Die Ankunft

von Joachim Schöne, aus: Maria Rathmann: Wir wandern zur Krippe. Evangelische Verlagsanstalt, 1962.


Es ist Nacht. Sternenhelle, kalte Nacht. Ein Einsamer geht durch die Straßen der Stadt. Er hat den Mantelkragen hochgeschlagen und die Hände in den Taschen verborgen. Die Kälte läßt ihn schwer atmen. Er bleibt vor einem grellerleuchteten Schaufenster stehen. Es ist weihnachtlich geschmückt. Tannenzweige, Weihnachtsmänner, Glocken, Christbaumschmuck.

Am Tage stehen die Kinder vor diesen Fenstern, aber um diese Zeit sieht jeder darauf, daß er nach Hause kommt in eine warme, gemütliche Stube.
Doch es gibt Menschen, die haben keine solche Stube. Bei ihnen ist es kalt zu Hause. Kälter als auf der Straße. Weil drinnen in den Zimmern die Herzen kalt sind.
Ein solcher Mensch ist der Einsame. Er geht durch die Straßen, vorbei an den Schaufenstern und sucht. Er sucht einen Menschen. Da sind nun hundert Klingelknöpfe an den Haustüren dieser Straße. Und keiner ist dabei, auf den er drücken könnte, um einen lieben Menschen zu besuchen. Keiner kennt ihn. Keiner braucht ihn.

In den Zimmern ist die erste Kerze am Adventskranz angezündet worden. Ihr Schein dringt auf die Straße, Kinder singen ein Lied.
„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit.“
Und doch sind alle Türen verschlossen. Der Einsame bleibt stehen. Er lehnt sich an eine Hauswand. Die Kälte legt sich an seinen Körper. Er betrachtet den Himmel. Er sucht sich einen Stern aus unter den vielen Sternen. Das ist sein Adventsstern. Für einen Augenblick überkommt ihn ein weiches Gefühl. Als wäre er noch ein Kind. Die Straße sei das Haus seines Vaters. Und an der Decke hängt der Adventsstern. Er leuchtet hell.

Ein Auto biegt in die Straße ein. Der kalte Lichtstrahl zerstört das Bild. Eine Straßenbahn hält. Der Einsame steigt ein. Er ist unter Menschen. Sie sitzen eng beieinander. Sie berühren sich. Aber sie sind sich unendlich fern.

Der Einsame mustert sein Gegenüber. Ein älterer Herr mit einem Gesicht von der Stange. Es ist schrecklich, in solch ein Gesicht sehen zu müssen. Schrecklich, wenn man einsam ist. Denn im Gesicht tritt der Mensch dem andern entgegen. Wenn es auch zerfurcht ist von den Grausamkeiten des Lebens, wenn es noch unbeweglich ist in der Unberührtheit des Kindes, wenn es gleich unfaßbar ist in der Meisterschaft der Verwandlung - es ist doch ein Gesicht. Ja, man würde selbst mit einer Maske fürlieb nehmen, wenn nur dahinter Blut durch die Wangen pulst. Aber das ist das Erschütternde. Es leben neben uns Menschen, die haben ihr Gesicht verloren. Drum finden wir keinen Weg zu ihnen.

So bleibt der Einsame einsam. Denn auch die Dame, die sich leicht an den Herrn lehnt, ist für den Einsamen fern. Die beiden flüstern miteinander. Der Herr schaut sie an und bewegt seinen Mund. Aber sein Gesicht gewinnt keine Gestalt. Es bleibt leer. Der Einsame befreit seinen Blick von dem Paar. Er betrachtet die übrigen Fahrgäste: Da sitzen sie nun, wie der Zufall sie in die Straßenbahn führte. Eine Gemeinschaft für Minuten. Es bindet sie nichts als der gemeinsame Weg. Für jeden endet er an einer anderen Stelle. Aber die Richtung ist die gleiche. Es ist so leicht, all die anderen Menschen zu vergessen. Es ist so einfach, nur an sich selber zu denken. Aber da kommt der Augenblick, in dem das alles zusammenbricht. Und es wird einem so weh zumut, wenn man die anderen sieht. Die alte Frau dort in der Ecke tut einem plötzlich leid. Sie schaut so unbeholfen und unruhig aus dem Fenster, um die Haltestelle nicht zu verpassen. Sie findet sich in der Großstadt nicht zurecht. Man möchte ihr helfen. Und dort der Krüppel mit dem vergrämten Gesicht, und das junge Ding da drüben, das so widerlich lächelt. Und der Schaffner, der so ängstlich das Geld wiedergibt, weil er sich gestern um zehn Mark verrechnet hat. Sie alle tun einem leid, obwohl man ja nichts mit ihnen gemein hat als den gemeinsamen Weg.

Die Straßenbahn hält. Eine schwerfällige Frau schiebt sich durch die Tür. Sie ist erhitzt. Sie läßt sich mit einiger Wucht auf einen Platz nieder und rückt ihr Kopftuch zurecht. Hinter ihr kommt ein Mann. Er bleibt an der Tür stehen und überschaut den Wagen mit einem flüchtigen Blick. Der Einsame lehnt sich zurück. Ihre Augen begegnen sich. Es ist, als würde eine Brücke gebaut. Der Einsame sitzt nicht mehr allein in diesem Wagen. Er hat ein Gegenüber. Er wagt nicht, den anderen anzusprechen. Wie leicht könnte ein Wort die Gemeinsamkeit zerreißen. Vielleicht weiß der andere gar nicht, daß er einen Einsamen mit seiner Gegenwart beglückt. Plötzlich aber wendet sich der Mann seiner Umgebung zu. Er spricht:

„Bitte die Fahrkarten zur Kontrolle.“

Man ist empört. In der Nacht Kontrolle! Das ist ja unverschämt! Jeder schimpft und sucht gleichzeitig seinen Fahrschein hervor. Der eine braucht nur danach zu greifen; denn er steckt ihn immer in die gleiche Tasche. Er arbeitet sicher in einem seriösen Büro.

Ein anderer aber sucht verzweifelt. Der Kontrolleur steht schon neben ihm. Schnur, Tücher und Papier kommen aus seinen Taschen, aber kein Fahrschein. Das ist eine prickelnde Atmosphäre, so eine Kontrolle in der Straßenbahn. Auch der Einsame wird von ihr hochgerissen. Er sucht nicht nach seinem Schein. Er hat sich noch keinen gekauft. Er hat es vergessen über seiner Einsamkeit.

Der Kontrolleur gibt die Fahrscheine zurück. Er sagt nur ein Wort: „Ungültig.“
Und dann zum nächsten: „Ihre Karte ist abgelaufen. Wissen Sie das nicht?“
Der Schwarzfahrer knurrt: „So eine Unverschämtheit! Ich habe sie erst gestern verlängern lassen!'
Aber der Kontrolleur läßt sich nicht beirren. Fast alle Fahrscheine weist er zurück.
Unter den Fahrgästen bricht eine kleine Revolte aus: „Frechheit! Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten beschweren. Das kommt in die Zeitung! Sie sind wohl nicht normal! Wir haben heute den ersten Advent und nicht den ersten April!“

Der Kontrolleur kommt auf den Einsamen zu. Der Herr mit dem leeren Gesicht sieht ihm kampflustig entgegen:
„Nun?“
„Ungültig, mein Herr!“
„Holen Sie sofort den Schaffner!“

Der Kontrolleur wendet sich an den Einsamen. „Und Sie, mein Herr, fahren Sie auch schwarz?“
Der Einsame ist berührt vom angenehmen Klang dieser Stimme. Er hält ihm einen Fünfmarkschein hin und sagt: „Ich habe keinen Fahrschein.“
Der Kontrolleur drückt die Hand mit dem Geld zurück und spricht: „Danke, ist in Ordnung.“

Die Fahrgäste sind empört. Sie reden alle auf einmal. Sie rücken eng zusammen, obwohl sie sich nicht kennen. Sie sind alle einer Meinung. Die Frau mit dem Kopftuch schnappt nach Luft.
Der seriöse Herr hat sich erhoben, und der Nervöse fuchtelt mit den Armen. Nur der Einsame ist still. Er sitzt am Fenster und hält das Geld in seiner Hand. Er schaut den Kontrolleur an. Ihm ist, als hätte er ihn schon gesehen. Er weiß nur nicht wo. Und die Einsamkeit ist von ihm gefallen wie ein welkes Blatt.

Der Kontrolleur steht schweigend unter der auf geregten Menge. Er setzt zum Sprechen an. Es ist sofort still. Die Worte kommen sehr langsam: „Es ist heute Advent.“
Das ist nichts Neues. Das wissen sie alle. Einige lachen auf.
Er spricht weiter: „Die alten Fahrscheine sind verfallen. Sie haben keine Gültigkeit mehr.“
Die Empörung bricht wieder los: „Woher sollen wir das wissen? Was sind denn das für Methoden? Die Straßenbahn braucht wohl Geld? Das hätten sie vorher bekanntgeben müssen.“
Der Kontrolleur steht unbeweglich: „Wir haben es lange genug bekanntgegeben. Sie wissen es alle.“ Sein Gesicht wird hart.
Der Einsame will aufstehen. Er will etwas sagen. Aber der Seriöse schreit: „Zeigen Sie uns gefälligst die Bekanntmachung!“
Ehe der Kontrolleur antworten kann, werden hinten Stimmen laut: „Warum fahren wir denn so schnell? Wann kommt die nächste Haltestelle? Wo sind wir denn? Ich will aussteigen!“

Die Straßenbahn fährt mit unheimlicher Geschwindigkeit. Die Lichter der Straße ziehen als helle Streifen an den Fenstern vorbei. Der Motor singt. Die Stimme des Kontrolleurs übertönt den Lärm:

„Wir fahren alle bis zur Endstelle. Keiner kann aussteigen. Dazu ist es zu spät.“
Der seriöse Herr ist empört. „Ich will nicht dorthin. Ich habe keine Zeit für solche Späße.“
Das junge Ding mit den betörenden Grübchen schmollt: „Ich möchte gern aussteigen, bitte, ja?“
Ein Mann reißt heftig an der Klingelschnur. Der Wagen hält nicht. Er schüttelt die Fahrgäste hin und her.
Der Kontrolleur spricht, und seine Stimme hallt wie von mächtigen Lautsprechern weitergetragen: „Es ist Advent. Ich bin gekommen, zu richten die Lebendigen und die Toten.“

Der Herr mit dem leeren Gesicht stolpert den Gang vor. Er drückt die Menschen beiseite. Er schiebt sich an die Tür und stürzt sich aus dem Wagen. Ein wahnsinniger Schrei hallt hinter der Bahn her. Der Einsame richtet sich auf. Er geht dem Unfaßbaren entgegen. Er sieht die ausgebreiteten Arme. Heimat umgibt ihn. Geborgenheit. Er hört Musik. Stimmen kreuzen auf. Die Töne werden lauter und greller. Es wird hell. Die Straßenbahn stoppt. Der Einsame fährt hoch. Fast wäre er mit seinem Gegenüber zusammengerannt, dem Mann mit dem Gesicht von der Stange.

Der Einsame steigt aus. Bunte Lichter drehen sich um ihn. Geschrei. Musik. Menschen. Er befindet sich auf dem Weihnachtsmarkt. Er schiebt sich durch die Masse. Vorbei an Buden und Karussells.
„Kommen Sie! Langen Sie zu! Das muß man mitgemacht haben! Oh, oh, oh, die Raupe! Wie schön! Wie schön!“
Ein Mädchen drängt sich vor ihn. Sie hält ihm den Lostopf entgegen:
„Nun, versuchen Sie mal Ihr Glück?“