Er sieht in einen dunklen Raum

von Manfred Hausmann, aus: Maria Rathmann: Wir wandern zur Krippe. Evangelische Verlagsanstalt, 1962.


Nach dem Tee stellt Andreas seinen Malkasten und die kleine, altertümliche Eisenbahn, die er aus Holz erbaut hat, auf das abgeräumte Tischchen, und Isabel setzt sich mit ihren Nähsachen dazu. Die Lokomotive mit dem dünnen, oben in eine Zackenkrone auslaufenden Schornstein soll schwarz und golden und die Reihe der postkutschenartigen Wagen gelb, grün und rosa bemalt werden. Es handelt sich um ein Weihnachtsgeschenk für Martin.
Draußen fällt schnell die Dämmerung ein. Die verschneiten Sträucher und Bäume des Gartens weichen zurück und vergehen. Dann und wann treibt ein Flockenwirbel durch den Lichtschein des Fensters und weht mit weichem Tupfen an die Scheibe.

„Erzähl mal weiter!“ sagt Isabel. Sie hebt eine Nadel gegen die Lampe und drängt das gezwirbelte Ende eines Fadens durch das Öhr. Dann schiebt sie ihre Unterlippe mit dem Mittelfinger hin und her und denkt über etwas nach. „Ob ich nicht doch lieber einen grauen Faden nehme? Grau oder Blau? Womit näht man diesen Saum nun am besten?“
Andreas ist für Blau. „ich würde dieses blasse Blau nehmen!“
„Meinst du?“ Zögernd zieht sie den Faden wieder aus der Nadel und wählt einen anderen. „Also du kamst in den Laden. Und da?“

„Und da war Buko schon drin. Er hatte den Mantelkragen hochgeklappt. Du weißt ja, wie er es immer so macht, die Enden so übereinandergelegt, daß er sie mit dem Kinn festhalten kann. Und rasiert war er auch nicht. 'Wenn ich bitte eine Schachtel Lichter haben könnte, gelbe', sagte er. Und Reye mit seinem Bleistift hinterm Ohr brachte die Schachtel herbei und fragte ihn, was er als Kunstmaler denn davon halte, seine Frau wolle den Baum diesmal ganz in Natur schmücken, nur so den Baum und dann weiße Kerzen auf den Zweigen, ganz in Natur sozusagen. Aber Buko antwortete nur 'Hm' und verlangte goldene Flitterschnüre und dann zwei Lebkuchenherzen und dann eine kleine Kindertrompete. Und Reye immer zuvorkommend mit 'Bitte sehr!' und 'Darf es sonst noch etwas sein?', wie Reye so ist. Und mit einem Male brach es aus ihm heraus .

„Aus Reye? Ich denke Buko...“

„Aus Buko natürlich. Er beugte sich über den Ladentisch und sah Reye scharf in die Augen. Sein Mantelkragen öffnete sich, man konnte sehen, daß er ein Hemd ohne Kragen anhatte. Aber das war ihm ganz gleich. Er stampfte mit der Faust auf den Tisch, so von oben mit den Knöcheln, und dann brach es aus ihm heraus: 'Hören Sie mal, Sie haben mich aber enttäuscht, Herr Reye!' - 'Ich?' - 'Sie, jawohl! Bislang habe ich Sie nämlich für einen Mann gehalten, der das Herz auf dem rechten Fleck hat. Ja, Fleutjepiepen!' - Reye wußte gar nicht, wie ihm geschah. Er wollte etwas sagen, aber Buko ließ ihn überhaupt nicht zu Worte kommen. - 'Hören Sie mal', sagte er, 'in jedem Jahr sind Sie beigegangen und haben ein Weihnachtsschaufenster errichtet mit einem kleinen Tannenbaum, mit einem kleinen Nikolaus, mit einer kleinen Kirche, die innen erleuchtet war, das haben Sie immer sehr stimmungsvoll hingekriegt, und dann der glitzernde Schnee und der Weg aus Rosinen und alles, sehr stimmungsvoll. Und wie haben die Kinder sich darüber gefreut! Und ich selbst auch. Wenn Ihr Weihnachtsschaufenster erschien, dann fing für mich die Vorfreude auf das Fest an. Ich bin immer stehengeblieben und habe es mir betrachtet und ein freundliches Gefühl dabei gehabt. Sieh einer an, habe ich gedacht, Reye hat das Herz auf dem rechten Fleck, er vergißt die Kinder nicht. Aber in diesem Jahr! Wollen wir mal vor die Tür gehen und Ihr Schaufenster besichtigen? Wollen wir mal nachsehen, was für eine Weihnachtsstimmung Sie den Kindern in diesem Jahr beschert haben? Kaffeetassen, Milchtöpfe, Weingläser und ein Bowlengefäß. Hören Sie mal, es ist eine Schande wert. Man müßte Ihnen einfach die Fensterscheiben einwerfen. Tatsächlich, das müßte man.' -

Aber unser Reye war auch nicht auf den Mund gefallen. 'Gewiß', sagte er, 'der Weihnachtsmann, die Kirche, der Schnee, gewiß.' Aber man sei ja schließlich Geschäftsinhaber. Und wenn man sich neuerdings entschlossen habe, auch Glaswaren und Porzellan zu führen, dann müsse man den Leuten ja etwas vor Augen breiten, damit es sich herumspreche. Man habe es heutzutage ja nicht einfach als Geschäftsinhaber, das wolle er ihm gerne schriftlich geben. - Und dann ging Buko wieder gegen ihn an und nannte ihn einen Pfennigfuchser, und er habe den Adventssonntag und das Kinderglück für dreißig Silberlinge verraten. Und so redeten sie hin und her, bis Reye mit seinem Bleistift auf den Ladentisch tippte und fragte, ob er sonst noch Wünsche habe. Allerdings, Buko wollte noch ein kleines Segelschiff erwerben. Er stand immer noch vorgebeugt da und durchbohrte Reye mit seinen drohenden Blicken. Einen Augenblick schielte er in seinen Tabaksbeutel, aus dem er zwei Scheine holte und auf den Tisch warf, dann starrte er Reye wieder an. Aber Reye behält ja immer seine Besonnenheit.“

„Tut er auch!“ Isabel nickt nachdrücklich mit dem Kopf. „Ich komme immer gut mit ihm aus. Nichts gegen Reye! Aber auch nichts gegen Buko! Er ist ja doch der Beste von allen. Schade, daß er sich so zurückhält. Ich muß immer an seine treuen Augen denken ... und überhaupt. Und da?“

„Da stopfte Buko seine Siebensachen in einen alten Rucksack und brummte, alles was recht sei, aber das sei nicht recht. Und in der Tür drehte er sich noch einmal um und rief: '­Gesegneten Handel, Herr Geschäftsinhaber!' Reye lachte jedoch nur mit seinen gelben Zähnen und fragte mich, was es heute denn sein solle. 'Sie kennen ihn ja auch', sagte er. 'Ich nehme ihm das weiter nicht übel, Künstler! Wenn ich gleich ein paar Tannenzweige mit Lametta zwischen die Gläser stelle, versöhnt er sich morgen, ach was, heute abend schon wieder mit mir.'“

Isabel wirft ein, das wisse sie ja nun doch nicht. So sei Buko eigentlich nicht. Ein anderer tue es vielleicht, aber Buko nicht. „Hm. Ich gäbe ja doch etwas darum, wenn ich wüßte, was er mit den Sachen im Sinn hat. Will er sie für seinen Baum verwenden? Ich glaube es nicht. Er hat irgend etwas Besonderes im Sinn.“

„Würdest du entrüstet auffahren, wenn ich durchblicken ließe, daß ich dich in meinem Innern der Neugierde bezichtige?“
„Bin ich auch! Wenn es sich um Buko handelt, bin ich auch neugierig!“
„Ich übrigens gleichfalls. Und da ich mir sowieso noch etwas Krapplack von ihm ausbitten wollte, werde ich nachher auf dem Wege zur Post einmal bei ihm vorsprechen!“
„Das tu nur. Denn eine Kindertrompete... Was will er zum Beispiel mit einer Kindertrompete anfangen?“ 


Zuerst meint Andreas, es schneie nicht mehr. Aber dann fühlt er, daß ein feines Geprickel gegen sein Gesicht weht. Es kommt ihm so vor, als seien die Flocken körniger geworden. Wahrscheinlich ist Kälte im Anzug. Noch sieht der Himmel allerdings dumpf und schwarz aus. Kein Stern zeigt sich. Aber auf der Schneefläche liegt ein Hauch von Dämmerlicht, so daß er die Fußspuren, die den Weg bezeichnen, ganz gut erkennen kann. Im Dorf fällt da aus einer halboffenen Stalltür ein rötlicher und dort aus einem verhängten Fenster ein gelblicher Schein auf den Schnee. Vermummt und vornübergebeugt schlürfen die wenigen Menschen dahin, die jetzt noch unterwegs sind. Die Flocken sin­ken auf sie nieder und ersticken jedes Geräusch. Nur ein paar Kinder, die Andreas gleitend und laufend überholen, durch­brechen mit ihrem aufgeregten Gespräch und dem gedämpften Klappklapp ihrer Holzschuhe die Stille. Er erkennt die Stimme von Meta Wendelken.

„Jo, jo, sowat hes dien Lebtach noch nich sehn. - Wo is Jan denn? Jaahan!“
,Minsch, du lochs jo!“ ruft ein Junge.
„Och, un de flächt do jümmer boben rom. Wunnerbor, kann eck di seggen, - Jan!“
„Richtige Engels? Du lochs jo!“
„Un'n Schipp in'n gollenen Woter, un ne Poppe, wunnerbor, un so'n Kerl mit'n gaanz gräsigen Mund, un de Engels, de flächt do jümmer rom!“
„Minsch, dat kann jo woll nich angohn.“
„Kumm man her! - Wo bliewt Jan denn all wedder? Jan!“

Der kleine Jan klappert nölend und schnüffelnd hinterher. Bei der Post biegen sie in den Heckenweg ein, der zum Redder hinunterführt. Andreas wirft seine Briefe in den Kasten und folgt ihnen. Buko wohnt ja auch im Redder, und es soll ihn wundern, wenn der Kerl mit dem gräsigen Mund und das Schiff und die Engel nicht irgendwie mit Bukos Einkäufen zusammenhängen.

Wie er ungefähr bei Bäcker Monsees ist, kommt Bukos Häuschen in Sicht, das etwas zurückliegt. Er hat sich nicht getäuscht: im Vorgarten wimmelt es von Kindern, über die sich ein weicher Glanz aus dem erleuchteten Atelierfenster ergießt. Auch einige Erwachsene stehen an den Seiten und beugen sich gegen die Helligkeit vor. Langsam geht Andreas näher heran. Was hat Buko da denn um Himmels willen vollbracht! Wie ein Traum schwebt es mit Buntheit und zartem Geglitzer hinter der Scheibe. Vorn auf der Fensterbank liegen sieben Äpfel, in denen brennende Kerzen stecken. Dahinter erhebt sich auf einem herangerückten Tisch, über den Buko ein verschossenes grünes Tuch gebreitet hat, eine unwirkliche Märchenwelt. Vor allen Dingen steht da eine Pyramide aus drei mit Silberpapier umwickelten Holzstäben, auf deren Spitze ein dunkelblaues Flügelrad sich langsam in der aufsteigenden Wärme mehrerer Kerzen dreht. Unter den Flügeln hängen an kaum sichtbaren Fäden fünf schräg geneigte Rauschgoldengel mit großen, blauen Flügeln, die still durch die Luft gleiten, während unten in einer moosigen Landschaft drei Hirten inmitten einer Heidschnuckenherde, deren Wollzotteln bis auf die Erde fallen, mit erhobenen Armen zu ihnen emporstarren.

Am anderen Rande des Tisches bilden aufgeschichtete Bücher eine Art von Bergrücken. Dahinter steigt das grüne Tuch zu einer Staffelei hinauf, die den Schauplatz gegen das Zimmer abschließt. Rechts auf dem Felsen sitzt eine altmodische Puppe in brüchiger Seide und Goldgespinst und lächelt mit ihrer Spielzeugunschuld ins Leere. Zu ihren Füßen wiegt sich auf den Wellen einer hin und her geschlungenen Flitterschnur ein Vollschiff mit geblähten Segeln. Auf der anderen Seite zeigt ein grimmiger König Nußknacker, dessen frisch aufgetragene Farben feucht erglänzen, seine Zähne. Der Hampelmann hingegen, der sich, an einem Flitterfaden frei im Raum schwebend, über dem Schiff bald nach rechts und bald nach links wendet, lacht übers ganze Gesicht, wiewohl er in der einen Hand einen gebogenen Säbel und in der anderen eine Pistole mit trichterförmig sich erweiterndem Lauf hält und mit seinem fransenbesetzten Anzug aus metallischem Glanzpapier, seinen Stulpenstiefeln und seinem Federhut offensichtlich einen Räuberhauptmann abgibt. Teils höher als er, teils tiefer drehen sich, ebenfalls an Flitterfäden hängend, zwei Lebkuchenherzen und eine Trompete mit hellgrüner, silberdurchwirkter Schleife gemächlich um sich selbst. Die Lichter brennen, ohne zu flackern, lautlos kreisen die Engel in wechselnder Beleuchtung, das Flittergold fängt den Kerzenschein auf und wirft ihn vielfältig gebrochen zurück, und in der Christbaumkugel, die mitten auf dem Flügelrad angebracht ist, erscheint die dämmerige, langsam sich bewegende Welt noch einmal, nur ganz klein und in seltsam gebogenen und abgewandelten Verhältnissen.

Da sollen die Kinder wohl Mund und Nase aufsperren. Sie schieben sich so nahe wie irgend möglich an das Fenster heran und flüstern und rufen durcheinander. Die Vordersten müssen von Zeit zu Zeit den Hauch wegwischen, den ihr Atem auf der Scheibe entstehen läßt. Ein kleiner Junge, der seine Pudelmütze tief über die Augen gezogen hat, tappt mit seinen ungeschickten Fingern immer wieder in der Richtung des Segelschiffes gegen das Glas und singt selbstvergessen vor sich hin, das wolle er „to Wienacht hebbn“.

Andreas sieht seitwärts an der Staffelei vorüber in die Tiefe des dunklen Raumes, wo er Buko irgendwo vermutet. Dabei überlegt er sich, ob es unter diesen Umständen eigentlich angebracht sei, zu ihm hineinzugehen. Ist er denn überhaupt zu Hause? Er kann ihn nirgends entdecken. Doch, zu Hause muß er wohl sein. Er darf die Kerzen doch nicht sich selbst überlassen. Oder sollte er das Schattenhafte sein, da rechts, diese verwischte Stelle im Hintergrund? Andreas schirmt den Lichterglanz mit der Hand ab und beugt sich etwas vor. Ja, es ist Buko. Er sitzt unbeweglich in seinem alten Ohrensessel, raucht eine Pfeife und betrachtet die Kinder. Nachdem Andreas sich an die Dunkelheit gewöhnt hat, erkennt er ihn. Eine Welle der Zuneigung flutet durch ihn hindurch. Bukos Gesicht ist zerfurcht und gedankenvoll. Er lebt so einsam wie keiner sonst. Was er an Hab und Gut sein eigen nennt, ist kaum der Rede wert. Andreas weiß, daß er zuweilen bei einer Flasche Rotwein die Nacht durchwacht. in seinem Atelier urnhergeht und mit sich selbst Zwiesprache hält. Er liest, geht umher, malt Bilder, die traumhaft aus dem Dunkel hervorleuchten, und schweigt gegen jedermann. Kunstmaler Buko. Und da hat er sich nun in seiner Einsamkeit dies Schaufenster für die Kinder ausgedacht. Nein, Andreas kann ihn jetzt nicht stören. Außerdem muß er ja schleunigst Viola und Martin hierherschicken. So zieht er sich denn vorsichtig zurück und beschließt, nach dem Abendessen wiederzukommen, wenn die Lichter hier erloschen sind.


„Was ich noch sagen wollte...“, murmelte Buko, wie Andreas sich in der Haustür von ihm verabschiedet.
„Ja?“
Er macht zögernd „Hm“, stößt mit dem Fuß an die Schwelle, blickt auf, wendet sich ab und stößt abermals an die Schwelle. „Sie haben nicht zufällig diesen seltsamen Jungen bemerkt, vorhin, als Sie draußen vor dem Fenster standen?“
„Was für einen Jungen meinen Sie?“
„Links vorn. Das heißt von Ihnen aus rechts. Er hatte keine Mütze auf. Ein Junge von fünf oder sechs Jahren mit hellem Haar. Dicht an der Scheibe. Aber vielleicht phantasiere ich mir ja auch etwas zurecht. Ich weiß nicht.“
„Warten Sie mal“, sagt Andreas. „Keine Mütze auf? Nein, eigentlich nicht.“
„Hm.“
„Hat er denn etwas angestellt? Oder weshalb fragen Sie?“
„Nein ... ja ... Doch, er hat etwas angestellt, aber . . . Och, kommen Sie doch noch einen Augenblick herein! Ich muß Ihnen etwas... Haben Sie noch einen Augenblick Zeit?“

Sie gehen ins Atelier zurück. Buko läßt sich auf seinem Bett nieder, Andreas rückt sich den Ohrensessel zurecht, in dem er vorhin schon gesessen hat, zwischen ihnen steht ein Tischchen, auf dem ein Tabaksbeutel und ein paar Apfel liegen. In einem gläsernen Leuchter brennt eine Kerze. Es riecht nach Pfeifenrauch, Terpentin und Wachs.

Sie sitzen eine Weile schweigend da. Buko hat sich vornüber gebeugt und betrachtet den Fußboden. Schließlich lehnt er sich zurück und sagt, ohne die Augen zu heben, er möchte Andreas etwas anvertrauen, aber er wisse nicht, ob er einem vernünftigen Menschen mit solchem Zeug kommen dürfe. Andererseits sei es ihm ja gerade um die Meinung eines vernünftigen Menschen zu tun. „Natürlich habe ich bei offenen Augen geträumt“, sagt er mit einem kurzen, verlegenen Auflachen. „Nur eben ... es ist ja gleich, ob Traum oder Wirklichkeit. Auch ein Traum kann eine merkwürdige Wahrheit... Entschuldigen Sie, ich bin noch ein bißchen durcheinander!“ Er nimmt einen Apfel in die Hand, wirft ihn hoch, fängt ihn auf und legt ihn wieder an seinen Platz.

Andreas sagt, oft werde die Wirklichkeit, wenn er sie tiefer und tiefer bedenke, so schwebend und ungewiß wie ein Traum. Und wiederum wisse er viele Träume, die in sein Leben eingegangen seien wie Wirklichkeiten.
Aber Buko scheint nicht zuzuhören. Seine Schuhspitze umfährt langsam einen dunklen Fleck auf dem Fußboden. Er denkt an das, was ihn bewegt. „Zuerst hatte ich ihn gar nicht bemerkt“, sagt er. „Neben ihm stand ein Knirps mit verschmiertem Gesicht und schlug gegen die Scheibe und sang dazu!“
„Ja, den habe ich gesehen. Die Mütze ging ihm bis über die Augen. Den habe ich gesehen. Aber den andern nicht.“
„Und während ich mich noch über das kleine Ungeheuer freute... Wissen Sie, so ein Kindergesicht ist ja doch etwas ... oh!“ Er legt die Hand über die Augen und schüttelt überwältigt den Kopf. Dabei atmet er seufzend durch die Nase.
Andreas versteht, daß er ein wenig Geduld haben muß.

Die Kerzenflamme sinkt knisternd herab und steigt gleich darauf wieder hoch. Draußen klingelt ein Schlitten vorbei. Dann ist es so still wie zuvor. Sogar das Rieseln des Schnees hat aufgehört.


Schließlich wischt Buko mit der Hand über sein Gesicht und reibt sich das Kinn: „Ja, also . . . während ich mich noch über das kleine Ungeheuer mit der Rotznase freute, wurde mein Blick auf eine sonderbare Weise von dem anderen Jungen angezogen. Nicht, als ob er durch irgendein Gebaren meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hätte. Er stand nur da und betrachtete mit seinen großen, blauen Augen die Engel, die durch die Luft glitten. Und diese Augen waren ebenso staunend und selig wie die der übrigen Kinder. Aber als sie einmal wie zufällig über mich hingingen, gewahrte ich, daß in ihrer Tiefe ein Wissen und eine Traurigkeit lebte... Wie soll ich das sagen? Kinderaugen mit einem Ausdruck des Erbarmens. Unschuldige Augen, die das Leid der Welt kannten. Noch nie in meinem Leben habe ich solche Augen gesehen. Sie werden denken, Unschuld und Wissen seien unvereinbar. Ja, ja, ich denke ja auch, daß... Und dennoch!“
Er hält ein und starrt Andreas unsicher an. „Vielleicht waren es ja keine Menschenaugen“, fügt er flüsternd hinzu.

Obwohl er die letzten Worte mit einem fragenden Unterton gesprochen hat, antwortet Andreas ihm nicht. Er ist nicht imstande, etwas zu sagen, denn Buko starrt ihn immer noch an. Sein Blick ist so groß und ernst, daß Andreas nichts anderes mehr wahrnimmt. Alles um ihn her versinkt mit dünnem Rauschen. Ein paar Sekunden lang hat er das Gefühl, als löse sein Körper sich auf, als gebe es nur noch dies schwermütige Ineinander von Auge und Auge. Dann findet er sich zurück.

Wieder läßt sich draußen ein Schlitten vernehmen. Er biegt jedoch, ehe er heran ist, in einen Seitenweg ein. Das Geklingel verliert sich.

„Hören Sie zu“, sagt Buko, „was dann kam. Die Kerzen waren allmählich herabgebrannt. Als die erste erlosch, überlegte ich, ob ich sie durch eine neue ersetzen sollte, fand aber, es sei bei kleinem an der Zeit, daß die Kinder sich auf den Heimweg machten. Die meisten waren übrigens schon fortgegangen. Und nun klapperte wieder eins davon und nun noch zwei, und dann stand nur noch der fremde Junge vor der Scheibe. Seine Augen leuchteten noch genauso beglückt wie vorhin. Je länger ich ihn betrachtete, um so mehr ergriff mich der zarte Adel, der ihm eigen war. Vorsichtig, damit er nicht auf mich aufmerksam würde, bedeckte ich mein Gesicht mit meinen Händen und besann mich. Was mochte es mit ihm für eine Bewandtnis haben? Ich kannte ihn nicht und kannte ihn doch. Und wie ich so meinen Gedanken nachhing, hörte ich, daß die Haustür leise geöffnet und wieder geschlossen wurde. Auf dem Flur erklangen Schritte, jemand tastete an der Zimmertür herum, erfaßte die Klinke und drückte sie nieder. Die Tür ging auf. Ich ließ die Hände sinken. Da stand der fremde Junge vor mir. Ich saß dort, wo Sie jetzt sitzen, und hier in der schummrigen Dunkelheit hinter der Staffelei stand der Junge. Wenn die Staffelei auch das Kerzenlicht verdeckte, so war es da doch nicht völlig dunkel, sondern nur so schummerig. Ich konnte das blasse Oval des Gesichtes noch eben erkennen. Und in dem hellen Haar fing sich noch so viel Dämmerung, daß sich so etwas wie ein schwacher Schein, ein ganz schwacher Schein über dem Kopf zeigte.

'Guten Abend', sagte eine langsame Kinderstimme aus der Dunkelheit heraus. 'Ich möchte das wohl kaufen, das mit den Engeln da.'
'Nein, Junge', entgegnete ich, 'das ist nicht zu verkaufen.'
'Aber du hast es doch in dein Schaufenster gestellt.'


Erst jetzt wurde mit bewußt, daß ein langgezogenes, dünnes, gläsernes Singen jedes seiner Worte begleitete, ganz hoch. Nun schwieg es. Ich wartete eine Weile, aber es blieb still. Da sagte ich zu dem Jungen, daß ich den Kindern damit eine Freude habe machen wollen.

'Warum wolltest du ihnen denn eine Freude machen?' Wieder ertönte, während er sprach, das hohe Singen. Es kam von dorther, wo die Engel um die Weihnachtspyramide schwebten. Sie bewegten sich nur zögernd, weil die oberen Kerzen schon erloschen waren. Ich fragte mich, ob es denn sein könne, daß die Engel so geheimnisvoll sängen.
'Warum wolltest du ihnen denn eine Freude machen?' fragte der Junge noch einmal.

'Ich sehe es so gern, wenn Kinder frohe Augen haben.'
'Warum denn?'
'Ja, Junge, warum? Das ist gar nicht so leicht zu erklären. Siehst du, ich habe den ganzen Abend hier gesessen und euch beobachtet, wie ihr eure Freude an den Weihnachtssachen hattet. Und da war mir, als gäbe es keinen Jammer und keine Sünde mehr auf der Welt. Unsereins kann sich ja nicht mehr so freuen, wie ein Kind sich freut. Wir haben ja zuviel Schuld auf uns geladen. Und nun gehen wir umher und fühlen eine unbestimmte Sehnsucht nach ... nach ... Wenn wir auch arbeiten und reden und lachen und uns um nichts zu kümmern scheinen, im Grunde haben wir doch Sehnsucht. Oft haben wir Sehnsucht. Immer. Eigentlich immer.'

'Wonach habt ihr denn Sehnsucht?'
'Nach der Unschuld, glaube ich. Daß wir unschuldig wären, daß es keine Sünde gäbe.'
'Was ist denn Sünde?'
'Wenn man so allein ist.'
'Alleinsein ist doch keine Sünde.'
'Wenn man... Ach, Junge, wenn man ohne Gott ist.'
'Hast du denn Sehnsucht nach Gott?'
'Ja, Junge.'

Da entstand eine Stille. Und dann begannen die Engel wieder zu singen. Und der Junge sagte: 'Du, er sehnt sich auch nach dir.'
Ich antwortete, das könne niemand wissen.
'Doch', sagte der Junge, 'ich weiß es. Glaube mir.'
'Wer bist du denn?'
'Alle Sehnsucht des Menschen nach Gott', fuhr der Junge fort, während die Engel abermals ihre Melodie anstimmten, die wie ein silbernes Gespinst um die Worte schimmerte, 'alle Sehnsucht des Menschen nach Gott ist in Wahrheit die Sehnsucht Gottes nach dem Menschen.'
'Die Sehnsucht Gottes nach dem Menschen', sagte ich.
'Wer bist du denn?'

Die Engel begannen wieder, aber der Junge schwieg. Ihr Lied war wie der Gesang einer Glasorgel. Es wurde lauter und lauter. Jetzt klang es schon wie eine richtige Orgel. Der Junge schwieg noch immer. Und als der Orgelgesang an Fülle und Brausen gewann und mit dröhnender Gewalt über mich hinflutete, kam das blasse Gesicht langsam aus der Dunkelheit auf mich zu und wurde größer und durchsichtiger, die Augen ganz groß und unendlich traurig. Es waren keine Kinderaugen mehr. Ich sah, daß sie alles wußten, auch das Letzte, auch die letzte Verlassenheit von Gott. Aber dahinter war noch etwas, ein Allerletztes, etwas Unbegreifliches, hinter dem Wissen. Warum ich es tat, kann ich nicht sagen, ich mußte es einfach tun, ich neigte mich vor und gab mich willenlos in das Geheimnis der Augen hinein. Es war, als fiele ich in einen bodenlosen Abgrund. Ich fiel und fiel. Und dann verdichtete sich das Leere um mich her, etwas Weiches fing mich auf, ich öffnete die Augen und merkte, daß ich nach wie vor in meinem Sessel saß, die Pfeife in der Hand. Das Zimmer war dunkel, die Kerzen brannten nicht mehr. Nur unter dem Engelreigen flackerte noch ein Flämmchen. Es schrumpfte aber gerade zusammen und verwandelte sich in ein geisterhaftes Blau. Regungslos hingen die Engel an ihren Fäden. Da erstarb auch das Blau. Eine Weile sah ich gar nichts mehr. Dann zeichnete sich allmählich das Viereck des Fensters als schwache Dämmerung in der Nacht ab. Ich saß in meinem Sessel und rührte mich nicht. Und so blieb ich sitzen, bis Sie an die Tür klopften. - Was halten Sie nun davon? Ich meine... Dabei bin ich alles andere als ein frommer Mensch. Denken Sie bitte nichts Verkehrtes von mir! Aber was soll man nun davon halten? Ich meine, was hat es zu bedeuten?“

Während der letzten Worte schiebt er seine geöffnete Hand mit einer fragenden Bewegung auf den Tisch. Am liebsten würde Andreas sie ergreifen. Er macht auch schon Anstalten dazu, läßt es dann aber doch sein. Ihre Augen begegnen sich. Buko blinzelt.

„Ach, Buko“, sagt Andreas schließlich, „warum weichen Sie sich denn aus? Sie brauchen doch keine Angst vor sich selbst zu haben.“
„Vor mir selbst? Was wollen Sie damit sagen?“
„Ich will damit sagen, daß Sie es waren, der hereinkam, Sie selbst, Ihr... Ach, Sie wissen es schon.“
Er schüttelt den Kopf.
Andreas nickt ihm zu.
Aber Buko sitzt nur da und schüttelt den Kopf.