Sternauge

von Zacharias Topelius, aus: Suse Wintgen (Hg.): Das Weihnachtsland. Verlag Ernst Wunderlich, 1950 (?). Dort entnommen aus: Zachris Topelius: Neue Finnländische Märchen, H. Haessel Verlag, 1925.


Der Schnee glitzerte, das Nordlicht leuchtete, und die Sterne schienen hell am Himmel. Am Weihnachtsabend war es. Der Lappländer fuhr mit seinem Renntiere über die öden Schneegefilde, und hinter ihm her fuhr die Lappländerin mit ihrem Renntier. Dem Lappländer gefiel die schnelle Fahrt, er sah sich nach seiner Frau um, die allein in ihrem Schlitten saß, denn die Renntierschlitten sind nur einsitzig. Das Weib hielt ihr kleines Kind im Arme, sie hatte es in ein dickes Renntierfell eingewickelt, aber sie konnte nicht so gut lenken, da sie das Kind im Arm hielt.

Als sie oben auf dem Schneegebirge angelangt waren und mit der Abfahrt beginnen wollten, kamen ihnen Wölfe entgegen. Ein großes Rudel war es, wohl vierzig oder fünfzig, wie man sie oft im Winter in Lappland sieht, wenn sie den Renntieren auflauern. Nun hatten die Wölfe lange kein Renntier gehabt, sie heulten vor Hunger und begannen sofort, den Lappländer und sein Weib zu verfolgen.
Als das die beiden Renntiere vor den Schlitten merkten, flohen sie so schnell sie nur konnten und jagten in so rasender Eile bergab, daß die Schlitten fortwährend im Schnee umkippten und sich mehrere Male in den Schneewehen überschlugen.
Der Lappländer und sein Weib waren an so etwas gewöhnt, sie hielten sich am Schlitten fest, obgleich ihnen Hören und Sehen verging. Aber beim Umschleudern geschah es, daß die Lappländerin ihr Kind in den Schnee fallen ließ. Vergebens schrie sie und wollte das Renntier anhalten. Das Renntier wußte, daß ihm die Wölfe auf den Fersen waren. Es spitzte die Ohren und ließ nur immer schneller, daß seine Knochen so knackten, wie wenn man Nüsse knackt. Nach kurzer Zeit waren Renntiere und Schlitten verschwunden.

Das kleine Kind lag da in sein Renntierfell gewickelt und betrachtete die Sterne. In einem Nu waren die Wölfe da. Das Kind konnte weder Hand noch Fuß rühren, es konnte nur die Wölfe ansehen. Es weinte nicht, es rührte sich nicht, es sah sie nur an. Und die unschuldigen Augen der kleinen Kinder haben eine wunderbare Macht. Die hungrigen Raubtiere hielten in ihrem Lauf inne und wagten das Kind nicht anzurühren. Einen Augenblick standen sie ganz still und betrachteten das Kind wie starr vor Staunen, darauf machten sie, daß sie fortkamen, und jagten den Renntierspuren nach, um die Verfolgung aufzunehmen.
Das Kind lag nun allein in der großen, wilden Einöde im Schnee der Winternacht. Es sah die Sterne an, und die Sterne sahen das Kind an, und so entstand eine Freundschaft zwischen ihnen. Die unermeßlich großen, schönen, fernen Sonnen, die am Nachthimmel funkelten, schienen Mitleid mit dem verlassenen Erdenkind zu haben, das dort im Schnee lag. Und da sie das Kind so lange anblickten, blieb der Sternenglanz in den Augen des Kindes haften.

Dennoch wäre das Kind wohl bald erfroren, hätte Gott es nicht so gefügt, daß noch ein Reisender durch die Einöde gefahren wäre. Es war ein finnischer Ansiedler aus der Gegend von Enare. Er kam zum Weihnachtsfest mit Salz und Mehl aus der norwegischen Stadt Vadsö zurück. Er fand das Kind und hob es in seinen Schlitten.

Am Weihnachtsmorgen, gerade als die Kirchenglocken in Enare zur Frühmesse zu läuten begannen, kam der Ansiedler auf seinem Hofe an. Er brachte das Kind gleich in die warme Stube hinein und gab es seiner Frau.
„Hier ist ein Weihnachtsgeschenk für dich, Lisu“, sagte er, indem er den Reif aus seinen braunen Haaren strich. Und dann erzählte er, wie er das Kind gefunden hatte.
Die Frau des Ansiedlers nahm das Kind, wickelte es aus dem Felle und gab ihm lauwarme Milch.
„Gott hat dich uns gesandt, armes Kind“, sagte sie. „Wie du mich ansiehst! Hast du keinen Vater und keine Mutter mehr, so wird Simon Jorsa dein Vater und ich deine Mutter sein, und du sollst unser Kind sein. Simon, Palte und Matte werden sich freuen, eine Schwester zu bekommen, denn wie ich sehe, bist du ein Mädchen. Ich möchte wohl wissen, ob du auch die heilige Taufe empfangen hast!“
„Das ist unwahrscheinlich“, meinte der Ansiedler Simon Jorsa. „Die Lappländer haben einen so weiten Weg bis zu Kirche und Pfarrer, darum warten sie, bis sie eine ganze Reihe Kinder haben. Dann fahren die Kinder selbst zum Pfarrer, geben ihm die Hand und sagen ,Amen’, wenn er sie getauft hat. Da gerade Weihnachtsmette ist, wird es wohl das Beste sein, daß wir das Kind gleich zur Taufe mit in die Kirche bringen.“
Die Frau war mit diesem guten Vorschlag einverstanden, und so wurde das Findelkind getauft und nach seiner Pflegemutter Elisabeth genannt. Der Pfarrer wunderte sich, daß die Augen des Kindes wie Sterne leuchteten, als er es segnete, darum sagte er nachher scherzend: „Sternauge müßtest du heißen und nicht Elisabeth!“
Die Frau des Ansiedlers fand diesen Ausspruch unchristlich und erzählte ihn ihrem Manne. Simon Jorsa aber hatte dasselbe beobachtet wie der Pfarrer und meinte, der zweite Name sei ebensogut wie der erste.
„Wie?“ sagte die Frau, „Du willst mir doch kein Trollkind aus ihr machen? Das Mädchen ist ein Lappenkind, und die Lappländer können nun einmal zaubern. Simon und Palte und Matte haben ebenso gute graue Augen wie sie braune hat, und wenn du dem Mädchen einen Beinamen geben willst, so nenne sie doch ,Katzenauge’, das ist ebensogut!“
Der Ansiedler wollte seine Frau nicht betrüben und tat so, als habe er den neuen Namen vergessen, doch das Wort des Pfarrers wurde bekannt, und von dem Tage an nannte man Simon Jorsas Pflegekind „Sternauge“.

                                                                                                                          *

Das Mädchen wuchs mit ihren drei Pflegebrüdern heran, und ward ebenso schlank und zart wie die Jungen groß und stark wurden. Sie hatte schwarzes Haar und braune Augen wie die meisten Lappenkinder. Zuweilen aber sind Lappenkinder so heftig und eigensinnig wie Negerkinder. Doch Sternauge war immer ruhig, friedfertig und still. Die vier Kinder vertrugen sich sehr gut, nur die Jungen lagen sich zur Abwechselung manchmal in den Haaren. Der Ansiedler und seine Frau hatten das Mädchen sehr lieb und alles ging sehr gut, keine anderen Eltern hatten nach ihr gefragt. Wie konnten die Lappeneltern auch wohl etwas anderes glauben, als daß die Wölfe ihr kleines Kind aufgefressen hätten?

Sternauge war kaum im dritten Jahre, als ihre Pflegemutter etwas ganz Unbegreifliches an ihr zu bemerken begann. Das Kind hatte in seinen Augen eine Macht, der keiner widerstehen konnte. Sie widersprach niemals, sie verteidigte sich niemals, wenn die kleinen Jungen sie neckten, sie sah sie nur an, dann taten sie gleich alles, was sie wollte. Die schwarze Katze mit den funkelnden Augen wagte nicht, sie anzusehen. Der braune, zottige Hofhund Kettu ließ sofort das Bellen und Knurren, sobald Sternauge ihn ansah. Die Pflegemutter meinte, man könne die Augen des Mädchens im Dunkeln leuchten sehen. Und eines Tages, als der Schneesturm über die Berge brauste und Sternauge sich zur Tür hinausgeschlichen hatte, schien es fast, als hätte sie den Sturm bezähmt, denn nach einigen Minuten wurde alles ganz still.
So gern die Frau des Ansiedlers das Kind auch hatte, dies gefiel ihr doch nicht an ihr.
„Guck mich nicht so an!“ sagte sie zuweilen ungeduldig zu der Kleinen. „Ich glaube, du bildet dir ein, du könntest ganz durch mich hindurch sehen!“
Sternauge wurde traurig und schlug die Augen nieder, denn sie wollte ihre gute Mutter nicht betrüben.
Da streichelte die Pflegemutter ihr freundlich die Wange und sagte: „Weine nicht Lisulein. Du kannst ja nichts dazu, daß du ein Lappenkind bist!“

Eines Tages, als Sternauge drei Jahre alt war, saß die Frau des Ansiedlers am Spinnrocken und dachte an ihren Mann, der wieder auf Reisen war. Dabei fiel ihr ein, daß sein Pferd am linken Hinterhuf das Eisen verloren hatte. Sternauge saß in der Ecke und spielte mit der Bank „Pferd“. Sie spielte, daß sie ausführe, und sagte zu ihrer Bank: „Mutter denkt daran, daß du am linken Hinterfuß dein Hufeisen verloren hast.“
Die Frau des Ansiedlers hörte auf zu spinnen und fragte erstaunt: „Woher weißt du das?“
„Lisulein sah es“, antwortete Sternauge.
Die Pflegemutter bekam einen Schrecken, aber sie ließ sich nichts merken und beschloß, von nun an besser auf die Kleine achtzugeben. Einige Tage darauf übernachtete ein fremder Mann im Häuschen, und am nächsten Morgen vermißte die Hausfrau einen goldenen Ring, der auf dem Tische gelegen hatte. Der Verdacht fiel auf den Mann. Sein Zeug wurde untersucht, aber der Ring war nicht da. In diesem Augenblicke erwachte Sternauge, sah den Mann erstaunt an und sagte: „Er trägt einen Ring in seinem Munde.“
Da war der Ring wirklich. Der Mann wurde fortgejagt, aber noch immer ließ sich die Pflegemutter nichts merken.

So verging die Zeit. Palte bekam die Masern, der Pfarrer wurde geholt, der sollte ihn untersuchen, denn er war auch in der Heilkunst erfahren. Die Mutter hatte zwei frische Lachse im Keller und dachte: „Soll ich dem Pfarrer wohl den kleinen oder den großen Lachs geben? Ich glaube, der kleine ist genug.“
Sternauge saß in einer Ecke und hatte eine Bürste als Puppe im Arm und spielte, die Puppe sei krank. Da kam der Besen, der mußte den Pfarrer vorstellen, und Sternauge sagte zu ihm: „Soll ich dir nun den kleinen oder den großen Lachs geben? Ich glaube, der kleine ist genug.“
Dies hörte die Pflegemutter, und jedes Wort gab ihr einen Stich ins Herz. Als der Pfarrer gegangen war, konnte sie sich nicht länger beherrschen, sondern sagte zu Sternauge:
„Jetzt sehe ich, was du für ein Trollbalg bist, du Lappenkind! Darum sollst du mich auch nicht mehr mit deinen verhexten Augen ansehen. Du sollst unter dem Fußboden im Keller wohnen, und einmal sollst du jeden Tag zum Essen heraufkommen, aber dann sollst du ein dickes Tuch vor den Augen haben, damit du die Menschen nicht mehr durchschauen kannst, – bis dich die böse Kunst verläßt.“

Das war nun recht grausam gegen ein armes kleines Kind, das keinem je etwas zuleide getan hatte, doch die Frau des Ansiedlers war abergläubisch wie viele ihresgleichen, sie glaubte fest, daß die Lappländer zaubern könnten. Darum sperrte sie Sternauge in den finsteren Keller ein, aber sie gab ihr Kleidung und Essen, auch ein Bett, damit sie weder zu frieren noch zu hungern brauchte. So hatte Sternauge alles, nur keine Freiheit und liebevolle Behandlung, keine Menschen zur Gesellschaft und kein Tageslicht. Der Ansiedler war fort, und Sternauge saß im Keller. Lustig war es zwar nicht, aber so besonders traurig war es auch nicht. Sternauge hatte Gesellschaft. Das waren ein alter Stock, ein zerbrochener Krug, ein Span und eine Flasche ohne Hals. Sie spielte, daß der Stock der Vater und der Krug die Mutter sei. Holzstück, Span und Flasche waren die Pflegebrüder, und alle außer dem Stocke wohnten in einer leeren Wanne. Alle hatten in der Wanne ihre Beschäftigung, Sternauge sang ihnen vor, – und Ratten und Mäuse hörten zu.

                                                                                                                          *

Lisu, die Frau des Ansiedlers, hatte eine Nachbarin, die hieß Murra. Am Tage vor Weihnachten saßen die beiden Frauen in der Stube und sprachen von den Trollkünsten der Lappländer. Die Mutter strickte Wollhandschuhe, Simmu spielte mit Kupfermünzen, Palte schlug einen Ziegelstein entzwei, und Matte hatte der Katze einen Bindfaden ums Bein gebunden. Da hörten sie Sternauge unten im Keller die Webspule in Schlaf wiegen und ihr vorsingen:

          „Feine Handschuh warm und weich
          Seh ich Mutter stricken.
          Simmu glaubt, er wäre reich,
          Spielt mit Kupferstücken.
          Palte mahlt den Ziegelstein,
          Matte bindet Kätzchens Bein, –
          Mondesstrahlen scheinen, –
          Still! Du mußt nicht weinen.

„Was singt das Lappenbalg da unten im Keller?“ fragte Murra.
„Sie singt ihren Spielsachen in der Wanne ein Wiegenlied vor“, antwortete Lisu.
„Aber wie kann sie alles, was wir tun, durch den Fußboden hindurch sehen?“ meinte Murra. „Sie sieht im dunklen Keller den Mond scheinen!“
„Ich glaube wirklich, sie kann es!“ rief Lisu. „Gott steh uns bei, – es ist ein Trollkind!“
„Ich weiß Rat“, sagte die böse Murra. „Binde ihr sieben Wolltücher vor die Augen und lege sieben Matten über die Kellerluke, dann kann sie nichts sehen.“
„Ich will es versuchen“, antwortete Lisu, und ging gleich in den Keller. Nun band sie sieben Wolltücher vor die kleinen Sternenaugen und legte sieben Matten über die Kellerluke.

Draußen war es jetzt dunkel geworden. Die Sterne gingen an zu leuchten, und in zwei großen, mattroten Bogen stieg das Nordlicht am Abendhimmel empor.
Da hörte man Sternauge wieder singen:

           „Sterne funkeln durch die Nacht,
          Kommen hoch gezogen.
          Nordlicht scheint in roter Pracht
          In zwei großen Bogen.
          Zu mir dringt der helle Schein,
          Und mir winkt ein Sternelein.
          Sternlein sagt’ mir da:
           „Nun ist Weihnacht nah!“

„Nein, jetzt höre nur“, sagte Murra. „Jetzt sieht sie das Nordlicht und die Sterne. Ein so schlimmes Trollkind habe ich noch nicht gesehen.“
„Es ist doch nicht möglich“, sagte die Frau des Ansiedlers. „Ich will in den Keller hinuntergehen.“
Sie ging unter die sieben Matten und fand Sternauge mit den sieben Wolltüchern umbunden und fragte sie:
„Siehst du die Sterne?“
„Ja, so viele, so viele!“, antwortete Sternauge. „Es ist so hell und klar. Mutter, nun ist bald Weihnachten.“

Die Frau des Ansiedlers ging wieder hinauf und erzählte es Murra. Murra sagte:
„Dann gibt es keinen anderen Rat, als unter dem Keller ein sieben Ellen tiefes Loch zu graben und das Trollkind da hineinzustecken und das Loch mit Sand auszufüllen. Das wird helfen.“
„Nein“, sagte Lisu, „das will ich lieber nicht tun. Das Kind tut mir leid, und ich fürchte, mein Mann wird traurig, wenn er es erfährt.“
„Nun, so gib mir das Kind“, sagte Murra, „dann will ich es nach Lappland zurückbringen.“
„Wenn du ihm nur nichts zuleide tust“, sagte die Frau des Ansiedlers.
„Was sollte ich ihm zuleide tun?“ fragte Murra. „Ich bringe es nur da wieder hin, wo es zu Hause ist.“
Murra erhielt das Kind, wickelte es in ein altes Renntierfell und nahm es mit in die Berge. Dort legte sie Sternauge in den Schnee, ging dann ihres Weges und sagte: „Ich tue, was ich versprochen habe. Da sie von diesen Schneebergen gekommen ist, mag sie auch wieder dorthin zurückkehren.“

Sternauge lag in ihrem Renntierfelle im Schnee und sah zu den Sternen auf. Wieder war es Weihnachtsabend, wie damals vor drei Jahren, und die vielen tausend schönen, klaren Himmelssonnen sahen wieder mitleidig auf das unschuldige Kind hernieder. Sie leuchteten in ihre Augen, sie sahen in ihr Kinderherz und fanden, daß es gut und gottesfürchtig war. Da bekamen die Augen des Kindes einen noch wunderbareren Glanz, und sein Blick weitete sich noch mehr, so daß es hinter die Sterne bis an den Vorhang von Gottes unsichtbaren Thron sehen konnte, wo die Engel auf und nieder steigen und die Befehle an die vielen Millionen von Welten in Gottes unendlichem Reiche bringen. Und die Nacht war klar und still vor stummer Anbetung. Nur das Nordlicht funkelte am Himmel und stand in hellem Bogen über Sternauges Haupt.

                                                                                                                          *

Früh am Weihnachtsmorgen, als die Kinder noch schliefen, kam der Ansiedler von seiner Reise nach Hause. Nachdem er seine Frau umarmt und den Reif aus seinen braunen Haaren gestrichen hatte, fragte er nach den Kindern. Die Frau erzählte, daß Palte Masern gehabt habe, aber wieder gesund sei, und Simon und Matte seien rund wie Semmel.

„Wie geht es Sternauge?“ fragte der Ansiedler.
„Gut“, sagte die Frau, denn sie fürchtete sich vor ihrem Manne, und das Gewissen schlug ihr.
„Wir wollen auf Sternauge gut achten“, fuhr der Ansiedler fort. „Ich hatte heut Nacht einen Traum, als ich im Schlitten saß und schlief. Mir war, als fiele ein Stern auf meine Schlittendecke und sagte zu mir: ,Nimm mich, und hüte mich wohl, denn ich bin ein Segen für dein Haus!’ Als ich aber meine Hand ausstreckte, da war er verschwunden. Ich erwachte und mußte daran denken, wie Gottes Segen diese drei Jahre mit uns gewesen ist, seitdem wir das fremde Kind angenommen haben. Früher wollte uns nichts recht glücken, wir waren krank und arm, die Früchte unseres Ackers verfroren, der Bär zerriß unsere Kühe, der Wolf raubte unsere Schafe. Aber nun hat uns Gott gesegnet; das kommt daher, weil Gott dem Barmherzigen gnädig ist, und weil seine Engel unschuldige Kinder besonders behüten.“
Als die Frau des Ansiedlers dies hörte, gab es ihr einen Stich ins Herz, aber sie wagte nichts zu sagen. Da erwachten die Jungen. Der Vater umarmte sie und freute sich, daß sie so gesund und kräftig waren. Nachdem er sie eine Weile auf seinen Knien geschaukelt hatte, fragte er wieder: „Wo ist Sternauge?“
Da antwortete Simmu: „Mutter hat sie in den Keller gesperrt.“
Palte sagte: „Mutter hat ihr sieben Tücher vor die Augen gebunden und sieben Matten über die Kellerluke gelegt.“
Matte sagte: „Mutter hat sie Murra mitgegeben, und Murra ist mit ihr in die Berge gegangen.“
Als der Ansiedler dies hörte, wurde er rot vor Zorn, aber seine Frau wurde bleich wie ein Laken und konnte nur antworten: „Sie war ein Lappenkind, und Lappländer können zaubern!“

Der Ansiedler antwortete nichts. Er ging sofort zum Stalle, so müde er auch war, und spannte das Pferd wieder vor den Schlitten. Darauf fuhr er zuerst nach Murras Häuschen, hob sie auf seinen Schlitten und verlangte von ihr, ihm die Stelle zu zeigen, wo sie das Kind hingelegt hatte. Sie kamen auf die Berge, stiegen aus dem Schlitten und gingen auf Skiern über die verschneiten Hänge. Als sie an die Stelle kamen, wo Murra das Kind ausgesetzt hatte, fanden sie nur noch eine kleine, kleine Vertiefung im Schnee, und in der Nähe sah man Skispuren, aber Sternauge fanden sie nicht, und als sie lange vergeblich gesucht hatten, mußten sie endlich wieder umkehren.
Der Ansiedler lief mit seinen Skiern voraus, und Murra folgte ihm in einiger Entfernung. Da ertönte ein Schrei. Der Ansiedler sah sich um, während er in eiliger Fahrt den Berg hinunterglitt, und sah, wie ein Rudel hungriger Wölfe oben auf dem Berge Murra in Stücke riß. Aber er konnte ihr nicht helfen. Er konnte den steilen Berg nicht so schnell wieder hinaufkommen, und als er sich hinaufgearbeitet hatte, war Murra schon von den Wölfen aufgefressen.
Traurig kehrte er nach Hause zurück und kam gerade an, als die Glocken den Weihnachtsmorgen einläuteten.
Die Frau des Ansiedlers saß da in bitterer Reue und hatte keinen Mut, zur Kirche zu gehen und zu Gott zu beten, denn als sie am Morgen zum Schafefüttern gegangen war, da waren die Wölfe schon vorher dort gewesen. Sie waren in den Stall eingebrochen, und nun war kein einziges Schaf mehr am Leben.
„Jetzt fängt die Strafe an“, sagte der Ansiedler. „Mutter, laß uns mit den Kindern zur Kirche gehen, wir haben es jetzt noch nötiger als sonst, denn wir haben eine große Sünde abzubitten.“

Von dem Tage an wußte niemand, wo Sternauge geblieben war. Die Skispuren, die man in der Nähe der Stelle, wo sie ausgesetzt wurde, gesehen hatte, ließen vermuten, daß wieder ein Reisender von einem guten Engel in diese einsame Schneegegend geführt worden war, daß er das Kind gefunden und mitgenommen hatte. Wir können wohl annehmen, daß es so geschehen ist, aber niemand weiß, wer der Reisende war, wohin er Sternauge gebracht und wo sie ein neues Heim gefunden hat. Wir wollen hoffen, daß sie in ein besseres Heim gekommen ist; dort wird sie viel Segen bringen und mehr sehen als die anderen. Ja, sie wird durch siebenfache Mauern sehen, auch durch die Herzen der Menschen, sie wird hinter die Sterne sehen, durch den blauen Himmel bis hinauf in die Gefilde der Seligen.