Die freie Fracht

aus: Georg Dreißig: Als Weihnachten beinahe ausgefallen wäre. Urachhaus, 2005.


Könnt ihr euch vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn der Vater ein Kapitän ist und das ganze Jahr über mit seinem großen Schiff auf allen Weltmeeren kreuzt und nur für den Winter kehrt er heim zu Frau und Kindern? Könnt ihr euch ausmalen, wie die Kinder ihn erwarten, wie sie, wenn die Zeit naht, jeden Morgen an den Strand laufen und hinausspähen aufs Meer, ob sich nicht die Masten des Segelschiffes am Horizont zeigen? Und könnt ihr die Freude und den Jubel ermessen, der sie hüpfen und singen lässt, wenn das Schiff dann erscheint und langsam immer größer und größer wird, bis es endlich draußen vor dem kleinen Fischerhafen vor Anker geht, das kleine Boot zu Wasser gelassen wird und der Vater herüberrudert zu der Familie? Könnt ihr euch das wohl vorstellen?

Dann könnt ihr auch mitfühlen, wie Kai und Lene sich gefühlt haben in jenem Jahr, von dem ich euch erzählen will. Denn Kai und Lene waren die Kinder von Kapitän Peter Abramson, und Käptn Abramson war wie­der das ganze Jahr lang fort gewesen auf seinem stolzen Segelschiff, der „Meereskönigin“. Längst waren die ersten Herbststürme über das Land dahingebraust, ehe er endlich, endlich wieder heimkam und endlich die „Meereskönigin“ wieder vor dem Hafen ankerte, wo sie mit ihren hohen Masten die Fischerboote weit überragte.

Was Käptn Abramson diesmal zu erzählen hatte, ist eine Geschichte für sich. Ich will euch hier erzählen, dass, als Kai und Lene ihn wie jedes Jahr fragten, ob sie nicht bitte, bitte nur eine Nacht im großen Kapitäns­bett auf der „Meereskönigin“ schlafen dürften, der Vater nicht wie früher lächelnd den Kopf schüttelte und sagte: „Wenn ihr mal groß seid, dann.“ Nein, diesmal musterte er sie mit seinen wasserblauen Augen von oben his unten und von unten bis oben, wandte sich darin zur Mutter um und brummte: „Groß sind sie geworden, die Kinder. Was meinst du, Else, sollen sie‘s wagen?“

Gespannt schauten die Kinder auf die Mutter, und als sie sahen, dass sie nickte, umtanzten sie die Eltern in wildem Freudentanz. Von ihrer Nacht auf der „Meereskönigin“ will ich euch erzählen.

Sie hatten gut zu Abend gegessen und sogar noch eine kleine Vespertüte für alle Fälle eingepackt. Dann hatte der Kapitän die Kinder gut vermummelt hinüber zu dem großen Schiff gerudert. Es sah schon etwas nackt aus mit seinen kahlen Masten, von denen die Segel abgenommen worden waren. In der leichten Dünung des Meeres wiegte es sich sanft hin und her, hin und her, und manchmal knarrte irgendwo ein Balken, als spräche das große Schiff im Traum. jetzt in der Dunkelheit war es den Kindern ein wenig unheimlich.

Als sie dann aber in die Kapitänskajüte traten und der Vater die Lampe entzündet hatte, wurde ihnen wieder ganz wohl zumute. Ei, war das ein ge­mütliches Zimmerchen, richtig mit Tisch und Stuhl, mit Bett und Schrank, und sogar Bilder hingen an den niedrigen Wänden. Nein, hier brauchten sie wirklich keine Angst zu haben.

Die beiden Kinder lagen bereits warm aneinander gekuschelt in dem großen Bett und der Vater hatte ihnen bereits „Gute Nacht!“ gewünscht und wollte eben fortgehen, als er sich noch einmal umwandte.

„Richtig“, brummte er, als sei ihm eben etwas Wichtiges eingefallen, „das muss ich euch doch noch sagen.“

Er trat wieder in die Kajüte und setzte sich auf den Bettrand.

„Hört mal, ihr beiden“, sagte er, „wenn ihr heute Nacht die Ankerwinde hört und merkt, dass die ‚Meereskönigin‘ auf Fahrt geht, dann fürchtet euch nicht. In der Zeit vor Weihnachten, wenn die Schiffe im Hafen liegen, werden sie manchmal für eine Nacht ausgeborgt für eine freie Fracht. Morgens liegen sie wieder vor Anker, als ob nichts geschehen wäre. Nur wer die Zeichen genau zu lesen weiß, merkt etwas davon, was in der Nacht vorgegangen ist. Nie aber ist ein Schiff auf solcher Fahrt verunglückt. Also habt keine Angst, falls just in dieser Nacht die ‚Meereskönigin‘ gebraucht wird.“

Ein wenig unheimlich wurde den beiden Kindern schon, wenn sie dachten, dass sie in dieser Nacht vielleicht auf große Fahrt gehen sollten. Sie wollten den Vater noch fragen, ob er das selbst einmal erlebt hätte. Aber plötzlich schien der Kapitän es eilig zu haben mit dem Nach-Hause-Kommen. Schnell erhob er sich, fuhr den Kindern mit seiner breiten Hand flüchtig über die Köpfe und war schon draußen auf dem Gang. Sie hörten die Tür, die aufs Deck hinausführt klappen, etwas später die Ruderschläge – dann war es still um sie, und sie waren allein. –

Eigentlich meinten Kai und Lene, dass sie in dieser Nacht ganz bestimmt nicht würden schlafen können, denn zu viel ging ihnen durch den Kopf, und ihre Herzen klopften gewaltig. So lagen sie nebeneinander im Dunkeln und flüsterten dies und das miteinander.

Aber wisst ihr, die „Meereskönigin“ wiegte sich so ruhig auf den Wellen, dass die Kinder endlich doch einschliefen. Ja, sie schliefen so fest dass sie erst gar nicht hörten, als die Ankerwinde gedreht und die schwere Kette, an der der Anker hing, eingeholt wurde. Die „Meereskönigin“ legte sich be­denklich auf die Seite, richtete sich aber, als sich der Anker aus dem Grund löste, mit einem Ruck wieder auf. Von diesem Ruck erwachten die Kinder. Aufrecht saßen sie im großen Kapitänsbett und lauschten hinaus. Aber das einzige Geräusch, das sie vernahmen, war eine leise Musik, welche das ganze Schiff umschwebte.

„Die ‚Meereskönigin‘ geht auf Fahrt“, flüsterte Kai, und Lene nickte.

Dann stand sie flink auf und zog sich an, und Kai folgte ihr. Auf Zehenspit­zen schlichen sie hinaus auf den Gang und zu der schmalen Tür, die aufs Deck hinausführte. In der Tür war ein kleines rundes Fenster, durch das sie hinaussehen konnten.

Was sie da wohl gesehen haben? Was das wohl für eine Mannschaft war, die im Winter die ruhenden Schiffe für eine Nacht ausborgte für ihre eigene Fahrt?

Die Kinder sahen an den Masten große leuchtende Segel ausgespannt, als wären sie ganz und gar aus Lichtfäden gewebt. Matrosen aber sahen sie nicht. Nur am Steuerrad stand eine Gestalt in einem leuchtend weißen Kleid und mit zwei großen weißen Flügeln an den Schultern. Mit sicherer Hand lenkte dieser Steuermann das große Schiff hinaus auf die offene See. Obwohl kaum ein Wind wehte in jener Nacht blähten sich die lichten Segel, und die „Meereskönigin“ flog flink wie eine Möwe über die Wellen.

Schweigend schauten die Kinder eine Weile durch das kleine runde Fenster und wagten fast nicht zu atmen.
Plötzlich aber hörten sie ganz deutlich ihre Namen gerufen.
„Kai, Lene, kommt heraus. Ihr könnt helfen.“
Da fassten sich die Kinder ein Herz und traten hinaus. Der Steuermann mit den großen Flügeln winkte sie zu sich her.
„Haltet das Steuer für mich“, sagte er, „dann will ich vorn an der Spitze des Schiffes stehen und euch den Kurs weisen.“
Gern willigten die Kinder ein, ergriffen, eins rechts, eins links, das große Rad, und siehe da, es ließ sich ganz leicht halten und drehen, wie der Steu­ermann es ihnen von der Spitze des Schiffes aus wies.

Je länger sie fuhren, um so heller und lauter wurde das Klingen um sie her. Ja, es schien ihnen bald, als führen sie gar nicht mehr in gewöhnlichen Ge­wässern, sondern in Wogen aus Musik und Gesang.
Ob sie merkten, dass sie längst mitsummten in diesen wundersamen Har­monien?
Eine ganze Weile fuhren sie so, als sie endlich vor sich ein kleines Licht aufleuchten sahen wie einen Stern im Dunkel der Nacht. Schnell wurde dieses Licht größer und heller, und bald konnten sie erkennen, dass es ein Gebäude war, ein Schloss vielleicht. Oder war es eine ganze Stadt die ihnen da entgegenleuchtete?

In die Musik mischte sich jetzt noch eine andere Wahrnehmung: Ein ganz wunderbar köstlicher Duft wehte ihnen entgegen und nahm immer mehr zu, je näher sie der goldenen Stadt kamen. Eben noch hatten sie sie nur als kleinen leuchtenden Stern gesehen; jetzt waren sie schon da. Der Steuer­mann winkte ihnen, das große Rad tüchtig herumzuwerfen, so dass die „Meereskönigin“ in einem Bogen auf die Hafenmauer zufuhr. Dann wur­den plötzlich von unsichtbarer Hand die lichten Segel aufgerollt, und schon lag das Schiff an Land.

Nun trat der Steuermann wieder zu den Kindern und sagte: „Könnt ihr Sorge dafür tragen, dass die ‚Meereskönigin‘ hier liegen bleibt bis wir ge­laden haben?“
Er sah, wie die Kinder nickten und Kai sich gleich nach den dicken Tauen umsah, mit denen sonst das Schiff an der Kaimauer festgezurrt wurde.
„Nein, Taue können wir hier nicht gebrauchen“, sagte er da, „was das Schiff hier hält sind eure Gebete.“
Also beteten Kai und Lene, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatten, und die „Meereskönigin“ lag am Ufer und rührte sich nicht.

Draußen auf der Kaimauer aber stand eine Gestalt würdevoll wie ein König, groß und strahlend. Er winkte andere herbei, die trugen duftende Brote auf das Schiff, immer mehr und immer noch mehr, bis alle Laderäume gefüllt waren.
Da winkte die königliche Gestalt dem Steuermann und den Kindern zu. Die leuchtenden Segel spannten sich wieder aus an den Masten, Kai und Lene hielten das Steuer, und der Steuermann mit den großen Flügeln stand an der Spitze des Schiffes und wies ihnen den Kurs.

Wohin sie nun gefahren sind mit ihrer duftenden Fracht in jener klingenden Meeresnacht?

Das hätte Peter Abramson, der Kapitän, auch gern gewusst, als die Kinder ihm am nächsten Morgen von ihrer Reise erzählten. Aber das wussten sie nicht zu sagen. Immer wieder legten sie an in Häfen von Städten und In­seln. Manchmal kamen auch kleine Boote, um Brote aufzunehmen. Und immer unterbrach die „Meereskönigin“ dann ihre fliegende Fahrt und der Steuermann teilte mit beiden Händen von den Broten aus.

Endlich kamen sie wieder im Heimathafen an. Im Osten zeigte sich eben die erste Morgendämmerung. Da trat der Steuermann wieder zu den Kin­dern und sagte: „Dank euch für eure Hilfe. So können die Menschen vom Himmelsbrot kosten, und das wird in ihren Herzen die Hoffnung auf Weih­nachten wecken. Achtet nur darauf: Bald spricht jeder davon, dass es Weih­nachten werden wird. Geht nun zurück ins Bett und macht die Augen zu, dass ihr ausgeschlafen seid, wenn Käptn Abramson euch wecken kommt.“ Gehorsam gingen die Kinder zurück in die Kapitänskajüte und kletterten in das große Bett. Sie merkten, wie das stolze Schiff plötzlich seine Fahrt verlangsamte. Wie aber die lichten Segel eingeholt wurden und der Anker wieder rasselnd in den Grund fuhr, davon merkten sie schon nichts mehr, denn da schliefen sie bereits wieder ganz fest.

Käptn Abramson schmunzelte ordentlich, als die Kinder endlich die Augen aufschlugen. Hell flutete das Sonnenlicht durch die runden Fenster in die Kajüte.
„So, habt ihr ausgeschlafen?“, lachte er. „Ihr müsst aber gut geträumt ha­ben, dass ihr gar nicht aufwachen wolltet.“
Verdutzt rieben die Kinder sich die Augen. Ja, allerdings, einen ganz wun­derbaren Traum hatten sie gehabt. Kai erinnerte dieses und Lene jenes, und die Kinder wunderten sich nur darüber, dass eins genau dasselbe geträumt hatte wie das andere.

„So, so, habt ihr das geträumt“, brummte der Vater schließlich und schaute sich staunend um, „ein merkwürdiger Traum.“
Und als die Kinder seinem Blick folgten, sahen sie, dass auf dem Tisch in der Kapitänskajüte vier Brote lagen, duftende Himmelsbrote.
„Das sind doch seltsame Träume“, meinte der Kapitän, „wenn man davon träumt, dass man Brot aus der himmlischen Stadt holt und an alle Men­schen verteilt und wenn man aufwacht, kann man nicht nur den Traum noch erinnern, sondern auch von den Broten ist noch etwas übrig geblieben. Ei, das sind gewiss höchst seltsame Träume.“
Das fanden Kai und Lene allerdings auch.
Als sie dann mit dem Vater wieder zurückgerudert waren an Land und noch einmal nach dem großen Schiff schauten, sahen sie, wie es sich ruhig m der Dünung wiegte, hin und her, hin und her. Keine Spur war zu sehen von seiner großen Fahrt in der Nacht.

Die Leute aber, denen sie begegneten, die Leute sprachen überall davon, dass es jetzt bald Weihnachten würde.