Die Nacht der Augen

von Wilhelm Hünermann, aus: Hubert Butterwege (Hg.): Der leuchtende Stern. Bonifatiuswerk Paderborn, o.J.


"Weihnacht! Weihnacht!" sangen die Glocken von Sankt Anton im Gebirge.
"Weihnacht! Nacht aller Gnaden und Wunder! Nacht der Liebe und des Friedens!" Weit schwang sich der selige Ton über den verschneiten Tann hin­auf bis zu den hohen Gipfeln unter der Sternenkrone, zog durch die Dorfstraße, verheißend und lockend: Christ ist geboren! Kommt, lasset uns anbeten!"

Überall entzündete das Glockenlied Lichter hinter den Fen­stern. Die Türen sprangen auf, und das stille Dorf machte sich auf, den Neugeborenen zu grüßen.

Den in die Kirche Eintretenden flammte der Stern von Beth­lehem entgegen, wies den Weg zum Stall, in dem das Heil der Welt gebettet lag, und die Frommen drängten sich um das heilige Wunder, um die Krippe, das himmlische Kind, Maria und Josef, die Engel und Hirten und all die lieben, vertrauten Gestalten, die aus der Hand des Toni Lanscher hervorgegangen waren. In jedem Jahr kam eine neue Figur hinzu; so spähten die Dörfler denn auch in diesem Jahr voll Erwartung nach dem neuen, kleinen Kunstwerk und ent­deckten ganz am Rand der heiligen Szene eine Figur, die alle seltsam bewegte. Da stand ein Mann im Bettelgewand, die Rechte auf einen Stecken gestützt, die Linke tastend vorge­streckt. Das Gesicht hatte er zum Stern erhoben, als ahnte er das Licht, von dem er doch keinen Schimmer sah; denn seine Augen waren tot.

"Ein Blinder!" raunten die Leute sich zu. Ein Blinder bei der Krippe!" Erschütterndes Leid offenbarte die Gestalt des Blinden, Not ohne Grenzen, aber auch eine ganz tiefe Sehn­sucht und gläubiges Vertrauen. Das Leid der Welt schien in ihm zur Krippe zu pilgern, alles Heimweh des Advents.

Vom Blinden bei der Krippe predigte der Pfarrer, von der Not, die kein Licht sieht und die doch geheimnisvolle Ahnung zu den wundertätigen Händen des neugeborenen Gotteskindes drängt. "So sind auch wir in allem Weh unter­wegs zu Christus", erklärt der Priester. "Unser Leid wollen wir in seine Hände bergen. Wir wissen nicht, ob er uns von unserer Qual erlöst. Aber er wird unsere Seele nicht ohne ein tröstendes Licht entlassen."

Irgendwo unter den Gläubigen stand Toni Lanscher, der junge Bildschnitzer, und lauschte auf die Worte des Pre­digers, war es ihm doch, als offenbarten sie ihm selbst den letzten Sinn seines kleinen Werkes. Nie zuvor hatte er so mit ganzer Seele sein Schnitzmesser an den stillen Adventstagen geführt, und manchmal hatte er das unerklärliche Gefühl, als leite eine höhere Macht seine Hand.

"Du hast in diesem Jahr dein Meisterwerk gemacht, Toni!" lobte der Pfarrer, als die Mette zu Ende war.

"Es wird immer besser werden!" antwortete Toni, der Berg­führer und Bildschnitzer. "Aber das Letzte und Beste muß ich doch wohl noch lernen. Im vergangenen Sommer habe ich einen Münchener Professor auf den Berg geführt. Der hat sich dann auch in meiner Werkstatt umgesehen und nicht mit Lob gespart. Dann aber riet er mir, eine Akademie in Mün­chen zu besuchen, denn nur dort könnte ich lernen, was mir noch fehle. Er sicherte mir eine Freistelle und ein Stipen­dium zu. Hab natürlich angenommen, und nach dem Drei­königsfest werde ich nach München fahren. Sie sind der erste, dem ich es sage."

Aufmerksam hatte der greise Priester zugehört, doch schwieg er noch lange, als der junge Künstler geendet.

"Was ist Ihre Meinung davon, Herr Pfarrer?" drängte Toni Lanscher. Der Pfarrer legte eine Weile die Hand über die alten, gütigen Augen. Dann schaute er den Bildschnitzer nachdenklich an und sagte:

"Ich kann dir da nicht viel raten, Toni. Gewiß wirst du in der Stadt noch manches hinzulernen. Deine Figuren werden glatter und feiner werden, werden vielleicht in der großen Welt noch mehr Anerkennung finden als das, was du bisher geschaffen hast. Aber ich fürchte, sie möchten über der äuße­ren Vollendung ihre Seele verlieren. Ich bin nur ein Dorf­pfarrer und kenne mich nicht recht aus in deinem Fach. Wenn du aber meinen Rat haben willst, den Rat eines alten, erfah­renen Mannes, dann ist es der: Geh nicht in die Stadt! Bleib hier in deiner lieben, schönen Heimat, bei deinen Bergen, beim Kirchlein von Sankt Anton, denn das Letzte und Tiefste lehrt keine Schule, das müssen wir doch immer wieder aus dem eigenen Herzen schöpfen, das gar zu leicht ver­armt im Lärm der Welt!"

"Aber der Professor...", stammelte Toni betroffen.
"Der Professor mag ein tüchtiger und gescheiter Mann sein und meint es gewiß gut mit dir, aber er lebt in seiner Welt und du in der deinen. Bleib hier, Toni, hör auf meinen Rat. Nein, gib mir jetzt keine Antwort! Warte damit bis zum Dreikönigsfest, dann sage mir, wozu du dich entschlossen hast."

Der heilige Tag der Erscheinung des Herrn bereicherte die Krippe von Sankt Anton mit neuer Pracht, und wieder stau­ten sich die Dörfler, die Wunder des Morgenlandes zu sehen, Könige und Mohren, Krieger und Troßbuben, Kamele und Pferde, alle von Toni Lanschers kunstfertiger Hand ge­schnitzt.

"Nun, wie hast du dich entschlossen?" fragte der Pfarrer den jungen Künstler, der am Nachmittag des Festes in seine Stube trat.
"Ich werde reisen, Herr Pfarrer!" antwortete der Toni, den Blick unsicher zu dem Priester aufhebend. Es geht mir um meine Kunst, und eine solche Gelegenheit, mich darin zu vollenden, finde ich im Leben nicht mehr."
"Es geht um deine Seele und die Seele deines Werkes!" ant­wortete der Priester ernst. "Darum habe ich dir abgeraten, in die Stadt zu gehen. Aber nun du dich entschlossen hast, will ich dir nicht im Wege stehen. Reise also mit Gott und komm wieder so, wie du fortgehst!"

Eine Weile schwieg der Greis, als suchte er nach Worten für etwas, das nur schwer aus­zusprechen war. "Ich habe Angst!" sagte er endlich. "Mir ist, als warte in der Stadt ein großes Leid auf dich."
"Sie haben uns Buben doch schon in der Schule gelehrt, das Leid sei ein größeres Himmelsgeschenk als die Freude", er­widerte Toni lächelnd. Wovor soll ich mich also fürchten?"
"Ja, du hast recht!" nickte wehmütig der Greis. "Das Leid macht die Seele reich, und ein Künstler muß wohl durch das Tor vieler Schmerzen gehen, ehe er sein Höchstes schafft. Das Leid ist mehr als die Schule der Professoren. Aber du weißt selbst, daß ein Stück Holz auch unter dem Meißelstich zer­brechen kann, der es formen soll."
"Gott wird nicht ärger zuschlagen, als ich es ertrage!" ant­wortete Toni zuversichtlich.
"Nun, so geht denn mit Gott!" sagte der Priester noch ein­mal und reichte dem jungen Mann die Hand.

Die nächsten Monate brachten gute Nachrichten aus Mün­chen. Toni schrieb begeistert von der Akademie und seinen Lehrern, von dem Wachsen und Reifen seiner Kunst, und die Briefe waren so frisch geschrieben, daß der Pfarrer wohl glauben mochte, er habe sich unnötige Sorgen gemacht.

Die Karwoche aber brachte eine furchtbare Kunde in das kleine Bergdorf. Der junge Künstler war bei einer Auto­fahrt verunglückt und mit schweren Verletzungen in einem Münchener Krankenhaus. Die Ärzte zweifelten an seiner Wiederherstellung.

Gleich nach den Ostertagen reiste der Pfarrer nach München. Im Krankenhaus sagte man ihm, das Schlimmste sei über­standen, aber man müßte fürchten, daß er sein Augenlicht gänzlich verliere.
"Mein Gott, nur das nicht!" stöhnte der Pfarrer, zu Tode erschrocken. "Er ist doch Bildschnitzer, wie soll er denn schaf­fen, wenn er nichts mehr sieht?"
"Was in Menschenhand steht, ihm zu helfen, das wird ge­schehen!" versicherte der Arzt.

Erschüttert stand der Priester wenig später am Lager des Verunglückten, dessen Augen mit einer Binde bedeckt waren.

"Mein lieber, armer Freund!" sagte der Pfarrer, des Ver­letzten Hand ergreifend. "So war meine Angst um dich doch nicht ohne Grund."
"Ja, Sie hatten recht, Herr Pfarrer!" antwortete Toni mit schwachem Lächeln. "Aber es wird schon wieder werden, und wenn sie mich erst zusammengeflickt haben, komme ich heim. Das verspreche ich Ihnen. Im Sommer geht's dann wie­der auf die Gipfel, und im Winter schnitze ich eine neue, schöne Figur für die Krippe. Bin sicher, daß ich jetzt erst mein Bestes schaffen kann."
"Ja, wenn du erst wieder heil wirst!" seufzte der Pfarrer.
"Kann gar nicht erwarten, bis sie mir die Binde von den Augen nehmen. Wenn ich erst wieder sehe, kann ich auch schnitzen. Die Hände sind ja gottlob unverletzt."
"Wie Gott will, ist es gut!" antwortete der Priester. "Auf jeden Fall mußt du jetzt recht tapfer sein. Denke daran, daß du gefirmt worden bist!"

Der Verletzte sann, als der Pfarrer ihn verlassen hatte, lange darüber nach, weshalb er ihn gerade an seine Firmung er­innert hatte.

Es war hoher Sommer, als Toni Lanscher heimkehrte. Das Alpendorf stand im schönsten Schmuck, und in der abend­lichen Stunde leuchteten die Berge in goldenem Feuer. Aber Toni sah nichts von all der Pracht. Man hatte ihm das Augenlicht nicht wiedergeben können. Der Bildschnitzer war blind.

"Nun ist alles aus!" stöhnte Toni, als der Pfarrer ihn am an­deren Tag aufsuchte. "Ich bin blind. Wissen Sie, was das be­deutet? Ich werde niemals die Berge wiedersehen und nie mehr ein Schnitzmesser führen. Der Tod wäre barmherziger gewesen. Wie konnte Gott mir das antun? Was habe ich ge­tan, daß er mich so schlägt?"

Erschüttert umfaßte der Priester die Hand des Heimgekehr­ten.

"Toni", sagte er mit bebender Stimme, du hast den Blinden geschnitzt und stelltest ihn auf den Weg zur Krippe. Gott hat dich ihm gleichgemacht, damit auch du den Weg zu seiner Liebe fändest."
"Wie kann ich an Gottes Liebe glauben?" schrie der Bursch. "Wie kann der ein gütiger Vater sein, der sein eigenes Kind blendet?"
"Er ist der Vater, der seinen eigenen Sohn ans Kreuz aus­lieferte, damit er die Welt erlöse. Hast doch selbst so oft den Heiland am Kreuz geschnitzt. Hast du dabei an Gottes Liebe gezweifelt?"

"Aber die Schuld? Ich habe doch keine Schuld!"
"Hat der Schuld gehabt, der für uns am Kreuze starb? Mein armer Freund, unter dem Kreuz hört jede Frage nach dem eigenen Leid auf. Wir können nicht mit dem rechten, der durch das Leid die Welt rettete. Auch dir hat Gott das Kreuz nicht umsonst aufgelegt. Auch du sollst durch dein Unglück den Weg zu seiner Liebe finden und ihm helfen, die Men­schen von dem letzten und entscheidenden, ja, von dem ein­zigen wirklichen Unglück zu erlösen. Glaubst du nicht, daß es eine höhere Aufgabe gibt, als Bilder zu schnitzen?"
"Aber meine Kunst! Meine Arbeit!" ächzte der Blinde.

Eine Weile überlegte der Pfarrer, dann sagte er: "Gott be­darf jetzt deines Leidens. Glaub' mir, er hat es dir nicht ohne Grund gegeben. Wenn er aber deiner Kunst bedarf, wird er dich wieder sehend machen. Daran glaube fest!"

Immer wieder besuchte der Pfarrer in der folgenden Zeit den Blinden, sprach ihm Mut zu und lehrte ihn das Geheimnis des Kreuzes verstehen.

"Denk an deinen Firmtag!" mahnte er auch jetzt. Unter den sieben Gaben des Heiligen Geistes ist die des Verstandes. Sie will die Augen der Seele auftun, daß wir Gott er­kennen und das letzte Ziel unseres Lebens sehen. Schlimmer als leibliche Blindheit ist die der Seele. Der Herr sprach zu den Aposteln das Wort: 'Selig sind eure Augen, weil sie sehen!' Damit hat er doch nicht die leiblichen Augen, son­dern die der Seele gemeint."

Ein anderes Mal erzählte der Pfarrer von einem österreichi­schen Bischof, der immer mehr erblindete.

"Immer wieder hat er das gleiche Wort gebetet: 'Herr, wenn du mir das Licht der Augen löschen willst, laß mir wenig­stens das Licht meines Verstandes! Und wenn du mir das Licht meines Verstandes nehmen willst, laß mir wenigstens das Licht des Glaubens.' Toni, willst du mit dem Licht deiner Augen auch das des gotterleuchteten Verstandes und das trö­stende Licht deines Glaubens verlieren? Bete zu Gott um deine Augen, aber bete noch mehr zum Heiligen Geist um die Gabe des Verstandes und die Erkenntnis des Glaubens!"

Niemals verließ der Priester den Blinden, ohne langsam und feierlich das Vaterunser zu beten, auch wenn die Lippen des jungen Menschen noch dazu schwiegen. Dann aber kam doch der Tag, an dem auch Toni zum erstenmal die Worte mit­sprach: "Dein Wille geschehe!"

Dieser Tag bedeutete in seinem Leben eine große, entschei­dende Wendung. Toni lernte wieder an die Liebe Gottes glauben.

"Herr Pfarrer", sagte er an einem der ersten Adventstage, "meine Augen sind tot für die Welt, aber seit ich blind bin, sehe ich mehr als früher, da mich der irdische Schein blendete. Ich will Ihnen etwas gestehen, was Sie vielleicht kaum begrei­fen werden. Ich fürchte mich jetzt fast davor, wieder sehend zu werden. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Aber ich fürchte, ich möchte das innere Licht wieder verlieren, das ich gefunden habe."
"Und du hast dich damit ausgesöhnt, daß du nicht mehr schnitzen kannst?" fragte der Pfarrer ergriffen.
"Ich glaube jetzt selbst, daß Gott mein Leiden mehr braucht als meine Hand", erwiderte Toni.

Am heiligen Weihnachtstag läuteten die Glocken von Sankt Anton abermals Friede und Erlösung. Wiederum drängten sich die Dörfler um die Krippe und schauten das Wunder.

Aber dann ging ein Raunen durch die Menge. Der blinde Schnitzer tastete sich an seinem Stock durch die Kirche, das Gesicht wie ein Sehender zum heiligen Stern erhoben. Scheu machten die Umstehenden Platz. Nun stand er ganz nahe bei der Krippe, die er geschnitzt hatte. Behutsam tastete er nach den heiligen Figuren, nach dem Kind im Stall, nach Hirten und Heiligen. Suchend ging seine Hand weiter, bis sie bei der Figur des Blinden ruhen blieb. Tonis Finger glit­ten über sein kleines Kunstwerk, über die vorgebeugte Ge­stalt, das erhobene Antlitz, die suchende Hand. Dann nahm er den Bettler und rückte ihn noch näher zur Krippe, und aus seinen erloschenen Augen leuchtete das Licht einer großen Freude.

Wieder verging der Winter. Mit aller Schönheit zog der Frühling ins Land und machte einem goldenen Sommer Platz. Da geschah es, daß ein berühmter Augenarzt seinen Weg in das stille Dorf nahm. Auf Bitten des Pfarrers unter­suchte er den Blinden. Dann sagte er: "Der Fall ist nicht hoffnungslos. Ich will ihn in meine Klinik aufnehmen und möchte wohl glauben, daß ich ihn heilen kann."

Das Wunder geschah. Die erloschenen Augen lebten wieder auf. Als Sehender kehrte Toni Lanscher heim.

"Nun weiß ich, daß Gott auch meine Kunst wieder braucht!" sagte er dem Pfarrer beim ersten Wiedersehen. "In der Nacht meiner Augen aber habe ich mehr gelernt, als alle Schulen der Welt mir hätten geben können. Ich weiß nun, daß es Liebe war, als er mich blendete."

Am Weihnachtstag staunten die Gläubigen über die neue Be­reicherung, die ihre Krippe erfahren hatte. Über dem Stall von Bethlehem ragte ein großes, ergreifendes Kruzifix, das in den Händen des himmlischen Vaters ruhte.

Nie hatte man das Kreuz über der Krippe gesehen, aber alle verstanden, daß Gott alles Erdenleid in seinen Händen hielt. Über dem seltsamen Bild aber spannte eine weiße Taube ihre leuchtenden Flügel. Das war der Dank des Künstlers an den Heiligen Geist, der in der Nacht der Augen seine Seele sehend gemacht hatte.