Die schönste Zeit in jedem Jahr

von Friedrich von Bodelschwingh, aus: Maria Rathmann: Wir wandern zur Krippe. Evangelische Verlagsanstalt, 1962.


Unser Vater wußte: für Kinder ist die Hoffnung eine starke Kraft. Darum hielt er es so, daß die Adventszeit für uns eine Schule der Hoffnung wurde. Weil aber bei den Kindern das Vergängliche noch mehr als für große Leute ein Gleichnis des Unvergänglichen ist und sie das am besten verstehen, was ihren Augen und Ohren spürbar wird, darum wurden solche Signale der Hoffnung an unserem Wege aufgerichtet. Welch frohe Spannung der Gemüter gab es, wenn wir am Abend vor dem ersten Advent einen unserer kleinen Schuhe auf die Fensterbank stellen durften! Welchen Jubel, wenn sich am anderen Morgen richtig ein erstes kleines Stückchen Weihnachtskuchen darin fand! Und schon mischte sich in unser Freudengeschrei das mächtige Klingen, das von der Wohnstube her in unser Kinderzimmer herüberkam. Mutter saß am Klavier, und das Fragen und Sehnen, Warten und Bitten ihres Herzens wurde zur Melodie, die den Grund unserer Seele kräftig berührte: „Wie soll ich dich empfangen und wie begegn ich dir, du aller Welt Verlangen?“

Wie das Verlangen aller Welt sich dem kommenden Christuskind entgegenstreckt, davon ging uns etwas auf, wenn wir am Abend desselben Tages mit Vater und Mutter zum ersten Adventsgottesdienst in die Kirche wanderten. Da stand vorn am Altar ein ganz kleines Tannenbäumchen. An dem brannte ein einziges Licht. Das Licht warf seinen Schein durch die grünen Zweige auf einen mit dünnem Goldpapier umwickelten Stab, an dem eine weiße Fahne hing. Auf diese Fahne hatte unsere viel geliebte Kirchenschwester Lydia Karbe mit ihren runden, festen Buchstaben, die man so gut lesen konnte, die erste Verheißung der Bibel geschrieben: „Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe, zwischen deinem Samen und ihrem Samen; derselbe soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.“

Über dieses Wort sprach dann der Vater zu seiner Gemeinde der großen und kleinen kranken Kinder. Er führte sie im Geist an die Schwelle des Paradieses. Er erzählte von Adam und Eva: wie sie zuerst Frieden mit Gott hatten und darum auch Frieden mit der ganzen Natur und Frieden untereinander; wie dann von außen her die Macht des Bösen an sie herangetreten war und das große Unglück über sie gebracht hatte, den Ungehorsam und die Lüge; und wie seitdem der Streit zwischen Licht und Finsternis weitergeht durch die ganze Menschengeschichte. Wie aber aus dem Streit die Sehnsucht erwächst nach dem Einen, der in Gottes Kraft den Sieg gewinnen und der Schlange den Kopf zertreten soll; und wie Gott zu dieser Sehnsucht ja gesagt hat in jenem uralten Verheißungswort. Wir Kinder konnten von diesem Geheimnis der Jahrtausende noch nicht viel verstehen; aber durch unsere Herzen ging doch ein leises Ahnen, daß es sich hier um höchste und letzte Dinge handelt für alle Menschen, auch für uns.

Und nun ging es Schritt für Schritt weiter in das Weihnachtsland hinein. Fing nicht unsere Mutter schon in der Woche nach dem ersten Advent mit der Vorbereitung für das Honigkuchenbacken an? In einer großen runden Schüssel wurde der Teig angesetzt. Nun stand die Schüssel mit einem weißen Tuch zugedeckt auf dem hohen Schrank im Flur unseres Hauses. Ihr süßer Inhalt hatte für Kindergedanken nicht nur Zukunftswert. Wenn abends die kleine Petroleumlampe angezündet war und ich in ihrem schwachen Schein mit einem Trisel oder Brummküsel spielte, während die großen Geschwister bei den Schularbeiten saßen, entfaltete die Teigschüssel da oben ihre ganze Anziehungskraft. Einige Male konnte ich nicht widerstehen. Dann holte ich aus der Küche einen Stuhl, stellte ihn vor den Schrank und kletterte hinauf. Wenn ich mich dann auf die Zehenspitzen stellte und mit aller Kraft nach oben streckte, reichte die Hand gerade bis zum Rand der Schüssel hinauf, so daß der Zeigefinger mit der Spitze einen Augenblick in den Teig hineinfahren konnte. Dann wurde schleunigst der Rückzug angetreten. Und wenn nun in einem stillen Winkel die Zunge den Finger berührte, dann schmeckte das wie lauter Weihnachten.

(...)

Abends aber, wenn wir uns um das Adventsbäumchen sammelten, das auch in unserem Hause stand, dann sangen wir nach Herzenslust:

Was der alten Väter Schar
höchster Wunsch und Sehnen war,
was ihr Mund hat prophezeit,
ist erfüllt nach Herrlichkeit.

Eine dieser Weissagungen des Alten Testaments nach der anderen wurde gelernt und aufgesagt. Da wanderten die Gestalten der Patriarchen vor uns vorüber, der Richter, Könige und Propheten. Es war, wie wenn in einer langen Kette einer dem anderen den goldenen Eimer der Hoffnung weiterreicht. Es war, wie wenn aus der Dämmerung ein Sternlein nach dem andern aufleuchtet, bis der ganze Himmel hell geworden ist. Jedes Sternlein aber strahlt doch nur das Licht der Sonne wider, die aufgehen soll. Und diese Sonne ist das Christuskind, in dem das ewige Licht der Welt einen neuen Schein gegeben hat.

Von diesem neuen Schein, den wir aus der Ferne leuchten sahen, wurden nun all die kleinen Arbeiten verklärt, die zu den Weihnachtsvorbereitungen in unserem Hause gehörten. Es ging sehr eifrig und sehr sparsam dabei zu. Von zehn Pfennigen Taschengeld im Monat ließen sich beim besten Willen keine großen Einkäufe machen. Wenn wir darum Vater oder Mutter etwas schenken wollten, mußten schon die eigenen Hände durch Kleben, Malen oder Sägen dabei helfen, so gut es eben ging. Das gab ein immerwährendes Raunen und Rascheln, ein frohes Hantieren in der Dämmerung und am Abend, ein Zeigen und Verstecken in beständigem Wechsel. Je unscheinbarer die Dinge waren, die so zustande kamen, desto kostbarer wurden sie in unseren Augen durch das dämmernde Licht des Weihnachtsgeheimnisses.

Aber die Eltern lehrten uns auch, mit dem, was wir selbst bekamen, sehr sorgsam umzugehen, weil der Besitz immer neu erworben werden muß, wenn er wahren Wert gewinnen soll. Einmal, als ich sechs Jahre alt war, schenkte mit die Großmutter in Berlin einen Steinbaukasten. Es war die bescheidenste Ausgabe mit ganz schlichten roten und gelben Steinen, aus denen man noch keine großen Bauwerke errichten konnte. Aber es war damit eine lockende Aussicht verbunden: wenn bis zum nächsten Weihnachtsabend kein einziger Stein verlorengegangen wäre, würde Großmutter vielleicht den nächst größeren Kasten schicken; der eröffnete in Verbindung mit dem ersten ganz andere Möglichkeiten für Häuser, Türme und Brücken. Nun verknüpfte sich bei jedem Spiel mit der Freude an der Gegenwart die Sorge um die Zukunft. Daß mir nur ja niemand von den Geschwistern dazwischen kam, wenn die Steine nach dem Gebrauch wieder eingepackt wurden! Von Monat zu Monat wurde der Schatz mehr geliebt und treuer gehütet. Aber schließlich geschah doch das Unglück, daß einer der schmalen gelben Steine beim Sturz vom Tisch in der Mitte durchbrach. Noch fühlte ich den Schrecken, der mir durch alle Glieder fuhr. Der Schaden schien unheilbar zu sein. Ich kam mir wie ein greulicher Missetäter vor; durfte ich nun noch jemals auf Vermehrung meiner Baumaterialien hoffen?

Mutter aber sah meinen heimlichen Kummer. Eines Tages in der Woche vor Weihnachten stellte sie meinen Kindertisch neben den Herd in der Küche, gab mir warmes Wasser, Seife und eine alte Zahnbürste und lehrte mich, jeden Stein zu waschen und zu putzen, daß er ganz neuen Glanz bekam. Dann holte sie Pinsel und Leim, und wir bestrichen sorgfältig die Bruchflächen meines todkranken Steines. Dann mußte ich die beiden Hälften fest aufeinanderdrücken. Wohl eine Stunde lang habe ich unbeweglich so gestanden und mit aller Kraft der kleinen Hände gehalten und gepreßt. Denn ich wußte: von dem Erfolg dieser Operation hing mein ganzes Weihnachtsglück ab. Mutter aber, die währenddessen am großen Küchentisch die Honigkuchen mit den Blechformen aus dem dünngewalzten Teig ausstach, sah manchmal still zu mir herüber, und über ihr Gesicht ging ein kleines Leuchten.

Endlich wagte ich, die Hände vorsichtig von dem Stein zu lösen; und, o Wunder, der Bruch war geheilt! Die beiden Stücke klebten fest aneinander. Nun brauchte ich nur noch mit Sandpapier die Spuren des Leimes wegzuwischen; so konnte man kaum noch etwas von dem Unglück sehen. Und wirklich, wenige Tage später lag der nächste Baukasten unter dem Weihnachtsbaum.


Beim Schmücken dieses Baumes mitzuhelfen, war höchste Sehnsucht und Ehre zugleich. Ketten machen aus buntem Papier, Nüsse vergolden, an die Stiele von Äpfeln Fäden binden, Kartoffeln durchschneiden und aushöhlen, um Kerzen hineinzustecken - das waren Arbeiten, bei denen die Augen immer heller und die Finger immer beweglicher wurden. Das Schönste aber kam, wenn Mutter auf den Boden ging und die alte Krippe herunterholte. Es war nur ein kleiner viereckiger Kasten; den stellte man aufrecht hin. Klappte man nun den Deckel herunter, so wurde in seinem Innern eine kleine Höhle sichtbar, die nach hinten zu von einem durchsichtigen roten Papier abgeschlossen war. Dahinein kamen die winzigen Figuren von Maria und Joseph und die Krippe mit dem Kind. Vorn auf dem Deckel aber wurden die Hirten mit ihren Hürden und Schafen und die Weisen aus dem Morgenlande aufgebaut; und über der Höhle sah man in der Ferne die Stadt Jerusalem. Das alles war so einfach wie nur möglich; uns aber erschien es als das schönste Kunstwerk. Unsere verstorbenen Geschwister hatten schon vor derselben Krippe gesessen, und ihre kleinen Finger hatten einst mit diesen Figuren gespielt. Darum waren sie für Mutter und uns ein besonderes Heiligtum.

Wenn wir aber bei dieser letzten, wichtigsten Vorbereitung waren, kam Vater zu uns. Er hatte sonst auch abends immer zu tun, und wir sahen ihn selten. Aber einen der Abende vor Weihnachten machte er doch für uns frei. Saß er unter uns, dann kam ein tiefes Behagen in jedes Kinderherz. Denn wir spürten: er freut sich noch viel mehr als wir auf das, was kommt. Manchmal half er beim Anbringen der Lichter und Sterne in der Spitze des Baumes. Manchmal hatte er seinen geliebten Wandsbecker Boten vor sich liegen und las uns daraus vor. Während er las, merkten wir, daß die Quelle seiner Freude nicht in den äußeren Dingen lag, an denen unsere Hoffnung hing. Sie streckte sich nach dem Himmelskinde aus, das uns zu Kindern Gottes machen will. Wie ein heiliges Heimweh und wie ein starker Jubel ging es durch sein Herz, wenn er die Worte des Matthias Claudius las:

Willkommen in dem Jammertal,
o sei willkommen tausendmal,
sei tausendmal gesegnet,
du teures, liebes, holdes Kind.
Es weht bei uns ein kalter Wind
und schneiet hier und regnet.
Wir gingen trostlos und verzagt,
im fremden Lande viel geplagt,
gefangen alle auf den Tod.
Da kommst du zu uns in der Not,
zu bringen uns
heim zu des Vaters Haus und Herd...
Wir sind's nicht wert! Wir sind's nicht wert! 

Dieser Ton klang mächtig in uns weiter, wenn wir nun am Heiligen Abend mit Vater und Mutter zur Christvesper gingen. Von allen Seiten kamen sie angewandert, unsere großen und kleinen kranken Freunde. Mit ihnen saßen wir dicht vor der Krippe. Rechts und links darüber je ein großer Lichterbaum und zwischen den Bäumen in der Höhe ein Kreuz aus roten Rosen, durch das der helle Lichterschein fiel. Daß Krippe und Kreuz des Heilandes zusammengehören, wurde dadurch jedem Auge deutlich gemacht. Wenn nun die alten Lieder zu klingen anfingen, wenn Vater die Geschichte von Bethlehem las, wenn der Chor der Bethelkranken ihren zweiten Teil erzählte, wenn ein anderer Chor dem ersten antwortete, wenn beim zweiten Verse von „Stille Nacht, heilige Nacht“ die ganze Gemeinde mit Orgel und Posaunen einfiel ‑ „Christ, der Retter ist da!“ - dann erlebten wir etwas von der großen Freude, die allem Volk widerfahren soll.

Nun sprach Vater von der Kanzel. Er sprach wie ein Kind zu Kindern; und doch war nichts Weichliches darin, sondern ein tiefer, heiliger Ernst. Das war es, was er seiner Gemeinde gern sagen wollte: nur Leute mit demütigem Herzen und hellen Augen fassen etwas von dem Weihnachtswunder; und wer es erfaßt hat, der wird dann auch beides lernen, das Danken und das Dienen.

Wie aus dem Danken das Dienen erwächst, das zeigte er uns dann, indem er aus den Briefen vorlas, die er in der letzten Zeit aus aller Welt bekommen hatte. Heitere Kinderbriefe las er vor, so daß manchmal durch die ganze Kirche ein helles Lachen ging. Briefe ganz armer und trauriger Leute las er vor, die aus tiefster Not doch noch ein wenig geben können. Beim Lesen und Hören aber war uns, als weiteten sich die Wände unseres Gotteshauses. Um uns her sahen wir über die ganze Erde verstreut die große Weihnachtsgemeinde. Die unsichtbaren Wellen ihres Sehnens und Bittens, ihres Glaubens und Hoffens berührten unsere Herzen. Immer wärmer und heller schien es um uns her zu werden. Einmal fing mitten während der Rede unseres Vaters das große Kreuz über dem Altar an zu brennen; die Rosen hatten sich an einem Licht entzündet. Er ließ sich dadurch gar nicht stören. Und die Gemeinde sah darum auch mit gespannter Stille auf die Flammen, die bald erloschen, ohne Schaden zu tun. Wir aber dachten, das wäre Absicht gewesen und gehörte zur rechten Weihnachtsfeier. Denn unauslöschlich prägte es sich dadurch unsern Herzen ein, daß an der Krippe von Bethlehem ein Feuer angezündet wurde, das die ganze Welt erleuchten soll.


War die Feier in der Kirche zu Ende, dann wanderten unsere Eltern von Haus zu Haus durch die Gemeinde, um an möglichst vielen Stellen ihre kranken Pflegekinder unter dem Weihnachtsbaum zu grüßen. Wenn aber die Mutter nach Hause zurückkehrte, um die letzten Vorbereitungen zu treffen, besuchte Vater noch die allerärmsten Bethelleute, die Gemütskranken und Umnachteten, die Einsamen und die Sterbenden. Je dunkler und verzagter ein Herz war, desto zuversichtlicher wurde in seinem Munde das Für euch und Heute der Weihnachtsbotschaft. Daß Freiheit und Friede gegenwärtig sind, wo Christus ist, das ist durch sein Wort am Heiligen Abend mancher bekümmerten Seele wieder aufgegangen. Für ihn selber aber war ein solch Weihnachtsweg durch das Land der tiefsten Traurigkeit immer wie ein heißer Kampf, der ihn ein Stück Leben kostete.

Das spürten wir, wenn er endlich nach Hause kam. Er war äußerlich müde. Aber sein Geist war in desto stärkerer Bewegung. Und nun warf er alle fremden Lasten ab, um ganz für seine eigenen Kinder dazusein. Schnell verschwand er in der Weihnachtsstube, um Mutter beim Anstecken der Lichter zu helfen. Nun klang die längst ersehnte kleine Glocke. Nun öffnete sich die Tür, nun empfing uns Tannenduft und heller Glanz. Mutter saß am Klavier, Vater auf einem niedrigen Stuhl dicht vor der kleinen Krippe. Hinter ihrem roten Papier war ein Licht angezündet, so fiel ein geheimnisvoller Schein durch die kleine Höhle auf das Kind in der Krippe. Jetzt stimmten wir an aus Paul Gerhardts Lied:

Wir singen dir mit deinem Heer
aus aller Kraft Lob, Preis und Ehr,
daß du, o lang erwünschter Gast,
dich nunmehr eingestellet hast. 

Vater sprach nicht mehr viel. Aber wir mußten immer in seine Augen hineinsehen. Darin war ein tiefes Verwundern. Das Wunder der Weihnacht erfüllte seine Seele ganz. Langsam und leise hörten wir ihn sagen: „Der Glanz aus dieser kleinen Höhle streckt sich in alle Welt binein.“ Mutter aber spielte; und durch unser aller Herzen klang es wie ein Ton aus den Freudenliedern der himmlischen Weihnachtsgemeinde:

Ich will dein Halleluja hier
mit Freuden singen für und für,
Und dort in deinem Ehrensaal
soll's klingen ohne Zeit und Zahl.