Eine südafrikanische Weihnachtslegende

von Fay King, aus: Gisela Fjelrad (Hg.): Unter dem Tannenbaum. Die schönsten Weihnachtsgeschichten. Bertelsmann, o.J.


Jan du Preez war sehr froh, den alten Mann neben sich zu haben. Ehrlich gesagt, es waren selbstsüchtige Gründe, die ihn dazu bewogen hatten, die gebeugte Gestalt, die sich mit ihrer schweren Bürde auf dem langen Weg bergan mühte, zum Mitfahren einzuladen, als er sie mit seinem Lastwagen überholte. Der Mann hatte ihm gedankt und seine Last auf die leere Karosserie geworfen; dann war er aufgestiegen, um neben du Preez Platz zu nehmen. „Weiter Weg?“ fragte Jan, als er sich dem Alten zuwandte. „Ein schönes Stück“, sagte dieser mit einem Lächeln. „Man erwartet mich in Verlate, kennen Sie vielleicht den Ort?“

„Ob ich ihn kenne?“ Jan lachte kurz auf. „Ich bin ein einziges Mal dort vorbeigekommen, und es hat mir genügt. Der Ort trägt seinen Namen mit Recht, denn er ist gottverlassen und lebendig begraben, dort oben im Wald.“ Befriedigt nickte der alte Mann; dann wurde es wieder still zwischen den beiden, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, jeder lebte in seiner eigenen Welt, getrennt von der des andern.

Verlate! dachte Jan du Preez. Ja, er kannte den Ort, und wer kannte ihn nicht in diesem Teil des Kap? Er war zum Sprichwort geworden, zur Verwünschung. „Geh nach Verlate!“ riefen sich die Männer in der Wut zu. Eine grüne Hölle, tief in den endlosen Wäldern, die sich über die Hänge und ragenden Höhen der Outeniqua-Berge hinzogen - das war Verlate!

Holzfäller mit ihren Familien lebten dort. Alte Leute, den Rücken gebeugt von der Arbeit in den Wäldern und dem kargen Leben zu Hause; Kinder, die den Tag erträumten, da sie zu ihren Brüdern und Schwestern entfliehen konnten, die steile, gewundene Straße hinab, die wegführte vom kleinen Dörfchen und hinaus in die wartende Welt. Niemand kam aus freier Wahl nach Verlate; niemand blieb, ohne zu müssen. Gewohnheit, Krankheit und Armut waren die Ketten, welche die meisten jener wenigen Menschen an den Ort banden.

Wohl waren schon Fremde ins Dorf gekommen, aus selbstlosem Drang oder auf behördlichen Befehl, der nicht zu umgehen war. Zweimal in den vergangenen Jahren hatte das Erziehungsdepartement einen Lehrer hinauf geschickt; aber die Stille des Waldes, die über den wenigen verstreuten Häusern lastete, und die Gleichgültigkeit der Bewohner hatten diese Männer wieder zurück in die Welt getrieben. „Die Anzahl Kinder, die Verlate birgt, rechtfertigt keinen Schulbetrieb“, wurde gemeldet. „Die wenigen Kinder können sehr leicht anderswo unterrichtet werden, wo sie zu ihrem Vorteil in Pensionshäusern der Regierung Unterkunft und Verpflegung finden.“

Zehn Jahre waren vergangen, seit der alte Missionar, der sich um die geistlichen Bedürfnisse der Leute gekümmert hatte, das Gesicht der Wand seiner selbstaufgebauten Hütte zugewendet hatte und dem Ruf des Höchsten gefolgt war. Seit der schlichten Feier am Sarge des guten Mannes war die Kirche geschlossen geblieben, und niemand hatte sie mehr betreten, denn kein Nachfolger war gekommen.


Aufwärts arbeitete sich der Wagen, und sein Lärm übertönte jeden anderen Laut. Die Gebirgsstraße schien endlos zu sein. Vielleicht war der alte Geselle ein Holzfäller, dachte Jan, denn warum sonst ging er nach Verlate? Aber nach einem zweiten Blick in das eigenartig ernste, kluge Antlitz wies er diesen Gedanken zurück. „Kennen Sie jemand dort oben?“ Der Mann nickte. „Freunde“, erwiderte er. Die blauen Augen, die Jan du Preez anblickten, verblüfften den jungen Mann. Wer mochte dieser Alte sein? Aus seinen Augen leuchteten die unschuldsvolle Weisheit und das Lachen eines Kindes, und nie zuvor hatte Jan eine solche Gelassenheit auf dem Antlitz eines Menschen gesehen noch solch zuversichtliche Stärke in der Haltung. „Ich werde Sie absetzen, wo der Fußpfad nach Verlate abzweigt“, sagte Jan jetzt. „Von dort aus wird es noch eine tüchtige Reise sein. Kennen Sie den Weg?“ „Ich werde den Ort finden, denn ich habe schon lange geplant, diese Gegend aufzusuchen. Wie lieblich sie ist!“

Jan sah kurz nach links und nach rechts, dann heftete er seinen trägen Blick wieder auf die vor ihm liegende Straße. Um Himmels willen, was war hier lieblich! Nur Bäume und immer noch mehr Bäume; endlos! Schon immer war er froh gewesen, wenn er diese, übrigens seltene Reise hinter sich hatte. Sicher war es die einsamste Stelle des Kap. Außer diesem alten Mann war ihm bis jetzt niemand begegnet, der die Hauptstraße verlassen hatte. Es überlief ihn kalt, und er wurde froh sein, aus dem Walde herauszukommen in die offene Ebene. Dort atmete man frei.

Bei der nächsten Biegung hielt er an. „Hier muß ich Sie absetzen“, wandte er sich an den Alten. „Sie nehmen die Straße dort rechts; eigentlich ist es nur ein Pfad, aber er führt Sie nach Verlate, wenn Sie ihm genau folgen.“ - „Ich bin Ihnen sehr dankbar“, sagte der Alte, drückte Jan die Hand, bevor er abstieg und sich sein schweres Bündel herunterreichen ließ. Ruhig stand er am Wegrand, dem roten Wagen nachblickend, bis dessen Dröhnen sich verloren und der Staub sich gelegt hatte.

Allein zurückgeblieben in der, grünen Welt, blickte er um sich. Es war Spätfrühling, der Wald dicht und Schatten spendend. Die Aronslilien schimmerten wie Perlen zu Füßen der riesigen Kiefern und einheimischen Bäume. Die Luft war berauschend, erfüllt vom Duft der Nadeln und Blumen und vom Atem der Erde. „Friede!“ sagte laut der alte Mann. Vielleicht kam er aus dem Gedränge der Stadt, wo die Menschen sich stritten, einander haßten und betrogen und sich fürchteten. Vielleicht hatte er so viel gesehen, daß er müde und das Herz voll Weh den Wald und die Hügel aufsuchte.

Das Summen der Bienen, das Zwitschern der Vögel und das erquickende Wehen eines leichten Windes in den Wipfeln der Bäume waren die einzigen Laute, die man hier vernahm. Ein Singen war im Herzen des alten Mannes, während er sein Bündel schulterte und den von Gras und Blumen überwucherten Pfad betrat. Noch war Friede auf Erden, hier auf den ewigen Hügeln. Der Lenker des Fahrzeuges hatte erklärt, Verlate sei gottverlassen und lebendig begraben - so erinnerte er sich, mit einem Lächeln auf den Lippen. Sollten in dieser Umgebung die Menschen nicht ein aufrichtiges Leben führen, voller Güte und in stolzer Demut? Während mehrerer Stunden ging er gleichmäßigen Schrittes bergan, hin und wieder innehaltend, um die Last auf seinen gebeugten Schultern zurechtzurücken. Im Wald riefen die Eulen, und der Abendstern führte das leichte Schiffchen der Mondsichel hinauf in den dunkelnden Himmel, als der alte Mann Verlate erreichte. Die Erde schien mitzuschwingen im gleichmäßigen Rhythmus der Grillen, Heuschrecken und Frösche. Die Bäume bewegten sich im Nachtwind, der ihnen vom tiefen Tal her zufächelte. Sie schienen zu atmen, zu flüstern, waren lebendige Wesen.

Die letzte Glut erlosch am westlichen Himmel, und schon war in Verlate die erste Kerze angezündet worden, als der alte Mann die einzige, mit Gras bewachsene Straße hinaufschritt, deren sich das Dorf rühmte. Seine lebhaften Augen nahmen die Umgebung und jedes Lebenszeichen in sich auf. Wie ein zurückkehrender alter Freund grüßte er die Männer und Frauen, an denen er vorüberging, und die kleinen Kinder, die um diese Zeit hereingerufen wurden. Die meisten standen still und starrten ihm nach, obgleich zwei oder drei von ihnen brummig seinen Gruß erwiderten. Niemand schien zu fragen, weshalb der Fremde hier im Dorf sei, und niemand zeigte sich, erstaunt, als er das zerbrochene Gatter aufhob und den von Unkraut erstickten Pfad zum Missionshäuschen hinaufschritt. Weil in Verlate keine Türe jemals verriegelt noch ein Fensterladen geschlossen wurde, so konnte der alte Mann die verwitterte Türe mit einem Druck seiner Schulter ohne große Anstrengung öffnen. Mit den erstaunten, großen Augen des Viehes beobachteten ihn die Leute, als er in der Dämmerung an ihnen vorüberging. Sie vergeudeten keine Worte. ihre Abgeschlossenheit und das bleierne Gewicht der Langeweile hatten die Leichtigkeit und das Bedürfnis, zu sprechen, erstickt. Worte brauchten sie nur, wenn Zeichen und Gebärden versagten, und ihre Gedanken durchliefen mühsam schwere, ausgefahrene Geleise.


In den nachfolgenden Wochen wurde der alte Mann ein Teil der Umgebung, ein Teil der Lebensweise der Leute von Verlate. Niemand fragte sich, weshalb er hier sei, noch fragte man ihn um das Woher. Seine Bewegungen wurden von den Nachbarn mit großen Augen verfolgt, seine Grüße erwidert oder stumm hingenommen. Er paßte sich ihrer Art an, ohne sich aufzudrängen und ohne lästige Fragen zu stellen, wie andere es vor ihm getan hatten. Nur mit den Augen schien er sie in sich aufzunehmen, wenn sie ihren bescheidenen Pflichten nachgingen, und seine Hände und der Rücken dienten ihnen so selbstverständlich, wie die Sonne ihre Wärme spendete und der Regen sie erquickte. Bei Sonnenaufgang, wenn die Männer an seiner Hütte vorübergingen, auf ihrem Weg zum Fällen der Baumriesen, war er schon rege. Und eben weil er sich so ganz natürlich in ihren Alltag einfügte, grollte ihm niemand, und niemand dachte daran, ihn mit den kleinen Pfeilen des Hasses zu verfolgen, die sie früher gebraucht hatten, um Fremdlinge zum Rückzug zu zwingen.

Die Männer standen still und starrten ihn ungläubig an, als sie eines Abends bei ihrer Heimkehr den alten Mann damit beschäftigt fanden, einen Zaun aus Kiefernholz um den Garten der Witwe Vermaak zu erstellen. Daß die alte Frau von dem Gemüse lebte, das sie auf dem halben Morgen Land um ihre Hütte wachsen ließ, wußten sie natürlich. Und sie wußten auch, daß Esel und Rindvieh nach Belieben darin herumstreiften und fraßen, was so mühsam gesät und gepflegt worden war. Nie war jemand auf den Gedanken gekommen, daß etwas getan werden sollte, um die Ernte der Witwe zu sichern.

Die alte Frau stand vor ihrem Hause; die rauhen Hände fest in ihre Schürze gewickelt, beobachtete sie den weißen Fleck am Ende des starken Zaunes. Es war alles, was ihre schwachen Augen vom weißhaarigen Kopf des Fremden sehen konnten. Erst am nächsten Tag, als die Männer wieder anhielten, um das ungewohnte Bild anzustarren, kam Piet Smidt auf den Gedanken, den er lange vergeblich gesucht hatte. Langsam näherte er sich, und wortlos hob er den Zaun und hielt ihn mit seinen starken braunen Händen fest, indessen der Hammer des Fremdlings auf und nieder ging. Der alte Mann sah auf und lächelte. Er nahm die Hilfe an, als sei sie das Natürlichste auf der Welt. Zusammen arbeiteten sie, bis es dunkel wurde und das blasse Licht der Kerzen hinter den vorhanglosen Fenstern flackerte.

Ganz freimütig verfolgten die einfachen Leute von Verlate, wie der solide Zaun das kostbare Land der Witwe Vermaak nach und nach immer mehr umgab. Und allmählich begann ein Funke von Anteilnahme zu glühen. Das Tor, das der alte Mann angefertigt hatte, schwang nun frei in den Angeln und konnte mit einem starken hölzernen Schloß gesichert werden. Und dabei blieb es nicht. In aller Ruhe, ohne Aufhebens oder irgendwelche Worte zu machen, flickte der Fremde das schadhafte Dach der Witwe und legte flache Stufen, damit sie nicht länger das gefährliche Brett begehen mußte, das von der Hintertür zum ausgetretenen Pfad hinunterführte. Nie fragte er seine Nachbarn um Hilfe und forderte irgend etwas von ihnen. Und da sie einfache Leute waren und wußten, daß bei andern, die ebenso arm waren wie sie selber, kein Geld herauszuholen war, erkannten sie, daß der Fremde bestimmt nicht um eigenen Gewinn arbeitete. Er war so arm wie sie selber. Seine Kleider waren voll Flicken, seine Kost war so einfach wie die der Ärmsten unter ihnen. Diese seine Armut war das Bindeglied und machte ihn zu einem der Ihrigen.

Während der alte Mann noch am Dach der Witwe arbeitete, geschah es, daß Piet Smidt die erste Schulterladung tannener Latten herbrachte und vor den ungläubigen Augen der Nach­barn einen Zaun um seinen Grund und Boden zu erstellen be­gann. Ohne weiteres nahm er die Hilfe des Fremdlings an, und bald waren auch Dan le Roux und sein Sohn Japie zur Stelle und arbeiteten mit ihnen. Tagsüber, während die Männer im Wald arbeiteten, ging der Fremde hin und wider, sah nach, was zu tun war, und tat es alsdann ohne Aufhebens und Erörte­rung. Fenster und Türen, die sich seit Jahren nicht mehr hatten öffnen oder schließen lassen, waren nun wieder instand; lecke Dächer und verstopfte Ablaufrinnen, beschädigte Möbel und erkrankte Tiere, alles erfuhr seine geduldige Fürsorge. Es gab endlos zu tun, und die Leute hätten sich wohl in hunderterlei Fällen auf ihn verlassen können. Aber sanft, jedoch bestimmt, bedeutete der alte Mann immer wieder durch seine Handlungen, daß er ein Nachbar, ein Lehrer, niemals aber ein Handlanger sei.


Ganz langsam, während der Monate, da die sommerlichen Tage länger wurden und das ewige Wunder von Saat, Blüte und Ernte die kleine Welt um Verlate verwandelte, wurde unter den einfachen Leuten, die hier vom Walde umschlossen wohnten, ein neuer Geist geboren. Nicht länger gingen die Männer mit niedergeschlagenen Augen an ihre Arbeit, sondern erhobenen Hauptes sahen sie die fernen Wipfel über dem grünen Meer des Waldes emporragen; sie beobachteten die wilde, leichtbeschwingte Anmut des Vogelfluges und das wechselvolle Schauspiel am Horizont. Als ob ihre Sinne nach langer Krankheit genesen wären, atmeten sie den Wohlgeruch ihrer grünen Welt, lauschten bezaubert dem süßen Gesang der Vögel, dem Winde und dem Bergbach. Und zwischen den hohen Stammen erschallte das Echo fröhlicher Kinderstimmen.

Wie in der Natur, so kamen auch hier die Veränderungen langsam, Schritt für Schritt, Gesichter, die lange verschlossen und düster gewesen waren, wurden nun vom Lächeln erhellt, die Probleme des Nachbarn wurden die eigenen, und erstaunt gewahrte man, daß das Mittragen stark machte. In mondhellen Nächten hörte man den alten Mann, der längst kein Fremder mehr war, im Hof hinter seiner Hütte arbeiten. Die Hammerschläge und das Kratzen seiner Säge verwoben sich mit dem Wiegenlied der Nacht, und wiederum ging ein Tag zu Ende. (...)

Weil alles, was der alte Mann tat, einfach hingenommen wurde, fand es auch niemand merkwürdig, daß er die alte, so lang vernachlässigte Holzkirche wieder instand stellte. Kein Unkraut verunzierte mehr den Pfad; das Gras um die Kirche mit dem frischen Anstrich war kurz gemäht, und das Sonnenlicht spiegelte sich in hellen Fenstern. Obgleich keine Gottesdienste darin abgehalten wurden, schien es den Bewohnern von Verlate doch ganz in Ordnung, auch auf ihre Kirche stolz zu sein.

Weihnachten war da, bevor sie es bemerkt hatten, denn in den vergangenen Jahren war das Fest gekommen und vorübergegangen, ohne daß man Aufhebens davon gemacht hätte. (...)

Es war das Geläute einer Glocke, das die Bewohner von Verlate in der Christnacht, kurz vor Mitternacht, weckte. Alle waren sich darüber einig, obgleich sie wußten, daß es in diesem Teil des Waldes keine Glocke gab mit so goldlauterern Klang ja überhaupt keine Glocke, um es genau zu sagen. Indessen dachte niemand im Traum daran, Worte darüber zu verlieren.

Verwundert, jedoch in aller Ruhe, verließen die Leute ihre Betten und kleideten sich an. Die Nacht war dunkel; aber ohne zu straucheln, fanden sie den Weg zur kleinen Kirche, von wo der Ruf hell durch die Nacht erschallte. Die Kirchentür stand offen, und langsam, leisen Schrittes betraten sie die Schwelle, über die sie in all den langen, stillen Jahren nicht mehr gegangen waren.

Was sie sahen, erfüllte ihre Herzen mit süßester Ehrfurcht. Denn dort, vor dem schwerfälligen hölzernen Altar, kniete der alte Mann, eine strahlende Gestalt, das gesenkte Haupt gekrönt von einem lichten Heiligenschein.

Alle konnten bezeugen, daß sie ihn gesehen hatten, daß der helle Glorienschein der knienden Gestalt die Kirche durchflutet und in jedem Herzen ewige Lichter der Liebe entzündet hatte... Und dann war er entschwunden, wenngleich die Kirche noch immer vom himmlischen Widerschein erfüllt war. (...)