Vom Hirten, der nicht nach Bethlehem gehen wollte

von Werner Reiser, aus: Freuet euch. Diakonisches Werk der Kirche von Westfalen, 1986.


Als sich die himmlischen Heerscharen wieder zurückgezogen hatten, herrschte unter den Hirten große Aufregung. Jeder wollte als erster der Spur nachgehen und das Kind auffinden. Die Hoffnung, endlich Gewißheit zu erhalten, trieb sie auf den nächsten Weg nach Bethlehem. Mit freudigen Rufen munterten sie einander auf und verschwanden im Zwielicht von nächtlicher Dunkelheit und himmlischem Widerleuchten.

Nur ein alter Hirte blieb zurück. Alle verheißenden Zurufe hatten nicht vermocht, ihn mitzureißen. Zwar war auch er mit den andern aufgesprungen, als sie plötzlich vom Licht überflutet worden waren. Aber bald hatte er sich wieder gefaßt und vor sich hingebrummt: „Himmlische Trugbilder! Ich traue ihnen nicht mehr. Sie öffnen eine Tür, hinter der nichts ist und nichts geschieht!“ Und er fühlte sich voll bestätigt, als der Glanz wieder verschwunden war.

Da er jedoch die Freude der andern nicht beeinträchtigen wollte, schwieg er. Er sagte sich: „Was soll ich ihnen die Erwartung mißgönnen? Sie sind jung genug, um immer neu zu hoffen und die Enttäuschungen des Himmels zu überwinden.“ Laut aber sprach er: „Geht nur und laßt mich hier. Jemand muß sich um die Tiere kümmern. Sie sind ja ganz verstört.“ Und während sie aufbrachen, ging er in die Runde, um die vor Schreck verstreute Herde zu sammeln. Er besänftigte die Tiere mit ruhigen Worten, und sie sammelten sich um seine Stimme. „Kommt, ihr armseligen Geschöpfe. Ihr weidet hier, um geschoren und geschlachtet zu werden. Ob Licht oder Dunkel auf euch fällt, ändert euer Geschick nicht. So bleibt wenigstens beisammen, solange euch ein Hirte sammelt.“

Aus der Ferne vernahm er die Stimmen seiner Gefährten, die sich schon dem Dorf näherten. Irgendwo öffnete sich eine Tür. Licht drang heraus und legte sich wie ein Streifen gegen den Rand des Feldes. Dann schloß sich die Tür wieder. Nun war es überall dunkel. Aber - da flackerte doch etwas hinter dem Rücken der Tiere in der Dornenhecke. Etwas zitterte in den Zweigen und Blättern, etwas Helles, das vorher nicht dagewesen war. Prüfend schaute der alte Hirte gegen das Dorf, ob von einem anderen Haus ein Strahl über das Feld geworfen worden sei. Aber nichts Derartiges zeigte sich. Langsam bewegte er sich gegen die Hecke und griff dann mit kräftiger Hand mitten hinein. Nichts war da. Nur dorniges Gestrüpp drang in seine Hand ein. Vorsichtig zog er sie zurück. „Hättest es dir doch denken können“, warf er sich schimpfend vor: „Bist immer noch nicht klüger geworden. Wo du hingreifst, sind immer Dornen. Nur Tiere haben weiches Fell.“

Aber während er noch die Dornen aus der Hand zog, sah er, wie es nebenan wieder flackerte. Er packte seinen Hirtenstock und schlug ihn auf das Gebüsch. Es knackte in den Zweigen. Das Licht blieb stehen. Er hielt an. „Nein. So lösest du das Rätsel nicht. So hast du es noch nie lösen können. Es blieben doch immer nur geknickte Zweige zurück, die verdorrten und keine Blätter und Blüten mehr trugen. Erst bei den Tieren hast du es gelernt, daß der Stock nichts taugt. Vorher hast du doch bitter gebüßt - damals, als dein Sohn zornig aus dem Hause ging und zu den Rebellen lief.“ Erschrocken warf er den Stock weg, „Vielleicht ist seine Seele in den Dornen gefangen? Oder gar deine eigene?“

Behutsam senkte er seine Finger ins Gestrüpp, um sich an das Licht heranzutasten. Schon rieselte es in schmalen Streifen über die Hand - aber plötzlich verschob es sich seitwärts in die Hecke. Nun konnte nichts mehr den Alten zurückhalten, dem Schein nachzutappen. Da war etwas, wonach er greifen mußte. Er spürte die Dornen kaum, die seine suchende Hand aufritzten. Mochte es schmerzen, ihn plagte ein anderer Schmerz. Je rascher und tiefer er nach dem huschenden Licht griff, desto schneller huschten vor seinem Auge die Bilder des Lebens vorbei: „Dornen und Licht, Licht und Dornen. Dornen im Licht, Licht unter Dornen. Warum nie nur Licht? Müssen so viele Dornen aufgefangen werden, bis das Licht wieder rein schwebt? Endet denn diese Hecke nie?“ Auf einmal war das Licht weg. Der Hirte schaute um sich und sah die Dämmerung des Morgens. Von ferne hörte er das Blöken der Tiere und die Rufe der Gefährten, die zurückgekehrt waren. Sie schienen ihn zu suchen. Langsam ging er ihnen entgegen, müde, mit blutenden Händen.

„Habt ihr das Licht gesehen?“ fragt er zögernd.
„Ja“, antworteten sie, „wir haben es die ganze Nacht gesehen. Es lag auf der Stirn des Kindes in der Krippe.“
„Konntet ihr es greifen?“ fragte er. Sie schauten einander verwundert an. „Es genügte doch, daß es da war und wir in seinem Schein standen. - Aber, deine Hände bluten. Was ist geschehen?“
„Ich wollte nach dem Licht greifen“, sagte er still und ging an ihnen vorbei. Sie schauten sich stumm an. „Warum ist er nicht mit uns gekommen? Gott hat ihn mit Wahn geschlagen.“

Während des ganzen Tages erzählten sie immer wieder von den Ereignissen der vergangenen Nacht, vom Einbruch des Himmels und seiner Heerscharen, vom Kind und seinen Geheimnissen. Nur der alte Hirte saß stumm daneben. Erst als die Nacht einbrach, regte er sich und spähte unruhig umher. Dann sprang er auf und rief: „Es ist wieder da. Seht ihr das Leuchten in der Hecke?“ Verständnislos starrten sie ihm nach und sahen, wie er sich in den Dornen abmühte. „Er wird von einem Irrlicht gefoppt“, flüsterten sie einander zu, „er wird von einem Irrlicht gefoppt, weil er das rechte Licht nicht hat sehen wollen.“ Und er tat ihnen leid, bis sie einschliefen.

So vergingen einige Tage. Tagsüber erzählten sie von dem, was in jener Nacht geschehen war. Einigen verblaßten die Ereignisse, andere schmückten sie aus - wie es eben unter Menschen geschieht. Nachts schliefen sie und ließen den Alten in seinen endlosen Mühen gewähren. Er entfernte sich immer weiter von ihnen.

In der vierten Nacht lockte ihn das Leuchten in die Nähe der großen Schlucht. Während er ihm nachtastete, vernahm er Schritte. Sie kamen näher und hielten bei ihm an. Vor ihm stand ein Mann mit einer Frau, die ein Kind auf den Armen trug.

Der Mann flehte zu ihm: „Wir sind in Gefahr. Man will uns unser Kind nehmen. Wir kennen diese Gegend nicht. Kannst du uns den Weg zur ägyptischen Grenze zeigen? Du hast doch ein Licht bei dir.“
„Ein Licht?“ stammelte der alte Hirte.
„Ja“, sagte der Mann. „Wir haben uns in der Dunkelheit nach deinem Licht gerichtet. Wir hofften, daß jemand uns helfen würde.
Der alte Hirte drehte sich um. Vor seinen Füßen lag der Schein auf dem Weg, leuchtete über die Steine. „So kommt mit mir. Ich weiß den Weg durch die Schlucht.“

Er ging voran, dem Strahl nach. Sie folgten ihm. Keiner glitt aus. niemand strauchelte. Sicher und langsam erklommen sie die gegenüberliegende Höhe. Dort hielt der Alte an. Er wies über die Ebene und sagte: „Nun könnt ihr den Weg nicht mehr verfehlen. in dieser Richtung führt der Weg zur Grenze. Bald wird es heil werden. Ich wünsche euch eine gute Reise.“

Der Mann und die Frau drückten die Hand des Alten: „Du hast unser Kind gerettet. In seinem Namen danken wir dir. Gesegnet seist du mit deinem Licht.“ Und sie schritten in den Morgen hinein. Er aber kehrte zu seinen schlafenden Gefährten zurück, die noch immer träumten von den Ereignissen jener Nacht.