Der kleine Wurzeltroll und die Weihe-Nacht

Diese Geschichte schrieb ich im Dezember 2004 für meine Tochter.


Es war einmal ein kleiner Wurzeltroll. Er lebte in einer großen Wurzel. Diese Wurzel gehörte zu einem noch viel größeren Baum, der bis in den Himmel wuchs.
Das jedenfalls glaubte der kleine Wurzeltroll. Wenn er nach draußen trat und in die Höhe blickte, konnte er die Spitze des Baumes nicht mehr sehen, so hoch war der Baum. – Die Wurzel, in der er wohnte, befand sich fast ganz unter der Erde. So war es auch im Sommer angenehm kühl. Ein kleines Stück von der Wurzel schaute aus der Erde heraus, und so hatte der kleine Wurzeltroll auch etwas Licht in seinem Zuhause.

Oft betrachtete er die Würmer, die - wenn es nicht wie jetzt gerade Winter war - in der Erde herumkrochen, und er paßte gut auf, daß kein Wurm die Wurzeln seines Baumes anfraß. Er schaute auch den Käfern hinterher, die munter zwischen den Würzelchen herumkrabbelten, und oft unterhielt er sich mit ihnen. – Am liebsten aber ging er spazieren. Deswegen verließ er seine Wurzel an den meisten Tagen schon gleich nach dem Frühstück. Draußen gab es so viel zu sehen! Er wanderte durch die Wiesen, durch die Felder, in den Wäldern und auf den Bergen.

Der kleine Wurzeltroll wachte auch an diesem Tag wieder früh am Morgen auf und trat hinaus aus seiner Wurzel. Als er zum Himmel hinaufschaute, sah er die Sterne leuchten wie funkelnde Edelsteine auf tiefblauem Samt. Bald würden sie verblassen, um der strahlenden Sonne zu weichen.

Als die Sonne langsam aufging, war der kleine Troll schon lange unterwegs und lief über die hartgefrorene Erde an den Wiesen und Feldern vorbei. Ja, die Erde war nach außen hin gefroren, denn es war sehr kalt geworden. Die liebe Erde trug die Sommerwärme jetzt tief innerlich in sich, da wo auch Würmchen und Käferlein sich verkrochen hatten, um auf den nächsten Frühling zu warten, und sogar noch ein bißchen tiefer.

Der kleine Wurzeltroll wußte, daß die liebe Erde nicht fror, sondern daß nur ihre äußere Haut hart geworden war. Gerade dadurch aber würde sie im nächsten Frühling wieder schön locker und weich werden, so daß alle Wurzeln und Würzelchen der Pflanzen wieder in alle Richtungen wachsen können würden.

Jetzt aber war davon nichts zu sehen. Der kleine Troll lief vorbei an abgestorbenen Grashalmen, an Buchen, Eichen und Ulmen, die ihre Blätter abgeworfen hatten, und an Feldern, die erst im nächsten Frühling wieder grün werden würden. Doch überall an den Halmen und Zweigen saßen kleine Eiskristalle und glitzerten in der Morgensonne. Der Rauhreif-Engel war in der Nacht durch die Lande gezogen und hatte alles mit seinem Glanz bedeckt!

Ein Eichhörnchen hüpfte auf dem Ast einer alten Eiche entlang und schaute zu dem kleinen Wurzeltroll hinab. Dabei fielen kleine Rauhreif-Kristalle wie feiner Staub langsam zur Erde nieder und glitzerten und glimmerten in allen Farben, die der kleine Troll jemals gesehen hatte... Wie schön war das!

Dann zogen während des Vormittags dichte Wolken auf. Und als es Mittag geworden war, fiel der erste Schnee des Jahres... In leisen Flocken sank der Schnee hinab, wie ein Geschenk des Himmels an seine Schwester Erde, die langsam von einem weißen Kleid bedeckt wurde. Glücklich sprang der kleine Wurzeltroll in die Luft und schaute immer wieder nach oben zum Himmel. Als es Nachmittag wurde, lag das ganze Land in einem friedlichen Weiß, und nur der Wurzeltroll, der die Wege entlang wanderte, hinterließ seine Spuren im Schnee.

Die Sonne ging langsam unter und färbte den Himmel und die Erde mit einem wunderschönen Rosa, das der kleine Troll noch nie gesehen hatte. Was er schon heute Morgen und dann am Nachmittag geahnt hatte, das wußte er jetzt: Heute war ein ganz besonderer Tag, eine ganz besondere Nacht.

Die Sterne zogen herauf und leuchteten klarer als sonst. Deutlich meinte der Wurzeltroll, ihre wunderbare Musik zu hören, die er in den vergangenen kalten Nächten wahrnehmen gelernt hatte. Aber heute war es noch eine andere Musik, fast wie von Engeln. Oder waren es sogar Engel? Der kleine Wurzeltroll wagte nicht, weiter zu denken.

Er wurde nicht müde und lief einfach immer weiter. Jetzt kam er in einen Wald hinein, der trotz der Nacht so hell war, daß man alles sehen konnte. Der Schnee leuchtete von unten, die Sterne glänzten von oben. Der kleine Troll wußte nicht, wie lange er schon gelaufen war. Da stand er plötzlich am Rande einer Lichtung, auf der sich ein einzelner, prächtiger Tannenbaum erhob. Weit streckte er seine Zweige in alle Richtungen aus. Zugleich war es, als ob er jederzeit einem anderen Baum Platz gemacht hätte, wenn es neben ihm einen gegeben hätte. Er stand aber ganz allein.

Der kleine Wurzeltroll stand staunend vor dieser Lichtung, die er vorher noch nie entdeckt hatte. Und er schaute verwundert auf diesen Baum, der so lieb und zugleich prächtig anzuschauen war, stolz und bescheiden, einsam und mutig. Und plötzlich war es dem kleinen Wurzeltroll, als würde alle Helligkeit der Sterne sich in den Zweigen dieses Tannenbaumes sammeln, als würden die Sternenstrahlen wie ein Strom zur Erde herabregnen, um jedes Zweiglein dieses Baumes in einen himmlischen Glanz zu tauchen.

Wie von ferne erinnerte sich der kleine Troll, daß die Menschen ein Fest feiern, das sie Weihnachten nennen,
und wo sie einen Tannenbaum wunderschön schmücken und Kerzen anzünden. Er aber sah den wunderschönsten Baum, den er sich denken konnte, hier draußen im Wald... Dann mußte wohl heute die Weihe-Nacht sein, in der das Christkind geboren ist! Das Herz des kleinen Wurzeltrolls jubelte vor Freude...

Dann sah er nicht weit von sich einen Fuchs sitzen, der auch voller Staunen auf den Baum schaute, wohl aber auch traurig anzusehen war. Da erkannte der kleine Troll ihn: Es war der alte Fuchs, dem er neulich einmal begegnet war. Er war krank gewesen und mochte wohl lange Zeit nichts zu fressen gefangen haben. Würde er bald verhungern müssen? Da aber sah er plötzlich noch jemanden, der auf den Fuchs zulief. Es war das Eichhörnchen von heute Morgen!

O weh, gleich würde der Fuchs sich voller Hunger auf das Eichhörnchen stürzen und es fressen wollen! Aber nein! Der alte Fuchs blieb ganz ruhig sitzen und schaute das Eichhörnchen an. Und jetzt sah der kleine Wurzeltroll, wie es in seinen Pfoten eine Menge Eicheln herbeitrug, die es im Herbst gesammelt hatte.

Der kleine Wurzeltroll wußte, daß der Fuchs keine Eicheln frißt. Aber was nützt alles Wissen, wenn es anders kommt? Was war dies für eine wunderbare Nacht? Der Fuchs schaute traurig auf das Eichhörnchen, dann erstaunt auf die Eicheln, die es vor ihm hinlegte, dann fragend wieder zum Eichhörnchen und wieder voller Dankbarkeit auf den kleinen Haufen von Eicheln. Dann begann er vorsichtig, eine Eichel nach der anderen zu fressen! Der kleine Wurzeltroll wagte kaum zu atmen, um dieses Wunder nicht zu stören. Das Christkind selbst muß dem Fuchs zugeflüstert haben, daß die Eicheln ihn satt machen würden – so glaubte der kleine Troll.

Als der Fuchs die wenigen Eicheln gefressen hatte, sah er überhaupt nicht mehr traurig aus, und der Wurzeltroll bemerkte, wie das Eichhörnchen und der Fuchs nebeneinander saßen und immer noch voller Staunen auf den Weihnachtsbaum schauten, der wie in wunderbarem Sternenglanz auf der Lichtung stand. Erst nach langer, langer Zeit war der Wurzeltroll wieder allein. Erst hüpfte das Eichhörnchen leise mit vorsichtigen Sprüngen wieder fort, dann ging wenig später der Fuchs mit langsamen Schritten wieder in den Wald hinein und schaute noch einige Male nach dem Baum zurück. Der kleine Troll aber blieb noch eine Ewigkeit und merkte nicht, wie die Zeit verging.

Erst am frühen Morgen konnte er sich von dem Wunder dieser Nacht verabschieden und machte sich dankbar auf den Heimweg. Ein heller Nebel lag auf den Feldern und Hügeln und erstrahlte in winterlichem Glanz, als die Sonne langsam aufging. Und ein glücklicher Wurzeltroll stapfte durch den frischen Schnee des ersten Weihnachtstages nach Hause. Nie würde er diese Nacht vergessen...