Weihnachten

Ein Weihnachtsmärchen

aus: Michail Saltykow-Schtschedrin: Die Tugenden und die Laster. Insel-Verlag 1966.


Eine wunderschöne Predigt hielt unser Dorfpfarrer heute zum Weihnachtsfest.

„Vor vielen hundert Jahren“, sprach er, „kam an diesem gleichen Tage die Wahrheit in die Welt.

Die Wahrheit ist ewig, sie thronte von allem Anbeginn mit Christus, dem Menschenfreund, zur Rechten des Vaters, wurde Fleisch zugleich mit ihm und entzündete auf der Erde ihre Fackel. Mit Christus stand sie am Kreuz und wurde gekreuzigt; sie saß als hell strahlender Engel vor seiner Gruft und war Zeuge seiner Auferstehung. Und als der Menschenfreund in den Himmel auffuhr, ließ er uns die Wahrheit zurück, als lebendigen Beweis seiner unwandelbaren Huld und Güte.

Seit der Zeit ist kein Winkel auf Erden, den die Wahrheit nicht durchdrungen, den sie nicht erfüllt hätte. Die Wahrheit zieht unser Gewissen groß, sie wärmt unsere Herzen, stärkt uns in unserem Streben und weist uns das Ziel, auf das unser Leben gerichtet sein muß. Die betrübten Herzen finden in ihr sicheres und stets bereites Obdach, Trost und Ruhe von den Wechselfällen des Lebens.

Es irren jene, die da behaupten, die Wahrheit habe jemals ihr Antlitz verhüllt oder – noch ärger – sei gar von der Lüge besiegt worden. Nein, selbst in jenen kummervollen Augenblicken, wenn es den kurzsichtigen Menschlein schien, als triumphiere der Vater der Lüge, trug in Wirklichkeit die Wahrheit den Sieg davon. Sie allein steht über der Zeit, immer schritt sie voran, breitete ihre Fittiche über die Welt und erleuchtete sie mit ihrem ewigen Lichte. Der vermeintliche Triumph der Lüge zerstob wie ein schwerer Traum, und die Wahrheit setzte ihren Triumphzug fort.

Mit den Verfolgten und Erniedrigten trat die Wahrheit hinab in die Katakomben unter der Erde und drang in Bergesklüfte ein. Sie bestieg mit den Gerechten den Scheiterhaufen, trat neben ihnen vor das Antlitz der Tyrannen. Sie entfachte in den Seelen das heilige Feuer, nahm von ihnen alle Verzagtheit und allen Kleinmut und lehrte sie, ihre Leiden freudig zu ertragen. Umsonst wähnten die Knechte des Vaters der Lüge zu triumphieren, da sie diesen Triumph in äußeren Zeichen, in Folter und Tod erblickten. Nein, auch die grausamsten Foltern waren außerstande, die Wahrheit zu zerbrechen, im Gegenteil – sie verdoppelten noch ihre Anziehungskraft. Angesichts der Foltern entbrannten die einfältigen Herzen und wurden zum neuen, fruchtbaren Boden für die Saat der Wahrheit. Die lodernde Flamme des Scheiterhaufens verzehrte die Körper der Märtyrer, aber an ihrem Feuer entzündeten sich unendlich viele Fackeln, so wie bei der Osterfrühmesse eine einzige brennende Kerze im Nu Tausende von Kerzen aufleuchten läßt.

Was ist das für eine Wahrheit, von der ich mit euch spreche? Auf diese Frage antwortet uns das Gebot des Evangeliums. Vor allem: ‚Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben’ – und dann: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.’ Dieses Gebot birgt, ohngeachtet seiner Kürze, in sich die ganze Weisheit, den ganzen Sinn des Menschendaseins.

‚Liebe den Herrn, deinen Gott’ – denn er ist der Lebenspender und Menschenfreund, der Urquell der Güte, des sittlich Schönen und der Wahrhaftigkeit. In ihm ist die Wahrheit. Eben in diesem Heiligtum, in dem Gott das unblutige Opfer dargebracht wird, – in ihm also vollzieht sich auch der beständige, nie erlahmende Dienst an der Wahrheit. Alle Wände des Gotteshauses sind durchtränkt von der Wahrheit, so daß ihr – selbst die Schlechtesten unter euch – beim Eintritt spürt, wie Ruhe und Erleichterung über euch kommen. Hier, im Angesicht des Gekreuzigten, wird euer Kummer still und eure Seele besänftigt. Christus wurde gekreuzigt um der Wahrheit willen, deren Strahlen sich von ihm aus über die ganze Welt ergossen, ihr aber wollt verzagen vor den Prüfungen, die euch heimsuchen?

‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’ – das ist die zweite Hälfte des Christusgebotes. Ich will nicht davon sprechen, daß es ohne die Liebe zum Nächsten kein Leben in Gemeinschaft geben kann, nein, ich sage klar und deutlich und ohne Vorbehalte: diese Liebe, allein für sich, ohne alles Nebenbei, ist die eigentliche Schönheit und der Frohsinn unseres Lebens. Wir sollen den Nächsten lieben, nicht um der Gegenliebe, sondern um der Liebe selbst willen, Wir müssen unbeirrt und hingebend lieben, mit der Bereitschaft, unser Leben für ihn zu opfern, so wie der gute Hirte sein Leben für seine Schafe läßt.

Wir sollen dem Nächsten zu Hilfe eilen, ohne zu rechnen, ob er den ihm erwiesenen Dienst vergelten kann; wir sollen ihn in Schutz nehmen vor den Schicksalsschlägen des Lebens, mag auch das Ungemach uns selbst zu verschlingen drohen; wir sollen für ihn eintreten vor den Mächtigen dieser Welt und bereit sein, für ihn zu kämpfen. Die Liebe zum Nächsten ist das höchste Gut des Menschen, ist das, was den Menschen vom Tiere scheidet. Ohne ihren belebenden Hauch sind alle menschlichen Handlungen tot, ohne sie ist das Erdendasein dunkel, leer und ziellos. Nur jene Menschen leben ein erfülltes Leben, die mit Inbrunst leben und sich selbst verleugnen. Nur sie kennen die wahren Freuden des Lebens.

Laßt uns also unsern Gott lieben und uns untereinander – das ist der Sinn der Menschenwahrheit. Suchen wir sie und wandeln wir auf ihrem Pfade. Fürchten wir die Ränke der Lüge nicht, sondern seien wir stark und halten wir ihr die von uns gefundene Wahrheit entgegen. Die Lüge wird geächtet werden, die Wahrheit aber bleibt und erfüllt mit ihrer Wärme die Herzen der Menschen auf immerdar.

Gehet nun heim und überlasset euch der Freude über das Fest der Geburt unseres Herrn und Heilandes. Doch auch inmitten eurer Fröhlichkeit vergesset nicht, daß mit ihm die Wahrheit in die Welt kam, daß sie täglich und stündlich unter euch weilt, daß sie jenes heilige Feuer ist, das das menschliche Dasein erhellt und erwärmt.“

Als der Diener Gottes geendet hatte und vom Chor herab die Worte ertönten: „Gebenedeit sei der Name des Herrn“, entrang sich allen Herzen ein tiefer Seufzer, gleich als wollte die ganze Schar der Gläubigen damit bekräftigen: „Ja, er sei gebenedeit!“

Doch keiner von all den andächtig Versammelten hatte den Worten des Vaters Pawel so aufmerksam gelauscht wie Serjosha Ruslanzew, der zehnjährige Sohn einer früh verwitweten Gutsbesitzerin. Mehrmals hatte er sogar heftige Erregung gezeigt und sich mit tränenerfüllten Augen und hochroten Wangen nach vorn gelehnt, als wollte er etwas fragen.

Marja Sergejewna Ruslanzewa hatte einen winzigen Gutshof mitten im Dorf. Zur Zeit der Leibeigenschaft hatte es bis zu sieben Gutshöfe in dem Dorf gegeben, die dicht beinander lagen. Die Gutsbesitzer hatten durchweg nur wenig Land, und Fjodor Pawlytsch Ruslanzew war einer der ärmsten: er besaß nur drei Bauernhöfe und rund ein Dutzend Leibeigene. Doch da man ihn beständig auf allerlei Posten berief, so half ihm der Dienst, ein kleines Kapital zusammenzusparen. Als dann die Leibeigenschaft aufgehoben wurde, erhielt er als Kleingrundbesitzer eine günstige Abfindung und konnte, wenn er auf dem ihm verbliebenen Grund und Boden weiter wirtschaftete, schlecht und recht leben.

Marja Sergejewna wurde erst nach der Bauernbefreiung seine Frau und ein Jahr später bereits Witwe. Als Fjodor Pawlytsch eines Tages in den Wald geritten war, hatte das Pferd aus irgendeinem Grunde gescheut und ihn aus dem Sattel geworfen, so daß er mit dem Kopf gegen einen Baum geschleudert worden war. Zwei Monate darauf brachte die junge Witwe einen Sohn zur Welt.

Marja Sergejewna lebte mehr als bescheiden. Die Feldbestellung hatte sie aufgegeben, den Boden den Bauern zur Pacht überlassen und für sich nur das Gehöft mit einem Stück Garten behalten. Ihr ganzes lebendes Wirtschaftsinventar bestand aus einem Pferd und drei Kühen, die ganze Dienerschaft aus einer früheren Leibeigenenfamilie, nämlich ihrer alten Kinderfrau mit Tochter, Sohn und Schwiegertochter. Die alte Kinderfrau hatte die Aufsicht über das Haus und wartete den kleinen Serjosha; ihre Tochter wirtschaftete in der Küche; der Sohn und seine Frau versorgten das Vieh und Geflügel, pflegten den Garten und was sonst noch war. Ihr Leben verlief in aller Stille, und es gab keine Not. Was man fürs tägliche Leben brauchte, war vorhanden, und was man hätte kaufen müssen, wurde kaum gebraucht. Das Gesinde pflegte zu sagen: „Wir leben wie im Paradiese!“ Selbst Marja Sergejewna schien vergessen zu haben, daß es auf Erden noch jenes andere Leben gab, das sie aus den Fenstern des Internats, in dem sie erzogen worden war, flüchtig gesehen hatte. Nur Serjosha machte ihr bisweilen Kummer. Anfangs war er ein munteres Kind gewesen, doch kurz vor seinem siebenten Geburtstag hatte er begonnen, eine krankhafte Empfindsamkeit an den Tag zu legen.

Serjosha war ein aufgeweckter, braver Junge, körperlich aber zart und kränklich. Als er sieben Jahre alt wurde, begann für ihn das Lernen. Zunächst unterrichtete die Mutter ihn selbst, als er aber auf die Zehn zuschritt, nahm sich auch Vater Pawel seiner an. Der Knabe sollte aufs Gymnasium kommen, so war es notwendig, ihn wenigstens mit den Anfangsgründen der alten Sprachen vertraut zu machen. Die Zeit verstrich, und Marja Sergejewna dachte mit großer Sorge an die bevorstehende Trennung. Doch nur um den Preis dieser Trennung konnte Serjosha die ihm gemäße Erziehung erhalten. Die Gouvernementsstadt war weit entfernt, und angesichts der nur sechs- bis siebenhundert Rubel Jahreseinkünfte gab es keine Möglichkeit, den Wohnsitz dorthin zu verlegen. Die Mutter hatte Serjoshas wegen schon eine Korrespondenz mit ihrem Bruder geführt, der in der Gouvernementsstadt einen wenig bedeutenden Posten bekleidete, und gerade dieser Tage einen Brief erhalten, worin sich der Bruder bereit erklärte, Serjosha in sein Haus aufzunehmen.

Nach der Rückkehr aus der Kirche, beim Tee, konnte Serjosha sich noch immer nicht beruhigen.

„Mama, ich will nach der Wahrheit leben!“ sagte er wieder und wieder.

„Gewiß, mein Kind, die Wahrheit ist das Wichtigste im Leben“, suchte ihn die Mutter zu besänftigen, „aber du hast ja dein Leben noch vor dir. Kinder können auch gar nicht anders als nach der Wahrheit leben.“

„Nein, so meine ich es nicht. Vater Pawel hat gesagt, wer nach der Wahrheit leben will, muß seinen Nächsten beschützen. So muß man also leben, aber tue ich das? Neulich haben sie dem Iwan Arm die Kuh verkauft – bin ich für ihn eingetreten? Nein, ich habe nur dabeigestanden und geweint.“

„Siehst du, in diesen Tränen lag für dich die Wahrheit. Du konntest gar nichts anderes machen. Der Iwan Arm mußte die Kuh von Rechts wegen hergeben, verstehst du, er hatte Schulden. Es gibt ein Gesetz, daß jeder seine Schulden bezahlen muß.“

„Aber der Iwan konnte doch nicht bezahlen, Mama. Er wollte ja, aber er konnte nicht. Tantchen sagt auch, im ganzen Dorf sei keiner ärmer als er. Wo ist hier die Wahrheit?“

„Ich sage dir doch, es gibt ein Gesetz, und nach dem Gesetz müssen sich alle richten. Wenn die Menschen in der Gemeinschaft leben, dann dürfen sie auch ihre Pflichten nicht vernachlässigen. Du mußt ordentlich lernen – das ist deine Wahrheit. Wenn du aufs Gymnasium kommst. sei fleißig und brav – dann lebst du nach der Wahrheit. Du darfst dich nicht immer so aufregen. Was du siehst oder hörst, immer nimmst du dir alles zu Herzen. Vater Pawel hat ganz allgemein gesprochen; in der Kirche kann er das nicht anders, und du wendest es gleich auf dich an. Bete für deinen Nächsten – mehr verlangt der liebe Gott nicht von dir.“

Doch Serjosha gab sich nicht zufrieden. Er lief in die Küche, wo gerade das Gesinde zusammensaß und, des Feiertags wegen, Tee trank. Die Köchin Stepanida machte sich am Ofen zu schaffen und zog alle Augenblicke den Topf mit der fetten Kohlsuppe heraus, damit er nicht überkochte. Der Duft des schmorenden Fleisches und des Weihnachtskuchens zog durch das ganze Haus.

„Ich werde jetzt nach der Wahrheit leben!“ verkündete Serjosha.

„Ei, da fängst du ja beizeiten an!“ scherzte seine alte Kinderfrau.

„Nein wirklich, Tantchen, ich habe mir das Ehrenwort gegeben! Ich will lieber für die Wahrheit sterben, ehe ich mich der Lüge ergebe!“

„Ach, mein Herzblatt! Was ist dir denn ins Köpfchen gekommen!“

„Hast du denn nicht gehört, was unser Pfarrer in der Kirche gesagt hat? Für die Wahrheit muß man sein Leben lassen; man muß, hörst du, für die Wahrheit in den Kampf gehen!“

„Ja, ja, sicher. Was wird in der Kirche nicht alles geredet! Dafür ist die Kirche da, daß man dort von guten Dingen hört. Aber du mußt das nicht so schwer nehmen, mein lieber Kleiner!“

„Mit der Wahrheit muß man vorsichtig umgehen“, sagte der Knecht Grigorij bedächtig.

„Warum, zum Beispiel, trinke ich mit der Mama im Eßzimmer Tee und ihr in der Küche? Ist das die Wahrheit?“ erhitzte sich Serjosha.

„Wahrheit hin, Wahrheit her, solange die Welt steht, ist das nicht anders. Wir sind einfache Menschen und fühlen uns in der Küche wohl. Wenn alle ins Eßzimmer wollten, wo sollten wir da den Platz hernehmen?“

„Höre, Sergej Fjodorytsch“, mischte sich wieder Grigorij ein, „wenn du groß bist, kannst du sitzen, wo du willst, meinetwegen im Eßzimmer oder auch in der Küche. Doch solange du klein bist, sitz schön bei Mama, das ist die beste Wahrheit für dein Alter! Der fromme Vater kommt ja zum Essen, er wird dir dasselbe sagen. Sieh mal, was tun wir nicht alles: das Vieh besorgen, die Erde umgraben – Herrschaften brauchen das nicht. So ist’s!“

„Das ist doch aber keine Wahrheit!“

„Wir denken es uns so: Wenn die Herrschaften gut und freundlich sind, ist das ihre Wahrheit, und wenn wir Knechte den Herrschaften fleißig dienen, sie nicht betrügen, sondern uns Mühe geben, ist das eben unsere Wahrheit. Wir wollen zufrieden sein, wenn jeder auf seine Wahrheit achtet.“

Minutenlanges Schweigen folgte. Serjosha wollte wohl etwas entgegnen, aber Grigorij hatte so gutmütig gesprochen, daß er unschlüssig wurde.

„Bei uns zu Hause“, fing Serjoshas Wärterin wieder an. „woher wir mit deiner Mama gekommen sind, lebte ein Gutsbesitzer RassoschWikow. Erst lebte er wie die andern auch, dann wollte er plötzlich nach der Wahrheit leben. Und was machte er? – Verkaufte sein Gut, verteilte das Geld unter die Armen und machte sich dann auf die Wanderschaft... Man hat ihn nie wieder gesehen.“

„Ach, Tantchen, das war ein Mensch!“

„Sein Sohn aber lebte in Petersburg, er diente in einem Regiment“, setzte die Alte hinzu.

„Der Vater hat Hab und Gut verschenkt, und für den Sohn ist nichts übriggeblieben ... Man sollte den Sohn mal fragen, wie ihm des Vaters Wahrheit gefiel“, erwog Grigorij.

„Hat denn der Sohn nicht verstanden, daß der Vater nach der Wahrheit gehandelt hat?“ fragte Serjosha erstaunt.

„Ja, siehst du, er hat es eben nicht so recht verstanden, hat sogar versucht, Berufung einzulegen. Warum, meint er, hat mich der Vater ins Regiment gesteckt, wenn mir nun kein Unterhalt bleibt?“

„Ins Regiment gesteckt ... kein Unterhalt...“; mechanisch wiederholte Serjosha Grigorijs Worte und konnte sich nicht zurechtfinden.

„Ich kenne noch so eine Geschichte“, fuhr Grigorij fort. „Da wollte es ein Bäuerchen bei uns im Dorf diesem Rassoschnikow gleichtun – Martyn hieß er. Gab auch alles, was er hatte, den Armen und ließ der Familie nur die Kate. Er selbst aber warf den Sack über die Schulter und machte sich nachts heimlich davon, immer der Nase nach. Nur, siehst du, hatte er vergessen, sich einen Paß zu beschaffen – nach einem Monat schickten sie ihn per Etappe wieder nach Haus.“

„Warum? Hat er denn etwas Böses getan?“ fragte Serjosha verständnislos.

„Böses oder nicht, davon rede ich nicht, sondern davon, daß man mit der Wahrheit vorsichtig sein muß. Ohne Paß herumzulaufen ist verboten – damit hat sich’s. Sonst würden alle die Arbeit hinwerfen und davonlaufen – man wüßte ja vor Vagabunden nicht mehr ein noch aus...“

Der Tee war ausgetrunken. Sie standen vom Tisch auf und beteten.

„Na, nun wollen wir ans Mittagessen gehen“, sagte die Wärterin. „Geh zur Mama, mein Herzblatt, und setz dich zu ihr; paß auf, bald wird auch der Herr Pfarrer mit seiner Frau kommen.“

Und wirklich, um zwei Uhr kamen Vater Pawel und seine Gattin.

„Ich werde jetzt nach der Wahrheit leben, ehrwürdiger Vater! Ich werde für die Wahrheit in den Kampf gehen!“ begrüßte Serjosha die Gäste.

„Da hat sich ja ein Krieger gefunden! So ein Knirps, und will schon in den Kampf!“ scherzte der Geistliche.

„Er fällt mir auf die Nerven. Seit der Messe spricht er von nichts anderem“, seufzte Marja Sergejewna.

„Das hat nichts auf sich, gnädige Frau, das ist so Kinderart, reden und vergessen.“

„Nein, ich vergesse es nicht!“ beharrte Serjosha. „Sie haben doch selbst heute früh gesagt, daß man nach der Wahrheit leben muß... In der Kirche haben Sie’s gesagt!“

„Dafür ist die Kirche da, um von der Wahrheit Zeugnis zu geben. Wenn ich, der Hirte, meine Pflicht nicht erfülle, würde die Kirche selbst an die Wahrheit gemahnen. Auch ohne mich ist jedes Wort, das dort gesprochen wird, Wahrheit! Nur ganz verhärtete Herzen können ihr gegenüber taub bleiben.“

„Und wie soll man leben?“

„Auch leben soll man nach der Wahrheit. Warte nur, bis du groß wirst, dann wirst du auch die Wahrheit im vollen Umfang begreifen lernen; einstweilen genügt für dich die Wahrheit, die deinem Alter angemessen ist. Liebe die Mama, habe Ehrfurcht vor dem Alter, lerne fleißig und sei bescheiden – das ist deine Wahrheit.“

„Aber die Märtyrer... Sie haben doch selbst gesagt...“

„Märtyrer hat es auch gegeben. Für die Wahrheit muß man auch Schmähungen ertragen. Aber für dich ist die Zeit noch nicht gekommen, darüber nachzudenken.“

„Die Märtyrer... Scheiterhaufen...“, stammelte Serjosha verwirrt.

„Genug jetzt!“ herrschte ihn die Mutter ungeduldig an.

Serjosha verstummte, blieb aber die ganze Mahlzeit über nachdenklich. Bei Tisch wurden die üblichen Gespräche über Dorfangelegenheiten geführt. Erzählungen gingen hin und her, und nicht immer konnte man aus ihnen klar entnehmen, daß die Wahrheit triumphiert hätte. Eigentlich gab es da weder Wahrheit noch Lüge, sondern nur das Alltagsleben mit dem gleichen Hin und Her, Für und Wider, wie es von alters her Brauch war. Serjosha hatte solche Gespräche unzählige Male mit angehört und noch nie besonders Anteil genommen. An diesem Tage aber war etwas Neues in sein Leben eingedrungen, das ihn aufwühlte und erregte.

„Iß!“ befahl die Mutter, als sie sah, daß er kaum etwas zu sich nahm.

„In corpore sano mens sana“, fügte Ehrwürden hinzu. „Gehorche der Mama – so beweisest du am besten deine Liebe zur Wahrheit. Man soll die Wahrheit lieben, doch ohne Not einen Märtyrer aus sich zu machen, das sieht eher nach Hochmut und Eitelkeit aus.“

Die abermalige Erwähnung der Wahrheit erschütterte den Jungen aufs neue. Er beugte sich über den Teller und versuchte zu essen, doch plötzlich brach er in Tränen aus.

Besorgt sprangen alle auf.

„Hast du Kopfweh?“ forschte Marja Sergejewna.

„Ja“, antwortete er mit kläglicher Stimme.

„Na, komm, leg dich ins Bettchen. Tantchen, bring ihn zu Bett!“

Serjosha wurde hinausgeführt und das Mittagessen für ein Weilchen unterbrochen, weil Marja Sergejewna es doch nicht aushielt und der Wärterin nachging. Schließlich aber kehrten beide zurück und erklärten, Serjosha sei eingeschlafen.

„Na, dann ist's ja gut. Er wird sich gesund schlafen!“ beruhigte Vater Pawel die Mutter.

Am Abend jedoch war es nicht besser geworden – im Gegenteil, Serjosha fieberte. Er schlief unruhig, setzte sich in seinem Bettchen auf und tastete mit den Händen um sich, als suche er etwas.

„Martyn... per Etappe... für die Wahrheit... was soll das?“ flüsterte er abgerissen.

„Von wem spricht er?“ wandte sich Marja Sergejewna ratlos an die Wärterin.

„Wissen Sie noch, bei uns im Dorfe gab’s doch einen Bauern, der von zu Hause fortging, in Christi Namen... Heute hat Grigorij davon erzählt, und Serjosha war dabei.“

„Immer müßt ihr dummes Zeug reden!“ sagte Marja Sergejewna ungehalten, „man darf den Jungen gar nicht zu euch lassen.“

Am nächsten Morgen nach der Frühmesse erbot sich Vater Pawel, den Arzt zu holen. Die Stadt war vierzig Werst entfernt, so daß man seine Ankunft erst am Abend erwarten konnte. Auch war der Arzt schon ziemlich alt und ein rechter Stümper, wandte kein anderes Mittel an als Opodeldok, das er äußerlich wie innerlich verschrieb. In der Stadt hieß es von ihm: „An die Medizin glaubt er nicht, aber an Opodeldok.“

Spätabends um elf Uhr kam der Arzt. Er untersuchte den Kranken, fühlte ihm den Puls und erklärte, er habe „ein bißchen Fieber“. Danach ordnete er an, den Patienten mit Opodeldok einzureiben, und gab ihm zwei Tabletten.

„Ein bißchen Fieber ist dabei, aber Sie werden sehen, Opodeldok bläst alles fort!“ versicherte er bieder.

Man gab dem Arzt Essen und Unterkunft. Serjosha aber warf sich die ganze Nacht in seinem Bette hin und her und brannte wie im Feuer.

Einige Male wurde der Arzt geweckt, wiederholte aber nur die Einreibungen mit Opodeldok und seine Versicherung, am Morgen würde alles wie fortgeblasen sein.

Serjosha lag in Fieberphantasien. „Christus... Wahrheit... Rassoschnikow... Martyn...“, stammelte er immer wieder und schlug mit den Armen um sich. „Wo? Wo?...“

Gegen Morgen beruhigte er sich und schlief ein.

Mit den Worten „Na, was habe ich gesagt?“ und der Begründung, in der Stadt warteten noch andere Patienten auf ihn, fuhr der Doktor wieder ab.

Der Tag verstrich zwischen Furcht und Hoffnung. Solange es draußen hell war, fühlte sich der Knabe wohler, war aber so matt, daß er kaum sprechen konnte. Mit Einbruch der Dämmerung kam das Fieber wieder, und der Puls wurde schneller. Marja Sergejewna stand stumm vor Angst am Krankenbett, bemühte sich zu verstehen und begriff doch nichts.

Den Opodeldok hatten sie fallenlassen. Tantchen tat Essigkompressen auf Serjoshas Köpf, legte Senfpflaster auf, gab ihm Lindenblütentee zu trinken, kurz und gut, sie wandte aufs Geratewohl alle Mittel an, die sie kannte und die zur Hand waren.

Am Abend begann die Agonie. Um acht Uhr ging der Vollmond auf, und da die Gardinen an den Fenstern versehentlich offen geblieben waren, zeigte sich an der Wand ein großer helleuchtender Fleck. Serjosha richtete sich empor und streckte die Händchen nach ihm aus.

„Mama!“ lallte er, „sieh doch! Ganz weiß... Christus... Da ist die Wahrheit ... Ihm nach... zu ihm...“

Er sank in die Kissen zurück, schluchzte kindlich auf und starb. Die Wahrheit war ihm erschienen und hatte sein ganzes Wesen mit Seligkeit erfüllt; doch das ungefestigte Herz des Kindes war dem Anprall nicht gewachsen und zersprang.