Wie die Schlange unter der Schwelle hervorglitt

aus: Hans Baumann: Das Kind und die Tiere. Bertelsmann, 1956.


Durch die Fugen der Stallwände sickerte spärliches Grau. Die Nacht zog sich in die Winkel zurück. Nun schlief auch das Kind.

Das war die Stunde, in der die Schlange den Kopf hob und lautlos aus ihrem Versteck unter der Schwelle hervorglitt.
Ich muß sie wecken, ehe das Kind wieder die Augen auftut, dachte sie und schob sich zur Mutter. Aber Maria erwachte von selbst. Sie hatte ein Frösteln verspürt: den Blick aus den reglosen Augen. Als die Mutter die Schlange sah, stockte ihr Atem, doch die Schlange begann gleich:

"Ich habe nichts gegen dich im Sinn. Auch dem Kind will ich nichts antun. Ich weiß, wen ich vor mir habe. Nur reden möchte ich mit dir. Der Engel hat dir nicht alles gesagt."
"Er hat nicht verschwiegen, was mit dem Kinde geschehen wird auf Golgatha", sagte Maria.
"Nicht das meine ich", fuhr die Schlange fort und richtete sich auf. "Er hat verheimlicht, was anderen um seinetwillen zugefügt wird."

Maria blickte bestürzt auf das Kind. Es lag in tiefem Schlaf, doch das Lächeln auf dem Gesichtchen war wach.
"Es wird eher alles Leid auf sich nehmen, als einen Wurm zertreten", sagte die Mutter.
"Es ist eine alte Geschichte", versetzte die Schlange, daß um jeden, der nach der Welt greift, Tausende ihr Leben lassen müssen. Aber um seinetwillen werden es so viele sein, daß niemand sie zählen kann. Jenen, die ihm nach­folgen, wird man auf Erden keinen Platz zugestehen. Man wird sie lebend in Fackeln verwandeln oder sich an ihnen ergötzen, wenn sie in der Arena von ausgehungerten Tigern zerrissen werden."
Maria versuchte ein Zittern zu verbergen.

"Er ist gekommen, den Menschen die Freude an der Erde zu nehmen."
Maria sagte: "Der Engel hat mir vertraut, daß er die Arme ausbreiten wird, wie es vor ihm noch keiner getan hat."
"Das Kreuz wird einen Schatten werfen, als reiche es bis an die Sonne", erregte sich die Schlange. "An ihm kommt keiner künftig vorbei. Dieses Kind wird die Erde zum Jammertal machen. Das ist sein Paradies: ein verdorrter Stamm!"
"Es wird keinen zwingen, ihn auf sich zu nehmen", sagte Maria. "Keinem wird es seinen Willen nehmen."
"Kinder haben noch keinen Willen beharrte die Schlange. "Seinetwegen werden Unschuldige umkommen. Noch ehe der Mond wiederkehrt, werden mehr als hundert Mütter um ihre kaum Geborenen weinen. Das wird in Bethlehem geschehen. Um seinetwillen wird man Kinder morden."

Und die Schlange fuhr fort: "Ich komme von jenem, dem von Rechts wegen das Land gehört. Kann er ruhig zu­sehen, daß alle Welt sich aufmacht, einem neugeborenen König der Juden Kronen zu Füßen zu legen? Ich habe in den Gedanken jenes Mannes gelesen, als er sich ohne Schlaf auf seinem Lager umherwarf. Darf er das Seine nicht verteidigen? Gleich wird der Engel hereintreten und dir anraten zu fliehen. Wenn du tust, was er sagt, werden alle Kindlein, die jünger als ein Jahr sind, dem Schwert des Herodes verfallen."

Ehe Maria eine Antwort fand, trat der Engel zu ihr. Vor ihm verkroch die Schlange sich nicht. Sie stand so hoch, daß sie ihm bis an den Gürtel reichte. Im Licht, das vom Engel ausging, schimmerte ihr Leib. Während der Geflügelte wiederholte, was sie schon gesagt hatte, schwang sie hin und her wie ein Pendel, das die Worte nachzählt.

Maria blickte den Boten an, als sei er aus Eis. Sie bemerkte es kaum, als er ging.

"Nun", sagte die Schlange, "du hast zum zweitenmal alles gehört. Gott hat es eilig, die Kinder auszuliefern. Er liebt auf eigene Weise. Sage nun: Hatten jene beiden im Paradiese nicht recht, den Apfel von mir zu nehmen? Gott ist nicht gut."

Die letzten Worte waren der Schlange zu laut entschlüpft; sie weckten das Kind. Von seinem Blick getroffen, sank die Züngelnde auf die Steine. Regungslos lag sie zwischen den goldenen Kronen. Das Kind wandte die Augen zur Mutter. Da faßte sich Maria und zertrat der Schlange den Kopf. Dann weckte sie den Mann. Ihm sagte sie nichts von den Schuldlosen, nur von Herodes. Sie wollte nicht, daß er zum andernmal irre würde.