Maria und der Engel des Todes

aus: Georg Dreißig: Als Weihnachten beinahe ausgefallen wäre. Urachhaus, 2005.

Der Traum der Bettlerin

Als der Engel Gabriel der Maria erschien und ihr verkündigte, dass sie die Mutter von Gottes eigenem Sohn werden sollte, da versammelte sich der ganze Chor der Engel hell und lichtstrahlend um sie. Das himmlische Licht strömte in Marias Herz und machte sie froh und glücklich. Und auch als die Engel sie wieder verlassen hatten, fühlte sie in ihrem Inneren die große Freude. Welche Ehre widerfuhr ihr, dass sie die Mutter des Gottessohnes werden würde!

Dann merkte Maria plötzlich, dass sie nicht allein war. Als alle anderen En­gel sie verlassen hatten, war einer bei ihr geblieben. Maria erschrak heftig, als sie ihn betrachtete. Dieser Engel blickte ernst, und seine Gewänder und seine Flügel waren dunkel.

Maria schaute ihn schweigend an, dann fasste sie sich ein Herz und sagte: „Bist du schon hier, ehe das Kind geboren ist Engel des Todes?“
Der Blick des Engels schien noch ernster zu werden. Fast unmerklich nickte er: „Ich führe die Seelen über die Schwellen des Lebens. Ich bin der treue Gefährte jedes Menschen, sei er gleich jung oder alt.“
Als Maria diese Worte vernahm, war es ihr, als ginge ein Schwert durch ihr Herz. „Aber warum kommst du zu mir? Ich soll Gottes Sohn gebären“, erwiderte sie.
Und sie fühlte wiederum das Schwert, als der Engel antwortete: „Selbst der Gottessohn muss den Erdentod erleiden. Er wird geboren werden, um zu sterben.“
„Aber was hat das für einen Sinn?“, rief Maria, von Trauer um ihr ungebo­renes Kind erfüllt.
„Gott wird sterben, damit die Menschen ewig leben können“, erwiderte der Engel.

Da aber Maria den Sinn seiner Worte nicht fassen konnte, bedeutete er ihr, dass sie ihm folgen möge.

Sie gingen durch die Straßen von Nazareth. Die Häuser um sie her wurden immer ärmlicher, und Maria erkannte, dass der Engel sie in das Armen­viertel führte. Maria kannte dieses Viertel recht gut denn sie war selbst oft dorthin gekommen, um zu helfen, wo sie konnte. Warum führte der Engel sie gerade hierher? Was hatte das mit ihrem Sohn zu tun, mit dem Sohn Gottes, welcher der König von Israel sein würde?

Der Engel ging zu einer ärmlichen Hütte.

„Hier wollen wir hineingehen“, sagte er zu Maria, „beobachte alles und lau­sche gut, aber sag selbst kein Wort. Die Menschen können uns nicht sehen.“
Erstaunt folgte Maria dem dunklen Engel in den Schuppen. Drinnen war es dunkel, und ein schlechter Geruch hing in der Luft. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah Maria, dass der Raum fast ganz leer war. Nur in einer Ecke lag ein wenig Stroh, und auf dem Boden waren ein paar Lumpen. Auf dem Stroh lag eine alte Frau, die zu schlafen schien. Als aber der Engel und Maria eintraten, wurde sie unruhig und begann im Traum zu sprechen, doch konnte Maria die Worte nicht verstehen.
Was wollte der Engel hier? Er stand dort in der Mitte des Raumes und schien auf etwas zu warten.

Sie waren noch nicht lange in der Hütte, als Maria Fußtritte vernahm, und dann trat ein Mann in den Raum, der noch älter war als die alte Frau auf dem Strohlager. Sein weißer Bart war lang und zerzaust sein Gesicht run­zelig und verschmutzt doch seine Augen blickten sehr freundlich, wenn sie auch ermüdet schienen. Jedes Geräusch vermeidend ging er zu der schla­fenden Frau. Aber als er sie betrachtete, öffnete die Frau die Augen.

Der Alte kniete an ihrer Seite nieder. „Du siehst besser aus jetzt“, sagte er. „Der Schlaf hat dir gut getan. Nun musst du etwas essen, und dann wird alles wieder gut werden.“
Mit diesen Worten griff er nach einem Sack, den er mitgebracht hatte und der völlig leer zu sein schien. Ihn vor den Augen der Frau verbergend, nahm er ein kleines, altes Stück Brot heraus.

„Hier, nimm das“, sagte er und bot es der Frau an.
„Und was wirst du essen?“, fragte sie.
„Oh ich habe etwas anderes, etwas... “, erwiderte er.
Aber als sie ihn anschaute, schlug er die Augen nieder, und sie wusste, dass er die Unwahrheit sprach.
„Nein“, sagte die Frau, „ich brauche nichts mehr. Du musst essen, um stark zu werden.“
„Aber wenn du isst, wirst du wieder gesund werden“, versuchte der Mann sie zu überreden.

Seine Frau lächelte ihn an. Dann antwortete sie: „Ich brauche kein Brot, um gesund zu werden.“ Und nach einer Weile fügte sie hinzu: „Ich habe ihn in meinem Traum wiedergesehen.“
„Du hast den dunklen Engel wiedergesehen?“, fragte der Mann, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
„Ja“, erwiderte seine Frau einfach, „aber es hat mich nicht mehr erschreckt. Der Engel war nicht allein. Ein Kind begleitete ihn, das hatte leuchtende Augen und lächelte so süß. Es berührte die Flügel des dunklen Engels. Und da begannen sie plötzlich in allen Farben zu glänzen. Ich habe in meinem ganzen Leben nichts Schöneres gesehen.“
„Und jetzt bist du bereit, ihm zu folgen?“, fragte der Mann, während die Tränen ihm über die Wangen liefen.
„Seitdem ich das Kind gesehen habe, bin ich bereit ihm zu folgen“, erwi­derte seine Frau mit strahlenden Augen.

Der Engel winkte Maria, ihm zu folgen, und sie verließen die Hütte.

„Verstehst du?“, fragte der dunkle Engel, „verstehst du?“
Doch Maria schaute ihn an und sah nur seine dunklen Gewänder und Flügel.
Er ist der treue Gefährte meines ungeborenen Sohnes, dachte sie, wie kann ich das verstehen!
Wiederum traf sie der ernste Blick des Engels, dann war er plötzlich verschwunden. Maria stand allein auf der Straße.

Gedankenvoll fand sie den Weg nach Hause, doch konnte sie sich nicht deuten, was ihr begegnet war.

Der treue Narr

Immer wieder kehrten Marias Gedanken zurück zu jenem Kind, von wel­chem die Frau des Bettlers auf ihrem Totenlager gesprochen hatte. Das Kind hatte die Flügel des dunklen Engels berührt, und plötzlich hatten diese in allen Farben geglänzt, und die Frau hatte ihre Furcht vor dem Tod verloren.

Maria konnte das Kind nicht vergessen. War das Gottes Sohn? War es das, was der Engel sie lehren wollte? Und Maria merkte, dass sie sich wünsch­te, der Engel möge wiederkommen zu ihr, damit sie noch einmal mit ihm sprechen könnte.

Doch Maria musste sich gedulden. Erst als sie bereits mit dem Zimmer­mann Josef verheiratet war und das Kind unter ihrem Herzen wachsen fühlte, erschien der dunkle Engel ihr aufs Neue. Dieses Mal erschreckten seine dunklen Gewänder und Flügel sowie sein ernster Blick Maria nicht so sehr wie beim ersten Mal, aber auch jetzt war seine Erscheinung so erhaben, dass es ihr die Sprache verschlug.

Lange Zeit schwiegen sie. Dann fragte der Engel, wie er Maria gefragt hatte, als er sie verließ: „Verstehst du? Verstehst du?“

Plötzlich erinnerte sie sich der seltsamen Worte des dunklen Engels: Gott wird sterben, damit die Menschen ewig leben können. Sie hatte sie ver­gessen, weil sie versuchte, nicht an den Tod ihres ungeborenen Kindes zu denken. Jetzt aber erinnerte sie sich wieder an sie, und sie wusste, dass es außerordentlich wichtig für sie sein würde, ihre Bedeutung zu verstehen.

„Engel des Todes“, antwortete Maria, „noch immer verstehe ich deine Wor­te nicht, und ich begreife nicht, warum der Sohn Gottes sterben muss. Aber sage mir, war es mein Kind, das die Frau jenes armseligen Bettlers auf ihrem Totenlager gesehen hat und das sie so glücklich und zufrieden machte?“
„Es war dein Kind, Gottes Sohn“, erwiderte der dunkle Engel, und sein Blick schien etwas von seiner Strenge zu verlieren.
„Und wird es andere geben, denen geholfen werden wird und die durch ihn ihre Zuversicht erlangen?“
„Alle Verstorbenen werden durch ihn ihre Zuversicht gewinnen“, sagte der Engel, und seine Worte machten Maria glücklich.
Doch dann fühlte sie, dass der Engel noch etwas Weiteres sagen wollte, und obwohl sie nicht wusste, was es war, erschrak sie.

„Maria, kennst du den Namen jener Schwelle, die zu den Verstorbenen führt?“, hörte sie nun den Engel mit leiser Stimme fragen.
Maria nickte schwer. Fast unhörbar erwiderte sie: „Der Name jener Schwel­le heißt ‚Tod‘.“ Und Maria wusste, dass, weil sie es selbst gesagt hatte, sie nie mehr würde vergessen können, dass der Sohn Gottes, dass ihr eigenes Kind würde den Tod erleiden müssen.
So begann Maria die Lehren des dunklen Engels zu begreifen. Doch ihr Herz war von Trauer erfüllt.

Und wiederum bedeutete ihr der Engel, dass sie ihm folgen solle. Diesmal führte er sie in einen Palast. Sie durchschritten viele Räume; Maria hatte noch nie in ihrem Leben einen solchen Reichtum und Überfluss an Gold und Perlen, Juwelen und kostbaren Stoffen gesehen. Doch schienen ihr die Räume dennoch irgendwie leer zu sein. Dann erkannte sie, dass sie nicht einem einzigen Menschen begegnet waren. Der ganze Palast mit all seinem Reichtum schien vollkommen unbewohnt. Warum hatte der Engel sie hierher geführt? Bestimmt war es nicht wegen des Überflusses, denn der Engel schritt von Saal zu Saal, ohne Notiz von dem Reichtum zu nehmen.

Schließlich gelangten sie in eine große Halle. Es gab dort einen künstlichen Brunnen, und Blumen wuchsen darum herum. Stufen führten zu einer Terrasse, und auf der Terrasse stand ein Bett mit kostbaren Schnitzereien verziert doch mit einem dunkelblauen Vorhang verhangen. Auf den Stufen saß ein Mann, nicht jung und nicht alt, der in ein überaus farbiges Gewand gekleidet war. Als Maria und der dunkle Engel näher traten, sprach der Mann gerade zu jemandem, den Maria nicht sehen konnte.

„Jawohl, mein König, sie haben dich alle verlassen“, sagte der Mann, „alle, außer deinem Narren. Der sitzt immer noch auf deinen Stufen, um das Spiel zu Ende zu spielen. Er ist geblieben, doch seine Scherze sind nicht mehr lustig. Willst du ihm dennoch lauschen?“
„Sprich“, sagte eine schwache Stimme hinter dem Vorhang des Bettes.
„Gut also“, antwortete der Narr und stieg die Stufen hinauf, um sich direkt vor das Bett zu setzen. „Dann beantworte meine Fragen! Wenn ein Stein ins Meer geworfen wird, ist er dann verschwunden oder ist er immer noch vorhanden?“
„Er ist immer noch vorhanden“, antwortete die schwache Stimme.
„Und ein Schmetterling, wenn er die Puppe verlässt, ist er verschwunden oder ist er immer noch vorhanden?“
„Er ist immer noch vorhanden.“
„Und wenn eine Seele den Leib verlässt, ist nicht auch die Seele dann immer noch vorhanden?“, fragte der Narr lebhaft.

Für eine Weile herrschte Stille, dann sagte die schwache Stimme: „Betrüg mich nicht mit deinen Vergleichen.“

Der Narr, der sich mehr und mehr begeistert hatte, während er sprach, erschien auf einmal sehr müde und schwach. Er saß, ohne sprechen zu können, doch dann streckte sich sein Körper wieder, und, sich zum Bett hinwendend, fragte er: „Was scheint dir mehr wert zu sein: ein Wassertropfen oder ein Mensch?“
Und er lächelte zufrieden, als die schwache Stimme antwortete: „Ein Mensch natürlich.“
„Einverstanden“, rief er. „So höre die Geschichte vom Regentropfen. Bist du bereit?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, begann der Narr:

„Es war einmal ein Regentropfen, der fiel vom Himmel auf die Erde. Auf dem Weg traf er andere Regentropfen, und man entschied sich, gemeinsam zu reisen. So taten sie es auch, und fort ging die Reise. Unterwegs schlossen sich ihnen weitere Regentropfen an, bis sie schließlich ein ganzes Heer von Regentropfen waren. Sie nannten sich einen Fluss. Aber je mehr sie wurden, umso mehr Arbeit mussten sie auch leisten. Erst beförderten sie nur Blätter und Zweige, dann rollten sie Steine, schließlich mussten sie sogar Schiffe tragen. Auf diese Weise erreichte unser Regentropfen das Meer. Stimmst du zu, dass es ihn immer noch gab?“
„Ich stimme zu“, sagte die schwache Stimme, „fahr fort!“

„Eines Tages wurde unser Regentropfen an den Strand gespült. Er lag da und war recht erstaunt darüber, so allein zu sein. Dann geschah etwas Merk­würdiges. Die Sonne schien hell an jenem Tag, und plötzlich fühlte sich un­ser Regentropfen hinaufgehoben. Er traf andere, die dasselbe erlebt hatten. Sie sammelten sich und flogen über Land und Meer und schauten auf die Erde herab. Manchmal rief einer: ‚Hallo, seht den Fluss da! Dort habe ich mein erstes Boot getragen.‘ Oder ein anderer: ‚Könnt ihr jene Quelle dort sehen? Aus der bin ich einmal hervorgesprungen; es war sehr lustig.‘
So flogen sie über Land und Meer. Es war schön und warm, und alle hat­ten Freude an der Reise. Du weißt, dass ich von einer Wolke spreche. Aber meinst du, unser Regentropfen war noch vorhanden?“
„Natürlich“, erwiderte die schwache Stimme ungeduldig, „mach weiter!“

„Als sie eine längere Zeit so gereist waren, wurde es wieder kühler, und plötzlich hatte ihre Reise ein Ende. Sie fielen alle als Regentropfen auf die Erde, und auch unserem erging es so. Stimmst du zu, dass es immer noch derselbe Regentropfen war?“
„Ich stimme zu“, sagte die schwache Stimme, „aber fahre fort!“
„Es geht nicht weiter“, antwortete der Narr, „die Geschichte ist zu Ende, oder sie müsste aufs Neue beginnen. Der Regentropfen ist wieder ein Re­gentropfen geworden.“

„Warum hast du mir die Geschichte dann erzählt?“, fragte die schwache Stimme ärgerlich.

„Verstehst du nicht?“, antwortete der Narr. „Ich habe dir erzählt, was mit dem Regentropfen geschah. Alles, was ihm passierte, konnte ihn nicht völ­lig verschwinden lassen.“
„Und?“
„Sagtest du nicht, dass ein Mensch mehr wert sei als ein Wassertropfen? Wie kannst du dann meinen, dass dein Tod das Ende sein wird?“

Während Maria der Geschichte des Narren lauschte, hatte sie alles um sich her vergessen. Nun plötzlich fühlte sie die Berührung des dunklen Engels. Sie wandte sich ihm zu, und er flüsterte: „Schau dir seine Arme an!“
Da bemerkte Maria, dass die Arme des Narren vom Aussatz zerfressen wa­ren.
Der Engel machte ihr ein Zeichen, und sie verließen die Halle. Ohne ein Wort zu sagen, gingen sie durch all die reichen Säle des Palastes.

Erst nachdem sie das Schloss wieder verlassen hatten, fragte der Engel: „Hast du die Arme des Narren gesehen?“
Maria nickte: „Es ist der Aussatz. Er wird nicht mehr lange zu leben haben. „Er hat die Krankheit seines Königs“, sagte der Engel, „er allein ist bei ihm geblieben; als alle anderen geflohen sind, ist er allein treu geblieben.“
Bei diesen Worten schrak Maria zusammen, denn sie erinnerte sich daran, dass der dunkle Engel sich selbst ihr gegenüber der treue Gefährte jedes Menschen genannt hatte.
Der Engel aber schien keine Notiz davon zu nehmen. Er fuhr fort: „Wenn ein Mensch so treu sein kann wie dieser Narr, treu bis in den Tod, muss Gott seinen Geschöpfen dann nicht noch treuer sein? Kann er allein bleiben, was er ist, wenn er alle Wesen in die Verwandlung schickt?“
Und Maria verstand, dass das wiederum hieß, dass ihr Kind würde sterben müssen. Doch sie fühlte auch, dass der Tod etwas anderes wäre, als sie bis­her gedacht hatte.

Als sie aufschaute, um den Engel zu fragen, was das Sterben wirklich sei, hatte er sie verlassen, und sie stand vor ihrem Haus in Nazareth.

In den Verliesen des Herodes

Niemals zuvor hatte Maria jemanden so über den Tod sprechen hören, wie der Narr es getan hatte. Bedeutete das Sterben also nicht das Ende des Seins, nicht ein Hinabsinken in Dunkelheit und Bewusstlosigkeit? Wenn aber nicht das, was war er dann?

Je länger Maria über diese Frage nachsann, umso sicherer fühlte sie, dass die Antwort darauf das Rätsel über das Leben des Sohnes Gottes ebenfalls lösen werde. Sie wagte nicht, darüber zu irgendjemandem zu sprechen, doch hoff­te sie, dass der dunkle Engel noch einmal zu ihr kommen möge. Im Grunde war sie sich sogar recht sicher, dass sie ihn wiedersehen würde.
Und so war es auch. Der Winter stand schon bevor, da erschien der dunkle Engel Maria wiederum und bedeutete ihr, ihm zu folgen.

Diesmal ging Maria gern mit ihm. Als sie aber erkannte, wohin er sie führte, erschrak sie, denn das war ein Ort, von dem sie bisher nur die schreck­lichsten Geschichten gehört hatte: die Verliese des Königs Herodes. Diese waren in den Berg hineingebaut. Sechs Wächter bewachten das schwere Eisentor. Aber auf ein Zeichen des dunklen Engels hin öffnete sich das Tor, und sie konnten eintreten. Die Wächter schienen zu schlafen; sie bemerkten nichts.

Das schwere Tor schloss sich hinter ihnen. Doch nun konnte Maria nicht weitergehen, denn es herrschte schwarze Dunkelheit um sie her. Als aber ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, bemerkte sie, dass ein zarter Lichtschein von dem Engel ausging. Sie folgte diesem Licht mit klopfendem Herzen.

Sie gingen durch lange Gänge, an eisernen Türen vorbei, und dann stiegen sie auf steilen Stufen tiefer und tiefer in die Verliese hinab. Der Fels war feucht, die Luft muffig. Was Maria aber vor allem Furcht einflößte, das war die Stille um sie her. Sie hörte keinen einzigen Laut als das Klopfen ihres Herzens. Lange Zeit wanderten sie durch diese Stille. Dann hielt der Engel plötzlich inne. Der Gang war hier zu Ende, und sie standen vor einer jener eisernen Türen, von denen es hier unten so viele gab.
Wieder machte der Engel ein Zeichen, die Tür öffnete sich, und er ging in die Zelle hinein. Maria folgte ihm.
Jetzt standen sie in einem Raum, der kaum vier Schritte in der Länge und noch weniger breit war. Die Decke war so niedrig, dass Maria sie leicht mit den Händen hätte berühren können, und die Wände waren rau.

Dann sah sie den Gefangenen auf der nackten Erde liegen. Er trug ein grobes Gewand, und sein weißes Haar war lang gewachsen. An einem Bein war er mit einer Eisenkette an den Fels geschmiedet. Er schlief nicht, sondern warf sich unruhig hin und her. Wer war dieser arme Mann, der in der Dunkelheit der Erde leben musste und nie die Sonne zu sehen bekam?
Als hätte der dunkle Engel ihre Frage verstanden, flüsterte er: „Es ist Perez.“

Maria konnte seinen Worten kaum glauben. Perez? Das war ein junger Mann, der vor beinahe drei Jahren versucht hatte, König Herodes zu töten wegen der vielen Gewalttaten, die der König seinem Volk angetan hatte. Sein Dolch war am Kettenhemd des Königs, welches dieser Tag und Nacht trug, abgeglitten, und die Diener hatten Perez überwältigt. Eigentlich hatte er gekreuzigt werden sollen. Aber viele Menschen hatten um sein Leben gefleht, denn Perez hatte eine Frau und drei Kinder. Obwohl Herodes ge­wöhnlich nicht auf die Bitten der Menschen hörte, tat er es diesmal doch. Als er aber zustimmte, dass Perez am Leben bleiben sollte, hatte er einen bösen Glanz in den Augen. Dann war Perez in den Verliesen des Königs verschwunden, und niemand hatte wieder von ihm gehört. Schließlich meinte jeder, dass Perez gestorben sein müsse.

Und nun stand Maria vor ihm, doch als sie ihn betrachtete, konnte sie ihren Augen kaum trauen. Perez war ein junger Mann gewesen, dieser aber sah beinahe aus wie ein Greis. So sehr hatte er sich verändert in den Jahren in der Dunkelheit und der Einsamkeit.

Auf einmal begann der Gefangene leise zu singen. Es war das Lied von Daniel in der Löwengrube. Maria lauschte dem Gesang, als hätte sie nie zuvor etwas Entsprechendes gehört.

Plötzlich hörte man ein Geräusch vor der Tür. Jemand kam den Gang ent­lang, die Fußtritte verhallten, und dann hörte Maria einen Schlüssel im Schloss. Der Riegel wurde beiseite geschoben, und die Tür öffnete sich. Ein Wärter, in der Hand eine Laterne, trat ein. Es war ein alter Mann, der freundlich und geduldig aussah. Er brachte einen Laib Brot und einen Krug mit Wasser und stellte beides neben dem Gefangenen auf die Erde.
Perez lag steif und unbeweglich da, die Augen hatte er geschlossen. Dennoch hörte er, was vorging. Schließlich seufzte er tief und stöhnte: „Musst du immer wieder kommen? Dein Brot und Wasser sind die schlimmsten Ketten, denn sie fesseln mich ans Leben. Warum kannst du mich nicht allein lassen?“
„Weil ich für dein Leben verantwortlich bin“, erwiderte der alte Mann sanft, „das weißt du doch.“

Sie schwiegen eine Weile. Dann fragte Perez: „Hast du Nachricht von mei­ner Frau und den Kindern?“
Der Wärter bückte sich zu dem Gefangenen hinab und antwortete zögernd: „Ich habe noch nichts von ihnen gehört, da Herodes sie des Landes verwie­sen hat. Doch will ich meine Nachforschungen fortsetzen. Du wirst bald von ihnen hören.“ Und achselzuckend fuhr er fort: „Ich muss nun gehen. Halt aus, Perez. Die Lage kann sich jeden Tag ändern.“

Er nahm seine Laterne und ging. Die Tür wurde wieder geschlossen und verriegelt. Als Maria den Schlüssel im Schloss hörte, fühlte sie sich, als wäre sie selbst eingesperrt worden. Doch wiederum machte der dunkle Engel ein Zeichen, und sie konnten die Zelle verlassen.

Als sie hinausgingen, hörte Maria, wie Perez murmelte: „Die Lage kann sich jeden Tag ändern. Kann sich ändern. Aber wird sie sich ändern? Wird sie sich ändern? Wann wird sie sich ändern?“

Wiederum stiegen sie die steilen Stufen hinauf und folgten den langen Gängen, und dann gingen sie an den Türhütern vorbei, ohne gesehen zu werden.

Sobald sie die Verliese hinter sich gelassen hatten, sagte Maria bitter: „Und du nennst dich der treue Gefährte jedes Menschen. Warum hilfst du ihm nicht? Er wartet auf dich.“
„Die Zeitpunkte von Geburt und Tod sind festgelegt“, erwiderte der Engel. „Ich kann kein Leben verkürzen, wie ich auch keines verlängern kann. Und glaubst du denn wirklich, dass der Tod seine Lage sehr verändern würde?“
Sein Blick wurde sehr ernst als er fortfuhr: „Hast du gehört, was der Wärter sagte?“
„Er sagte, dass die Lage sich jeden Tag ändern könne“, erwiderte Maria. „Aber wird sie sich ändern? Wann wird sie sich ändern?“, wiederholte sie Perez‘ Frage.

„Die Lage wird sich ändern“, sagte der dunkle Engel, „die Toten werden die Ersten sein, die das Licht sehen. Sie werden denjenigen finden, der sie zu neuem Leben führt. Aber noch nicht, Maria, noch nicht.“
„Und wann wird dieser Wandel der Zeiten sich ereignen?“, fragte sie, „wann werden die Verstorbenen nicht mehr in Dunkelheit sinken? Wann werden Licht und Leben nach dem Tod ihrer warten?“
„Erinnere dich an die alte Frau des Bettlers“, antwortete der Engel, und auf einmal leuchteten seine Augen. „Erinnere dich an ihren Traum. Wenn meine Flügel in allen Farben zu glänzen beginnen, dann werden sich die Zeiten wandeln.“

Mit diesen Worten entschwand der dunkle Engel Maria, und sie fand sich wieder allein vor ihrem Haus in Nazareth.

Auf dem Weg nach Bethlehem

Maria und Josef waren auf dem Weg nach Bethlehem. Es war Winter; die Straßen waren von Eis und Schnee bedeckt, und sie mussten gegen einen kalten Wind ankämpfen. Jahrelang hatte es keinen solch bitteren Winter mehr gegeben. Josef schützte seine junge Frau so gut er konnte gegen Wind und Schnee, doch konnte er sie nicht vor der beißenden Kälte schützen, und er fürchtete um ihr Leben und um das Leben ihres Kindes.

Doch Maria merkte, während sie wanderten, dass sie überhaupt nicht ängstlich war. Nicht nur Josef beschützte sie. O nein, sie wusste von einem anderen treuen Gefährten, von einem Gefährten, den sie nicht einmal im Tod verlieren würde. Sie hatte den dunklen Engel nicht mehr gesehen, seit sie in den Verliesen des Herodes gewesen waren, doch fühlte sie ganz si­cher, dass er ihr immer noch zur Seite war, sie behütete und führte, und sie hatte gelernt, sein treues Geleit zu schätzen.

Plötzlich hielt Josef inne. Mit seinem Stab wies er in die Ferne, und Maria sah, dass dort jemand neben der Straße im Schnee saß.
„Der ist verloren, wenn er sich nicht mehr erheben kann“, sagte Josef, und sie gingen schneller.
Als sie näher kamen, konnten sie einen alten Mann erkennen. Sein Bart war weiß und zerzaust, seine Augen geschlossen. Er zitterte vor Kälte und Fieber.
Als sich Maria zu ihm hinabbeugte, sah sie, dass es der alte Bettler war, den sie in seiner ärmlichen Hütte besucht hatte.

„Guter alter Mann“, rief sie, „steht auf, sonst wird die Kälte Euch töten.“
Der Alte öffnete nicht einmal seine Augen, schüttelte nur den Kopf. War er zu schwach, um sich zu erheben?
„Kommt, lasst es uns versuchen. Ich stütze Euch“, bot Josef nun an. Doch wieder schüttelte der Alte den Kopf.
„Aber Ihr könnt hier im Schnee doch nicht sitzen bleiben“, sagte Maria, „wir können Euch nicht in Eis und Schnee lassen.“

Langsam öffnete der Bettler seine Augen und schaute sie voller Verzweif­lung an.
„Achtet nicht auf mich“, murmelte er. „Niemand hat sich jemals um mich gekümmert. Geht Eures Weges, und lasst mich sterben.“
„Aber Ihr hattet doch eine Frau“, sagte Maria.
„Ja“, erwiderte er und nickte bedächtig. Dann fügte er hinzu: „Sie ist fort. Sie war gut zu mir, sie war treu. Aber nun? Nichts. Fort.“
„Und jetzt wollt Ihr ihr folgen?“, fragte Maria.
„Ihr folgen? Ich will sterben“, antwortete der Bettler, „ich will vergessen können, sie, mein armes Leben, alles. Ich will ganz einfach nichts sein. Ver­steht Ihr: nichts.“
„Aber Ihr werdet niemals nichts sein“, rief Maria, indem sie bedachte, was sie von dem Narren gelernt hatte. „Ihr seid Gottes Geschöpf, und deshalb werdet Ihr immer sein.“

Dann ergriff sie den Arm des Alten und befahl: „Steht jetzt auf. Für Euch ist die Zeit zu sterben noch nicht gekommen.“
Das sagte sie so bestimmt, dass der alte Bettler ihr gehorchte. Mit Josefs und Marias Hilfe erhob er sich. Er schaute recht erstaunt drein, als er sich wie­der auf seinen Füßen fand. Doch dann schüttelte er den Schnee von seinem Umhang und begann, langsam mit ihnen zu gehen. Er war aber so schwach, dass Josef ihn stützen musste.

Sie wanderten schweigend miteinander.
Der Wind war stärker geworden und verschlug ihnen jedes Wort. Bald er­reichten sie ein Dorf, schauten sich nach einem Gasthof um und klopften an. Die Tür wurde von einer Frau mit einem freundlichen roten Gesicht geöffnet.

„Kommt herein, ihr Leute“, rief sie, als sie die halb erfrorenen Gestalten sah, und führte sie in einen Raum, in dem ein Ofen Wärme spendete.
„Wir wollen uns nur für einen Augenblick ausruhen“, sagte Josef.
Doch die Frau schüttelte den Kopf: „Nein, ihr müsst hier bleiben“, erklärte sie. „Der Wind ist viel zu kalt. Er wird euch töten, euch und euer ungebore­nes Kind. Morgen ist Zeit genug zu reisen.“
Sie hatte Recht. Alle waren sie erschöpft, und der Bettler konnte gewiss kei­nen Schritt mehr weitergehen. Er wurde sofort zu Bett gebracht und schlief auf der Stelle ein. Doch nach einer Weile wurde er unruhig, und als Maria seine Stirn berührte, fühlte sie sich heiß an. Er war offensichtlich sehr krank und würde eine längere Zeit der Ruhe brauchen.

Am Morgen hatte der Bettler immer noch Fieber. Doch war er wach. Er er­zählte Maria und Josef, dass er einen Traum gehabt hätte, in dem ihm seine Frau wieder erschienen wäre. Alles sei so deutlich gewesen, dass er sich sogar an ihre Worte erinnern könne.
„Sie sagte zu mir: Du wirst das Kind treffen, das die Flügel des dunklen Engels berührt und mir die Furcht vor dem Sterben genommen hat. Dank ihm in meinem Namen und gib ihm das goldene Büchslein.“
Als der Mann von seinem Traum erzählte, begannen seine Augen zu strahlen. „Sie sah ganz lebendig aus“, sagte er, „und es war ein Engel bei ihr.“

Eine Weile sann er still nach, dann fügte er bedächtig hinzu: „Sie hatte selbst Flügel, große, leuchtende Flügel.“
Darauf zog er vorsichtig das Büchslein aus seinem Umhang hervor, von dem er gesprochen hatte. Es war ein schmutziges kleines Kästchen, das überaupt nicht golden aussah. Er betrachtete es schweigend, dann streckte er die Hand aus und gab es Maria.
„Nimm es. Ich bin krank und werde vielleicht nie wieder aufstehen können. Findet das Kind für mich, das Kind, welches die Sterbenden tröstet, und gebt ihm das Büchslein. Wollt ihr das für mich tun?“
„Ja, das wollen wir“, erwiderte Maria bewegt und nahm die erste Opferga­be für ihr Kind in Empfang.
Da war der Bettler zufrieden, schloss die Augen und schlief wieder ein.

Maria und Josef verließen ihn leise. Sie wollten der Frau, welche sie aufge­nommen hatte, Dank sagen. Doch als sie nach ihr schauten, fanden sie in der Küche einen grimmig dreinblickenden Mann.
„Ihr müsst zahlen“, sagte der, „dies ist ein Gasthof, kein Armenhaus.“
„Wir werden zahlen“, antwortete Josef ruhig, „was sind wir Euch schul­dig?“
Und er bezahlte, was der Wirt von ihnen verlangte, sowohl für sie selbst als auch für den Bettler.
Dann sagte er: „Der Alte, der mit uns gekommen ist, ist sehr krank. Er kann die Reise mit uns nicht fortsetzen. Könnt Ihr Euch um ihn kümmern?“
„Aber ihr müsst zahlen“, war die Antwort, „sonst werfe ich ihn hinaus.“ Wieder öffnete Josef seine Börse und bezahlte die Summe.
„Wir werden kommen und nach ihm schauen, wenn wir auf dem Heimweg sind“, sagte er.
Dann verließen sie den Gasthof.

Am Dorfrand stand die Frau des Wirtes und wartete auf sie.
„Sorgt euch nicht“, sagte sie. „Mein Mann ist ein roher Mensch. Aber ich will mich um euren alten Freund kümmern, bis ihr zurückkehrt.“
An diesem Abend erreichten sie Bethlehem. Doch sie konnten keine Her­berge finden. Es gab kaum noch Zimmer um Bezahlung. Da aber Josef all ihre Ersparnisse für den alten Bettler ausgegeben hatte, mussten sie sich damit zufrieden geben, in einem Stall unterzukommen, wo sie zumindest vor dem kalten Wind geschützt waren. So war es ein Stall, in dem Maria ihren Sohn gebar.

Als das Kind geboren wurde, versammelte sich der ganze Chor der Engel hell und lichtstrahlend um die Krippe. Unter ihnen aber war einer, dessen Flügel in allen Farben glänzten. Als Maria ihn sah, wurde ihr Herz von Freude erfüllt. Die Zeiten hatten sich gewandelt. Nicht länger würde mehr Finsternis nach dem Tode walten. Von nun an sollten Licht und Leben für immer herrschen.