Der kleine Wurzeltroll und das Weihnachtsgeschenk

Diese Geschichte schrieb ich im Dezember 2005 für mein Patenkind.


Es war einmal ein kleiner Wurzeltroll, der lebte in einer großen Wurzel. Und die Wurzel gehörte zu einem noch viel größeren Baum.

Der kleine Wurzeltroll stand jeden Morgen früh auf. Und jetzt, wo es mitten im Winter war, da war es morgens noch ganz dunkel, und die Sterne funkelten am Himmel, als er nach draußen trat. In der Nacht hatte es geschneit, und jetzt schneite es noch immer! Der kleine Troll hüpfte vor Freude jubelnd in die Luft. Und dann machte er sich mit seinen kleinen Füßen auf den Weg. Stapf, stapf, stapf... hinterließen seine Füße eine Spur im Schnee, während vor ihm der Weg noch ganz unberührt da lag.

Heute war noch aus einem ganz anderen Grund ein besonderer Tag – ja der besonderste Tag im ganzen langen Jahr. Denn heute Abend war der heilige Abend, heute Nacht war die heilige Nacht. ... Weihe-Nacht, nannten es die Menschen. Und genauso hieß dann auch noch der ganze nächste Tag, und manchmal auch noch der übernächste.

Warum war dieser Tag so besonders? Es hatte etwas mit dem Christkind zu tun. Mit dem Jesuskind. In der heiligen Nacht wurde es geboren... Der kleine Wurzeltroll stapfte durch den Schnee und dachte an alles, was er schon von dem Kind und von der heiligen Nacht gehört hatte. Vieles hatte er schon gehört, denn alle Tiere wußten etwas von dem Geheimnis. Und sogar viele Bäume – die ganz alten. Und jedes Jahr wieder hatte er ein wenig vom Geheimnis der heiligen Nacht erfahren.

Während der kleine Wurzeltroll weiter durch den weißen Schnee stapfte, schaute er den weißen, fallenden Flocken zu. Wunderschön war jede einzelne Flocke, wie ein Edelstein so kostbar. Das war auch so ein Geheimnis: Woher kamen die Schneeflocken? Und wieso war jede anders als die andere? Und wieso war jede so wunderschön...

Und doch war das Geheimnis des Kindes und der heiligen Nacht noch größer... Plötzlich spürte der kleine Troll ein wunderbares Glück in sich. Er wußte genau, was er heute tun wollte. Er hatte es schon viele Tage und Wochen gewußt. An diesem Tag wollte er dem Kind das schönste Geschenk machen, das er sich vorstellen konnte. Am liebsten hätte er ihm die Schneeflocken geschenkt, aber die kleinen, wunderschönen Kristalle schmolzen in der Hand in einem Augenblick, kaum daß man ihre Schönheit geschaut hatte.

Das Schönste, was der Wurzeltroll sich sonst als Geschenk vorstellen konnte, waren die Edelsteine in der Erde. Wie war er immer glücklich und sogar erschrocken, wenn er einmal einen gefunden hatte! Nicht oft ging er einmal in die Berg­höhlen, wo die edlen Steine zu finden waren. Und selbst dann fand er ganz selten einen dieser besonderen Schätze... Dem Christuskind aber wollte er eines dieser Wunder schenken! Also würde er heute auch einen Edelstein finden.

Es war noch immer dunkel, als der kleine Wurzeltroll an der großen alten Eiche ankam, die schon seit Ewigkeiten an der Wegbiegung stand, wo der große Hangwald anfing. Der kleine Troll blieb vor der großen Eiche stehen und strich über die alte Borke. Sie war rauh und rissig, aber sie widerstand allem Regen und allen Stürmen. „Gute Eiche“, sagte der Wurzeltroll leise, „weißt Du wohl, wo ich einen Edelstein für das Christuskind finden kann?“

Er wußte nicht, ob die große Eiche ihn überhaupt hören würde. Und erst recht wußte er nicht, was er für eine Antwort erwartete. Still stand er eine Weile und schaute, wie die Flocken zur Erde niederfielen. In der Ferne ließ der Morgen einen rosafarbenen Schein am dämmergrauen Himmel erstrahlen. Doch halt, was war das? Ein sanftes Rauschen fuhr durch die Zweige der alten Eiche. Ganz kurz nur kam es ihm vor, als wollte dieses Rauschen ihm etwas sagen. Klang es nicht so, als wollte es sagen: Geh nur weiter in den Wald hinein...? Der kleine Troll war fest überzeugt, daß die alte Eiche geantwortet hatte. Ehrfürchtig verabschiedete er sich von dem riesigen Baum. Dann folgte er dem ansteigenden Weg in den Wald...

Eine Stunde lief er einsam durch den Schnee, dann traf er das Eichhörnchen, das auf einer kahlen Birke herumturnte. Inzwischen war es hell geworden, und das Eichhörnchen sah den kleinen Wurzeltroll schon von weitem. „Hallo, lieber Troll, wo willst Du denn hin?“ – „Liebes Eichhörnchen, ich will einen Edelstein für das Christuskind suchen.“ „Oh“, sagte das Eichhörnchen, als es diesen Namen hörte. „Da will ich Dir gerne helfen. Aber ich kann Dir nichts weiter sagen, als daß Du zur Eule gehen solltest. Sie weiß so vieles. Folge dem Steilweg bis zu der uralten Ulme am Steinbruch.“

„Vielen Dank für Deine Hilfe, liebes Eichhörnchen!“ sagte der Wurzeltroll und lief schnell weiter. Als er an den Steilweg kam, dachte er an die alte Eule, die er noch nie gesehen hatte. Aber die Eulen waren doch nur nachts wach! Und er mußte den Edelstein doch vorher finden, schließlich war doch schon heute heilige Nacht! Dennoch machte er sich voller Vertrauen an den Aufstieg. Der Steilweg war die meiste Zeit links und rechts von dichtem Gestrüpp umgeben. Im Sommer mochten hier leckere Beeren reifen, doch jetzt umgaben nur Dornen den Weg.

Mutig stieg der kleine Wurzeltroll weiter. Manchmal wuchsen um ihn her sogar die dunklen Eiben, die ein ebenso dunkles Geheimnis zu verbergen schienen und vor denen er sich immer ein wenig fürchtete. Aber er dachte an die heilige Nacht und stieg weiter den Steilweg hinauf.

Irgendwann merkte der kleine Wurzeltroll, daß der Schnee nicht mehr fiel. Eine dicke weiße Hülle bedeckte die Erde, und nur das leise stapf, stapf seiner Schritte war zu hören. In der Ferne rief eine kleine Tannenmeise mit ihrem feinen Stimmchen. Eine andere antwortete, dann war es wieder still. Stundenlang mochte der kleine Wurzeltroll wohl nun schon gegangen sein. Die Zeit war wie stehengeblieben. Er wußte nicht, ob es schon Mittag war oder sogar schon Nachmittag.

Da wurde der Weg etwas flacher, und unvermittelt stand er vor einem großen alten Baum, dessen starke Äste sich in seltsamen Gestalten nach allen Richtungen hin streckten. Viele Zweige sahen aus wie Arme, manches Muster in der uralten Borke sah aus wie ein Gesicht. Geheimnisvoll stand der alte Baum da wie ein mächtiger Wächter des Berges. Und plötzlich wußte der kleine Wurzeltroll, daß dies die uralte Ulme war.

„Ich habe schon auf Dich gewartet“, sagte eine etwas krächzende, doch zugleich sanfte Stimme. Erschrocken schaute der kleine Troll nach oben und sah erst jetzt auf einem der unteren Äste eine große Eule sitzen. An einigen Stellen waren ihre Federn sehr zerfranst, und sie schien schon sehr alt zu sein. Aber mit wachen und sehr lebendigen Augen schaute sie jetzt auf den kleinen Troll herunter. „Schläfst Du denn nicht?“ fragte der Wurzeltroll vorsichtig. „Schläfst Du etwa?“ fragte die Eule. „Nein, aber...“ – „Ich weiß schon, was Du sagen willst“, sagte die Eule. „Normalerweise schlafe ich tatsächlich am Tage. Aber ist heute ein normaler Tag?“ – „Nein“, sagte der kleine Troll. – „Siehst Du“, sagte die Eule, „weil die heilige Nacht naht, bin ich auch den ganzen Tag schon wach. Man muß sich würdig auf das Wunder vorbereiten, sonst kann man es nicht erleben.“

Der kleine Troll verstand den Sinn der Worte nur halb. Aber die Eule fuhr fort: „Und außerdem habe ich auf Dich gewartet, um Dir zu helfen. Schau dort!“ und sie wies mit einem Flügel auf einen Haselstrauch, der sich versteckt an einen verschneiten Felsen duckte. „Dort wirst Du finden, was Du suchst.“ – Verwundert ging der kleine Troll die wenigen Schritte zu der bezeichneten Stelle. Als er dort war, sah er den Eingang zu einer Höhle. Fragend schaute er zurück zur Eule. Die aber sprach mit sanfter Stimme: „Meine Hilfe habe ich Dir gegeben. Alles weitere mußt Du allein tun.“

Dankbar grüßte der kleine Troll die alte Eule zum Abschied, dann kletterte er in die Höhle hinein. Es war nur ein kleines Loch als Eingang, doch drinnen war die Höhle größer als er erwartet hatte. Dunkel weiteten sich die Wände nach allen Seiten. Von irgendwoher drang ein schwacher Lichtschein ins Dunkel, und nachdem der kleine Troll sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, konnte er doch ein bißchen sehen. Mutig stieg er in die Dunkelheit hinein und folgte dem Gang der Höhle, wie sie sich weiter in den Berg hinein erstreckte.

Aufmerksam schaute er, was ihm begegnen würde, aber es wurde nur immer dunkler. Weiter und weiter ging der kleine Wurzeltroll. Er konnte kaum noch seinen Weg erkennen. Wie sollte er hier etwas finden? Plötzlich umschloß ihn das Dunkel ganz. Nicht einmal seine Hand konnte er sehen. Da schien es ihm, als würden von überallher dunkle Finger nach ihm tasten, und er bekam große Angst. Dann aber dachte er an die Eule, die ihm den guten Rat gegeben hatte. Und dann dachte er an das Christuskind, dem er das schönste Geschenk machen wollte, das er finden konnte.

Und plötzlich hatte er überhaupt keine Angst mehr. Und da waren überhaupt keine Finger, die ihm etwas tun wollten. Es war einfach nur dunkel. Die Dunkelheit war vielmehr wie eine sanfte Hand, die ihn einhüllte. Aber war es wirklich ganz dunkel? Leuchtete dort nicht etwas ganz schwach? Es leuchtete dort etwas! Der kleine Wurzeltroll ging dem schwachen Schimmer entgegen. Dann berührte er ihn. Hob ihn auf, nahm ihn in seine kleine Hand und ging wieder dem Licht entgegen.

Er wagte nicht, seine Hand zu öffnen, bis er wieder am Höhlenausgang angelangt war. Die Eule saß nicht mehr auf ihrem Ast. „Alles weitere mußt Du allein tun“, hatte sie gesagt. Wie lange war er in der Höhle gewesen? Er öffnete seine Hand und schaute, was darinnen lag... Es war ein glitzernder Edelstein! Im Licht glitzerte und funkelte er, wie nur ein Edelstein funkeln kann. Einmalig wie eine Schneeflocke sah er aus. Wie konnte es denn aus dem Himmel und auch in der Erde so etwas Schönes geben? Genau diesen Stein wollte er dem Christuskind schenken!

Aber wie? Jetzt fiel dem kleinen Wurzeltroll ein, daß er das Christuskind noch nie gesehen hatte. Er hatte zwar viele Geheimnisse gehört, aber wie sollte er ihm sein Geschenk machen? Wußten nicht die Menschen mehr vom Christuskind als er und die Tiere und die Bäume? Hatten nicht die Menschen sogar in der heiligen Nacht kleine Krippen – solche, wie die eine, in denen das Christuskind geboren wurde? Wenn sein Geschenk in einer kleinen Krippe der Menschen liegen würde, dann würde das Christuskind es bestimmt finden.

Da erinnerte sich der kleine Troll an den alten Raben – und an die kleine Aurelie, zu der der Rabe schon einmal geflogen war. Ob sie sich noch daran erinnerte? Laut rief der kleine Troll nach dem Raben, und schon bald hörte er ein Flügelschlagen und Krächzen über sich. Der alte Rabe landete im Schnee neben ihm. „Lieber Rabe“, sagte der kleine Wurzeltroll schnell, „bitte nimm diesen Stein und bring ihn der kleinen Aurelie! Nur sie kann ihn dem Christuskind in die Krippe legen. Dann ist es sein Geschenk.“

„Das mache ich gerne“, sagte der alte Rabe, nahm den Stein in den Schnabel und flog hin zu Aurelies Haus. Unterwegs fand er noch ein Brieflein, in das er den Stein hineinlegen konnte. Und schließlich fand er sogar den Briefkasten, ließ den Brief dort hineinfallen und kehrte wieder in den Wald zurück.

Der kleine Wurzeltroll aber stieg glücklich den Berg hinab. Inzwischen war es Nachmittag geworden. Es wurde langsam dunkel, heiliger Abend... Während er in aller Stille durch den Schnee stapfte, dachte der Wurzeltroll an alles, was er heute erlebt hatte, und an alles, was er jemals vom Christuskind gehört hatte. Und als er wieder im Tale war, war die heilige Nacht angebrochen. Über dem Wald funkelten die Sterne. Alle Tiere waren wach in dieser heiligen Nacht. Und sie feierten auf ihre Weise das Geheimnis der Weihnacht, und der kleine Troll mit ihnen, doch das ist eine andere Geschichte...

Der Stein aber war jetzt bei Aurelie. Und so könnte er in ihrer Weihnachtskrippe liegen, damit das Christuskind ihn dort finden könnte.