen, scheu und mit leeren Händen. Jeden Abend ging der junge Mensch, die Hände leer, vorüber, und jeden Morgen kam er zurück, die Hände gefüllt mit Purpur und Perlen. Denn er war ein Räuber, der die Karawanen der Kaufleute plünderte. Der Eremit blickte ihn an und hatte Mitleid mit ihm. Aber er sprach kein Wort, denn er wußte, daß der seinen Glauben ver­liert, der spricht.

Eines Morgens, da der junge Mensch, die Hände voll Purpur und Perlen, wieder vorbeikam, blieb er stehen, zog die Brauen, stieß mit dem Fuß auf den Sand und sagte zum Eremiten: „Warum siehst du mich so an, wenn ich vorübergehe? Was ist das, was ich in deinen Augen sehe? Nie hat mich ein Mensch so angesehen, und es ist ein Dorn für mich und eine Qual.“

Der Eremit sagte darauf: „Was du in meinen Augen siehst, ist das Mitleid. Es ist das Mitleid, das dich mit meinen Augen ansieht.“ Der junge Mensch schlug ein verachten­des Gelächter an und sagte: „Ich habe Purpur und Perlen in meinen Händen, und du hast nichts als eine Streu von Schilf zum Lager. Was für ein Mitleid kannst du mit mir haben? und weshalb hast du dieses Mitleid?“
„Ich habe Mitleid mit dir“, sprach der Eremit, „weil du nicht die Erkenntnis Gottes besitzest.“
„Ist diese Erkenntnis Gottes etwas Kostbares?“ fragte der junge Mensch und kam ganz nahe an die Höhle heran.
„Sie ist kostbarer als aller Purpur und alle Perlen der Welt“, sagte der Eremit.
„Und du besitzest sie?“ sagte der Räuber und trat noch näher.
„Einmal ja“, antwortete der Eremit, „besaß ich die vollkommene Erkenntnis Gottes. Aber in meiner Tor­heit habe ich sie weggegeben und an die anderen verteilt. Doch was mir davon noch blieb, auch dies ist mir wert­voller als der Purpur und die Perlen.“

Als der junge Räu­ber das hörte, warf er den Purpur und die Perlen hin, die er in seinen Händen trug, zog ein spitzes, krummes Schwert und rief: „Gib mir auf der Stelle diese Erkenntnis Gottes, die du besitzest, oder ich töte dich. Weshalb soll ich den nicht töten, der einen Schatz bewahrt, größer als der meine?“
Der Eremit öffnete die Arme und sprach: „Ist es nicht besser für mich, ich gehe bis ans äußerste Ende des Rei­ches Gottes und lobe ihn, statt in einer Welt zu leben, die ihn nicht kennt? Töte mich, wenn du es willst. Aber ich werde dir nicht meine Erkenntnis Gottes geben.“

Der junge Räuber kniete nieder und bat, aber der Eremit wollte ihm nicht von Gott reden, wollte ihm nicht seinen Schatz geben; der junge Räuber stand auf und sagte zum Eremiten:
„Sei es, wie du wünschest. Ich aber will in die Stadt der Sieben Sünden gehen, die drei Tagereisen von hier ist, und für meinen Purpur wird man mir da Vergnügen geben, und für meine Perlen verkaufen sie mir Freude.“ Und er raffte Purpur und Perlen zusammen und eilte davon.

Der Eremit rief ihn, eilte ihm nach und beschwor ihn. Drei Tage lang folgte er dem jungen Räuber, bat ihn, um­zukehren und nicht in die Stadt der Sieben Sünden zu gehen.
Von Zeit zu Zeit wandte sich der junge Räuber um und sagte: „Willst du mir diese Erkenntnis Gottes geben, die wertvoller ist als Purpur und Perlen? Wenn du mir sie geben willst, dann gehe ich nicht in die Stadt.“
Und jedesmal antwortete der Eremit: „Alles, was ich habe, will ich dir geben, nur dieses einzige nicht. Denn dies dir zu geben, ist mir nicht erlaubt.“ -
Und im Morgendämmern des dritten Tages kamen sie an die scharlachnen Tore der Stadt der Sieben Sünden.

Und aus der Stadt kam der Lärm großer Freude, dem der junge Räuber mit seiner Freude antwortete, und er hob die Hände, um ans Tor zu schlagen. Da lief der Eremit auf ihn zu, zog ihn bei seinem Gewand und sagte: „Breite die Hände aus und lege die Arme um meinen Nacken; drücke dein Ohr fest an meine Lippen: ich will dir geben, was ich noch von der Erkenntnis Gottes habe.“ Der junge Räuber blieb stehen. Und nachdem der Eremit seine Er­kenntnis Gottes gegeben hatte, sank er zu Boden und weinte, und eine große Finsternis verbarg ihm Stadt und Räuber, daß er sie nicht mehr sah.

Und da er weinend lag, wußte er, daß einer neben ihm stand. Und der neben ihm stand, hatte eherne Füße, und sein Haar war wie von feiner Wolle. Und er hob den Ere­miten auf und sagte zu ihm: „Bis heute hattest du die voll­kommene Erkenntnis Gottes. Nun hast du die vollkom­mene Liebe Gottes. Weshalb weinst du also?“ - Und er küßte ihn.