Weihnachtsfrieden

von Sigrid Undset, aus: Gisela Fjelrad (Hg.): Unter dem Tannenbaum. Die schönsten Weihnachtsgeschichten. Bertelsmann, o.J.


Die Altmutter in Uvaasen, Helga, kam aus dem kleinen Stall, setzte den Milcheimer im Schnee ab und sah auf in die Luft. Doch der Himmel war grau verhängt und schneeschwer. Und auf dem Anger lag der Schnee wie ein Leichentuch, ohne Licht und Schatten - kaum konnte man die Wölbungen über den Unebenheiten im Gelände erkennen. Die Spur des Bachlaufs, der in sommerlichen Tagen an ihrem Anwesen spielerisch vorbeirauschte, war nur als ein grauer Schatten sichtbar. Signes Skispuren verschwanden da unten. Dort hinüber sieht die Großmutter. Signe mußte nun wohl bei Hallsteins angekommen sein. Von dort waren es noch zwei Stunden zur Kirche. Uvaasen lag weiter weg an einer Hügellehne. Bergauf, bergab umringt von Wald, auf allen Seiten die Rodung. Man sah nichts anderes als die blauschwarze, weißspitzige Waldecke und erblickte höchstens gegen den Himmelsrand die Zinnen eines Schneegebirges mit Granitwänden und Gipfeln, die sich nun weiß von dem grauwolkigen Himmel abhoben. Der Wald brauste - und sie konnte das Gemurmel des Baches unter der Decke aus Eis und Schnee vernehmen. Mutter Helga blickte auf das neu von der Tür leuchtende Teerkreuz, nahm den Eimer auf - die Wärme der Milch hatte in der Schneedecke einen Ring ausgeapert - und beging den schmalen Pfad, der zwischen dem Haus und dem Stall geschaufelt war.

(...)

Nun war draußen halbe Dämmerung. Unten im Tal hatten die Glocken sicher schon Weihnachten eingeläutet. Die Alte verweilte kurz auf dem Beischlag und sah in die Ferne. Es war Arnes letzte Arbeit gewesen, daß er diesen Beischlag baute, um das Haus etwas behaglicher zu machen. Er starb, da sie sieben Jahre verheiratet gewesen waren, fast genau auf den Tag.

Am vierten Tag nach Brittivamesse wurden es sieben Jahre, daß Haldor mit Signe Hochzeit getrunken hatte. Sollte sie nun ein gleiches Schicksal erdulden - hier sollten sie sitzen, zwei Witwen mit drei kleinen Kindern und einem vierten, das man gegen den Halvardstag erwarten konnte? Ach nein, Signe benötigte es besonders, unter einem Kirchendach weilen zu dürfen, dort, wo die Priester sangen und die Lichter auf dem Altar brannten und der Weihrauch über die Gemeinde hinzog, die in Ordnung stand, ruhig und in Sicherheit, während draußen im Dunkel alle bösen Geister rasend einherfuhren; denn zu Bethlehem war Marias Sohn geboren, und gebrochen war ihre alte Herrschaft. Helga nahm Ingegjerd und hob das Kind vorsichtig über die hohe Schwelle.

Signe hatte die Stube richtig in Ordnung gebracht, bevor sie sich auf den Weg machte - Großmutter sieht es -, sie hatte harzreiches Holz auf die Herdstelle gelegt und die Weihnachtskerze auf die Holzbank gestellt - mit einem Tisch konnten sie in Uvaasen nicht Staat machen. Helga beugte sich über ihren Sohn. Er schlief nun. Seine Frau hatte ihn gewaschen, sein Haar und seinen Bart gestutzt und ihm ein reines Hemd angezogen. Aber er war bleich wie Bast, und seine Hände lagen gelblichweiß auf der Bettdecke. Sie machte ein Kreuzeszeichen über Haldor und sprach ein Ave, bevor sie sich daranmachte, den Kindern das Essen zu geben. Die kleinen Mädchen starrten erwartungsvoll, da Großmutter den Schimmel vom Weizenbrot abkratzte, es mit dem Messer kreuzte und in vier Teile zerschnitt. Dann zerbrockte sie ohne weiteres den einen Teil, warf die Stücke in die Fischpfanne, hob sie vom Kesselhaken und trug das Essen zur Bank.

Arne, das Enkelkindchen, rührte sich in seiner Hängewiege und schrie - er roch das Essen. Die Großmutter nahm ihn auf den Schoß und preßte ihn jedesmal etwas an sich, wenn sie einen Bissen in seinen offenen Mund steckte.

Schöne Kinder hatte Signe ihrem Mann geboren, und sie versorgte sie und alle Dinge im Hause gut. Großmutter dachte günstiger über die Junge heute in dieser Nacht. Auch an Olav dachte sie, der sie verlassen hatte, da er seine Braut durch eine tödliche Krankheit verlor, die ihm versprochen gewesen war seit seinen Knabentagen - er konnte sich seitdem in Uvaasen nicht wohlfühlen. Durch Sira Benedikt hatte er ihr Grüße übermittelt vor drei Wintern, und er - der Sohn - sandte einen Mantel heim für sie mit einem der Knechte des Bischofs zu Hamar. Damals war er in Hamar gewesen; nun war er nicht mehr dort, sie wußte gegenwärtig nichts von Olav. -

Nein, sie hatte an Signe nichts anderes auszusetzen, als daß sie ein Kind ohne Sippe war, aufgezogen durch die Barmherzigkeit fremder Leute, und daß sie zart und von schwacher Gesundheit zu sein schien. Wohl weil die Frau so wenig aushielt, hatte Haldor sich nicht um eine gründlichere Bewirtschaftung des Anwesens bemüht - ihre Arbeit wurde leichter, wenn er sich mit Jagd beschäftigte und Tagewerk unten im Kirchdorf annahm. Er stand sich gut dabei durch seine Tüchtigkeit, und er brachte schwere Lasten notwendiger Dinge heim. Aber sollte er nun im Siechtum liegenbleiben, so war es bös, daß die Bewirtschaftung sich seit Olavs Zeit verschlechtert hatte. -


Zur Zeit der Bartholomäusmesse hatte er sich durch einen Fall schwer beschädigt. Er hatte das Bett hüten müssen gerade bis zur Klemensmesse. Da hatte er sich ein wenig erholt und nun in der vorigen Woche wollte er einmal wieder einen Waldgang machen - versuchen, an frisches Fleisch zum Feste zu kommen und an ein Fell, welches er gegen Mehl und Speck eintauschen konnte. In der Dunkelheit kam er wankend heim, so krank, daß man ihm ins Bett helfen mußte. Seitdem ging es ihm schlechter denn je. - Helga näherte sich dem Bett. Ihr Sohn lag wach mit rotglühenden Wangen und heißen glänzenden Augen. „Mutter“, sagte Haldor leise, „meine Fallen stehen draußen heute in dieser Nacht!“

„So ist es wohl“, antwortete die Mutter etwas kurz angebunden. „Aber das ist doch nicht deine Schuld“, sagte sie freundlich eine Weile später. „Versuche in Christi Namen zu schlafen - er weiß wohl, du wolltest es nicht.“

Seitdem Christenmenschen in Norwegen lebten, war es Sitte gewesen, daß vom Heiligen Abend bis zur Mitternacht nach dem letzten Weihnachtstag Friede und Versöhnung walten sollte zwischen allen Geschöpfen Gottes. Sankt Olav selbst hatte dieses Gesetz eingeführt, sagte das Volk, und es hart vergolten, zu seinen Lebzeiten hier auf dieser Welt und später im jenseits, wenn Männer Fallen und andere Fanggeräte über die Weihnachtsfeiertage draußen stehenließen.

„Vielleicht kann die Sache in Ordnung gebracht werden, Haldor“, sagte sie, „wir veranlassen jemand, hinaufzugehen und die Fallen am dritten Tag abzustellen. Vielleicht könnte ich selbst gehen, du hast sie im Rundvatstal gesetzt, meine ich?“
„Ist es zu spät diesen Abend?“ fragte Haldor, ohne die Augen zu öffnen.
„Draußen ist schon die Nacht eingebrochen“, antwortete die Mutter.
„Sie müssen leicht zu finden sein - ich machte an diesem Tag keine langen Wege - sieben Schneehuhnschlingen am Oberlauf des Baches und die zwei Luchsfallen - eine in der Wildnis just unter den Zwillingsföhren und eine auf der oberen Seite der Jardtrudsheide.“

Die Mutter antwortete nicht. Ein wenig später schien er wieder einzuschlafen. Helga flüsterte den Enkelinnen zu, sie könnten gerne das, was von Vaters Essen im Napf übrig war, aufzehren, denn im Sitzen schielten sie unaufhörlich auf die Brotstücke, die aufgelöst in der Fischbrühe schwammen. Sie hatte Brot hinreichend für alle hohen Feiertage und Fleisch für morgen.

Der Sohn wehklagte leise: „Mir ist, als ob eine Schere in meinen Rücken schneide, Mutter. - Ach, ich werde von dem Schmerz nicht befreit, solange meine Fallen draußen stehen - und auch meine Kehle preßt es zusammen.“
„Es ist dir doch bekannt, daß ein Christenmensch in dieser Nacht nicht draußen in Berg und Tal sein soll“, sagte die Mutter.
„Jaja.“

Aber sie sah, daß der Schweiß unter dem hellen Haar hervorquoll und sich in Tropfen auf der Oberlippe sammelte. Sie hatte die drei Kleinen zur Ruhe gebracht, sie waren gerade im Begriff einzuschlummern, da schrie Vater, daß sie auffuhren.

„Du solltest versuchen, dich zu beherrschen, Haldor“, sagte die Mutter beinahe barsch.
„Ja, ja, ja, ich werde es - aber ich kann nicht, Mutter!“
„Haldor, du weißt es, ich würde es um deinetwillen wagen, mein Sohn. Aber du mußt denken, wie es um Signe und die Kinder stünde - solltest du nicht gesunden -, wenn ich nicht da wäre.“

Zustimmend rührte der Sohn den Kopf. Doch der Mutter war es, als sollte ihr eigenes Herz brechen, da sie sah, wie er die Zähne zusammenbiß und schmerzvoll die Hände öffnete und ballte. Schweiß floß über ihn.

Freilich, die Weihnachtsnacht war die gefährlichste aller Nächte im Jahr. Sogar unten in den dichtbevölkerten Kirchdörfern hielten sich die Leute nicht draußen auf den Wegen auf, es sei denn, sie gingen zur Kirche; jedermann beschützte seine Tür mit dem Kreuz und Weihwasser. Und dennoch hörte man, daß die Wilde Jagd Macht bekam über Menschen in dieser Nacht, die ihre Sünden nicht gebeichtet hatten. Große Sünden hatte sie zwar nicht begangen, seitdem sie das letztemal zu Ostern beichtete. Gleichwohl wird ein nettes Päckchen aus all dem Verkehrten, was man jeden Tag sagt und tut und denkt. Und jene bösen Geister nahmen Bezug auf alles, auf das sie unter dem Schein des Rechten Hand legen konnten. Nein, es war für einen armen sündigen Menschen ganz und gar unmöglich, sich heute nacht in Wald und Gebirg hinauszuwagen.

Sie fuhr auf - sicherlich war sie eingenickt, als sie auf dem Bett saß. Haldor lag wach. „Hast du nun große Schmerzen?“ Er nickte nur.

Ave stella matutina,
peccatoruin medicina,
mundi princeps ei regina - 

ach, von was hatte sie nun geträumt? Von dem Land ihrer Kindheit und vom jungen Andres Simonssön, dem Erben des großen Hofes, ihrem Spielgenossen in jenen Tagen. Es war wie ein Zeichen, daß sie in dieser Nacht daran erinnert wurde. Ja, allein waren sie in der Weihnachtsnacht weggegangen, zwei Kinder, im Alter von elf Jahren, durch den großen Wald waren sie gewandert und hatten sich allein über den Strom gerudert. Und Andres hatte das Lied „Ave stella matutina“ gesungen, während sie Seite an Seite auf der Ruderbank saßen und die Riemen bewegten. Schwarz rann der Strom zwischen den fahlen Ufern, eine weiße dünne Eisschicht lag zwischen den hellen Sandbänken im Flußbett. Grau verhängt war die Nacht und schneeschwer der Himmel wie heute, sie konnten mehr ahnen als sehen, wo Land ihnen winkte. Aber da hob sich die Wolkendecke im Süden, sternklar stand der Himmel über Vardaasen, und ein Stern leuchtete so groß und hell, daß er eine Lichtbrücke baute über den schwarzen Strom, der im Kielwasser des Bootes glitzerte und glänzte. Das war nicht der Morgenstern, und er glänzte nicht über dem Meer, sondern nur über ihrem Strom - doch sie meinten, es wäre ein Zeichen, und fuhren fort, das Lied zu singen, bis ihr Boot sich in den Sand des Kirchenufers bohrte. In jener Nacht hatte sie sich nicht gefürchtet. Peccatorum medicina bedeutet Heilmittel gegen die Sünden und mundi princeps et regina Herrscherin der Welt und Königin, sagte Andres. Sie wußte, daß er irgendwo tief unten im Süden des Landes Pfarrer gewesen war, und später sollte er in ein Kloster bei Björgvin gegangen sein. Ob er noch lebte, wußte sie nicht.

Haldor schlief nun - aber er stöhnte im Schlaf wie ein Kind. Es tat weh, ihn so zu hören, den großen, starken, jungen Mann. Daß sie gerade nun von Andres und ihrer Fahrt in der Weihnachtsnacht geträumt hatte! War es vielleicht, um erinnert zu werden, daß es einen gab, der stärker war als alle Riesen der Welt und alle bösen Geister und Totengespenster? Aber damals waren sie zwei unschuldige Kinder gewesen, die zur Kirche sollten. Aber ging sie aus, die Fallen zu holen, die draußen als ein Frevel gegen den Weihnachtsfrieden standen, so war das wohl auch eine gute Tat, auch das.

Helga erhob sich plötzlich, stand noch eine Weile und bedachte sich. Dann machte sie das Kreuzeszeichen über den Sohn und die Kinder in der Ecke, bedeckte die glühenden Kohlen auf dem Herde und blies die Weihnachtskerze aus. „In Gottes Namen gehe ich hinaus in diese Nacht.“


Draußen lag ein bleiches Licht über der weiten Welt - der Mond stand hinter den Wolken. Sie fand Haldors Skier und band sie an ihre Füße. Der verharschte Schnee kratzte und knirschte leicht - es hatte gefroren. Oben auf dem Anger lag eine Schneewächte hoch über dem Zaun des Hofes. Helga setzte dort über und fuhr durch den Busch hinunter zur weißen Fläche des Moors. Im gleichen Takt, wie sie die Skistöcke in den Schnee bohrte, sprach sie ihre Gebete und vereinzelte Bruchstücke jener lateinischen Verse, die Andres sie gelehrt hatte. Richtig konnte sie diese kaum wiedergeben; sie hatte keine klare Vorstellung, was sie bedeuteten. Aber sonderbar war es, all das, was nun nach vierzig Jahren mit einemmal in ihrem Gedächtnis auftauchte.

Zuerst war sie gar nicht ängstlich. Es half auch, daß es so wunderbar leicht für sie ging - mit einem Schlage fand sie alle sieben Schneehuhnschnüre, die Haldor gelegt hatte, die befanden sich im Birkenanwuchs des Hanges am Bachlauf. Nur in dreien von ihnen waren Vögel gewesen, und zwei hatten Marder ausgeplündert.

Bis zum Orreleiks-Moor lief der Bach unter einer niedrigen und steilen Bergwand, die, schwarz und schneefrei, deutlich zu erkennen war. Soweit war es leicht, sich zurechtzufinden. Bei der Einmündung des Baches in das Moor wandte sich die Bergseite nach Süden und Osten, und folgte sie ihr, bis sie die sonderbare Nase wahrnehmen konnte, die der Jardtrudsbühel aufwirft und übers Moor herabhängen läßt, so würde sie wohl alsbald die Zwillingsföhren und die erste Luchsfalle erreichen.

Einmal, da sie gezwungen war, anzuhalten und die Bindung durch einen frischen gedrehten Weidenzweig zu verstärken, mußte sie lauschen. Das sauste und brauste in der Luft - sicherlich war es nur der Wald. Doch es war peinigend, ins Dunkel zu spähen. Schon einige Schritte weiter schmolzen das Schneefeld und die Weidenbüsche draußen im Moor und die Bäume zu einer schwarzen und graugefleckten Finsternis zusammen. Es war unmöglich, die Nase der Jardtrudshöhe in dem undeutlichen Luftumriß des Hügelzuges wahrzunehmen. Und nun, da sie stillstand, empfand sie das leise, unabwehrbare Saugen des Windes, der, vom Harsch oben kommend, eisig ihr Wams aus Renntierleder durchdrang; sie war durch das Laufen in Schweiß geraten. Helga fühlte, daß ihr Herz zu hämmern begann. Das Brausen konnte tönen wie der Lärm eines fernen Rittes, das Dunkel schien sich unruhig und zottig zu bewegen, als sie spähte und starrte. Sollte sie umkehren - die Luchsfallen konnten doch nicht so über alle Maßen sündig sein; der Luchs ist wahrhaftig das ärgste Untier.

Aber es war nimmer ihre Art gewesen, sich mit halbgetaner Arbeit zufriedenzugeben. - So schlug sie wieder ein Kreuz, stemmte die Stöcke in den Schnee und setzte sich nachdrücklich in Gang.

Merkwürdig immerhin, wie lang der Weg übers Moor war in dieser Nacht! Sie blieb stehen, versuchte sich zurechtzufinden, aber hier standen die Fichten dicht im Umkreis. Sie fuhr dorthin, wo es am meisten unter ihnen leuchtete, denn da mochte im Sommer ein Viehpfad sein. Das Gelände fiel rasch ab - dann stürzte sie, ihre Skier waren in einen kleinen Weidenbusch geraten.

Sie stand auf, schüttelte den Schnee ab und fand die Skier und Stöcke. Es sah aus, als ob sie sich im Bachbett befände, und sie vermutete, sie wäre nicht dort, wo sie ihrer Berechnung nach hätte sein müssen, Am besten, zu wenden und ihre eigene Spur zum Moor zurückzuverfolgen. Ein rauher, feuchtkalter Luftzug schlug ihr entgegen. Vielleicht kam er vom Bach, der in den Jardtrud-Moorsee mündete. Dort war immer eine offene Wake, die Nebel erzeugte,

Unmittelbar darauf war sie mitten in dickem, feuchtem und eiskaltem Nebel. Die Frau aus dem Anwesen im Walde wußte, das war nicht der Eisnebel einer kleinen Wake; Nebel war es, der sich vom Gebirge herwälzte. Nun wurde es gefährlich - blieb die Nebelbank stehen, so konnte sie heute nacht nicht nach Hause finden. Und wenn sich der Nebel im Laufe des Tages nicht hob, auch morgen nicht. Bald darauf klang der Skibug gegen Metall. Es war eine der Fallen Haldors. Einen dankbaren Seufzer sandte sie gen Himmel, so war sie entweder bei den Zwillingsföhren oder oben auf der Höhe auf der anderen Seite des Hügels. Da war nur notwendig, sich so hoch wie möglich emporzuarbeiten, Gott walten zu lassen und zu warten, bis der Nebel sich hob. Keine Gefahr drohte, daß sie sich verirren würde - und erfrieren konnte sie nicht heute nacht.

Die Falle war umgerissen und der Schnee dunkel gefärbt, sicher von Blutspuren, aber kein Tier zu bemerken. Der arme Haldor, er war wohl schon zu krank gewesen, als daß er die Falle hätte richtig aufstellen können. Sein Gerät durfte nicht hier stehenbleiben und von Frostrauch beschädigt werden, vielleicht in Verlust geraten.

Die schweren Eisenkloben über dem Rücken, mühte sich das alte Weib hinauf. Dicht stand der Wald auf dem steilen Abhang der Kuppe - es war nur wenig Schnee unter den Bäumen, die zwischen großen Rollsteinen wuchsen. Helga schüttelte die Skier ab und nahm sie unter die Arme, stapfte die Steinhalde hinauf und schlug mit ihren Beinen gegen Blöcke, die rollten und wegglitten, trat mit den Füßen in Löcher, die der dünne Schnee oberflächlich bedeckt hatte.

Schließlich stand sie oben auf einer kleinen weißen Platte zwischen großen Fichten; sie war über dem Nebel, der wie ein weißer See unter ihr lag, und gegen den graudunklen Himmel konnte sie den finsteren Rand des Hügelzuges ihr gegenüber wahrnehmen.


Und nun - Jesus, mein Gott! - befreie uns von dem Übel! Auf der Höhe ihr gegenüber leuchtete ein rotes Feuer. Herr, hilf uns! - Das strahlte aus einer offenen Tür, ja, da stand eine Tür offen im Berge. Und darüber war ein Gebrüll, daß Helga glaubte, ihr Blut erstarre und werde zu Eis. Sie warf sich voll Grauen in den Schnee, zeichnete einen Kreis um sich und ritzte in den Harsch Kreuze, entsprechend den Weltgegenden. Sie verschränkte die Arme über ihrer Brust, drückte den Kopf in das Leder der Kleidung und betete immer wieder inbrünstig das Vaterunser und das Ave. „Herr, du mein Gott, hilf mir wider den bösen Feind, laß ihn nicht Macht gewinnen über mich!

Gott, o Gott, ich glaube, daß du stärker bist als alle Heerscharen der Hölle, heilige Maria, du vermagst doch mehr als der Riese im Jardtrudshügel, das glaube ich mit aller Kraft meiner Seele Gott ist meine Zuversicht. Befreie uns von dem Übel!“

Ach, ach - was war das für ein Ton - da drüben im Berge sang es, sie vernahm Gesang über dem Brausen des Waldes, legte die Arme über die Ohren, um ihn nicht hören zu müssen.

Nach einer Weile mußte sie sich gleichwohl ein wenig aufrichten und lauschen - aber das war ja heiliger Gesang, das waren Töne, die sie von der Kirche her kannte - ein Weihnachtslied.

Konnte das narrendes Blendwerk böser Geister sein? Oder nein, das war nicht Jung-Andres' helle Kinderstimme, das war eine rauhe Mannesstimme. Gleichviel, entweder war das Gesang von Toten oder von Engeln im Himmel - das Licht in der Bergkuppe verschwand, und sie hörte, wie drüben im Berge eine Tür geschlossen ward. Helga kroch in ihrem Kreis zusammen, zog die Knie an sich und faltete ihre Hände über sie. In ihnen das Antlitz geborgen, nahm sie die Töne des Weihnachtsliedes in sich auf und summte ganz leise mit.

Wie lange sie so gesessen hatte, wußte sie nicht. Aber da sie endlich das Antlitz hob, sah sie über sich einen strahlenden Stern. Der Mond mußte untergegangen sein, denn zwischen den helleren Wolken war der Himmel ganz schwarz, aber mitten in der Wolkenlücke glänzte ein Stern, groß und klar - wie er leuchtend über dem Strom in der Heimat gestanden hatte, damals, als sie und ihr kleiner Spielgefährte auf dem schwarzen Wasser zwischen den hellen Strandstreifen zur Kirche ruderten.

Steif und verfroren richtete sie sich auf und verbeugte sich vor dem Stern. Dann kniete sie nieder und betete ohne Furcht vor allen Mächten der Welt. Und sie empfand mit einem Male, daß sie auf jeden Fall sich in dieser Welt in großer Gefahr befunden habe, wenn die bösen Geister es vermocht hätten, sie zu verwirren oder sich ihr sichtbar zu machen: aber sie hatte sich höheren Mächten anvertraut. Sie hatten gewaltet - denn sie fühlte, wie sie sich in die Ferne verzogen, der Wald sauste mit einem anderen Ton, wie ein Mensch, der aufatmet, aus einem bösen Traum erwachend, und sich ausstreckt und in friedlichen, gleichatmenden Schlaf versinkt.

Nun schlummerte still die ganze Welt, die Anwesen ruhten tief unter der milchweißen Schneedecke, die unter ihr lag, so weit das Auge reichte. Oben hoben sich die Hügelkuppen dunkel und in süßem Schlaf vom Himmel ab, während die Wolken mehr und mehr wegglitten; immer weiter breitete die Nacht ihren bestirnten Mantel über die Welt aus, und der eine große Stern, heller als alle anderen, leuchtete, als wäre er ein Wachtfeuer.

Über den Anhöhen im Südosten begann sich die Luft ganz schwach aufzuhellen, und der Himmel erblich beinahe unmerkbar um die Sterne und machte ihr Licht milder, gleichsam feucht glänzend: da brach Helga Fichtenzweige ab, grub sich eine Liegestatt in der Mitte des Kreises, deckte sich mit Reisig zu und scharrte Schnee über sich. Wie ein Waldtier kroch sie zusammen, sprach ihr Nachtgebet - sie wollte sich eine Weile ausruhen, bevor sie den Heimweg begann. Denn nun war sie müde.

Sie versank in Träume vom heimatlichen Strom und Jung-Andres. Schließlich war es ihr, als stünde sie oben auf der stillen Anhöhe des Storberges und sähe Jungfrau Maria hastig den steilen Saumpfad nach Storberge hinaufgehen.

(...)

Helga hob ihre Augenlider und schloß sie geblendet wieder. Über ihr spannte sich der Himmel in funkelndem Blau, und der Glanz des Schnees war den Augen unerträglich, so leuchtete und glitzerte er weißgolden und kristallisch mit reinen blauen Schatten, und der Wald stand so grün, daß er glänzte. Doch über sich sah sie das Gesicht eines Mannes gebeugt - ein braunrotes rundes Antlitz mit blondem gewelltem Haar und rotem krausem Bart. Olav war es, ihr ältester Sohn, und sie lag in seinen Armen. - Sie schloß die Augen - vermochte nicht aufzublicken. Ob sie sich auf Erden befand, und was sonst geschehen war mit einem armen sündigen und unbedeutenden Weib wie ihr?

Doch Olav rüttelte und rieb sie.

„Mutter, Mutter - ist dir nun besser, Mutter? Sag, was tust du hier auf der Heide - wie bist du hierhergekommen?“ Helga richtete sich auf und rieb sich die Augen. Ringsum war der strahlendste Wintertag, und Olav kauerte springlebendig neben ihr im aufgewühlten Schnee, und da waren ihre Skier und ein Felleisen und seine Lederjacke, auf der sie lag, und hier lag Haldors Luchsfalle. Indem Olav sie rieb, fuhr er zwischen Lachen und Weinen fort zu fragen: „Mein Gott, Mutter, wie kommst du hierher?“ Ihre Glieder waren so steif und erstarrt, daß der Sohn sie stützend unter den Schultern halten mußte, während sie die Wanderung den Wald hinab begannen.

Olav erzählte, Sira Benedikt habe durch Leute, welche in der Gegend unterwegs waren, nach Olav Arnessön forschen lassen, denn nun sollte er, wenn irgendwie möglich, heimkommen, der Bruder liege krank, und die Mutter beginne alt und müde zu werden. Diese Aufforderung hatte ihn auf einem Hof bei Nidaros erreicht.

Er hatte gedacht, er könne die Kirche in der Heimat erreichen bis zum Weihnachtsabend. Aber er geriet in den Nebel, da er schon im vertrauten Hügelland sich befand, und er suchte einen Unterschlupf in der alten Baude drüben am Hügel. Sicher war es sein Feuer gewesen, das sie gesehen hatte, denn er vermeinte, Menschen bemerkt zu haben. Da seine Rufe unbeantwortet blieben, hatte er ein Weihnachtslied zu singen begonnen, denn es war ihm nicht recht geheuer gewesen, da er in öder Nacht und Einsamkeit stand. Dann schlief er in der Baude, und als er des Morgens erwachte und hinaustrat, sah er ein Paar Skier, die über den Kamm des Jardtrudshügels hinausragten; er befürchtete, ein Mensch wäre dort verunglückt, und eilte hinüber.

Hier, weiter unten am Abhang, war in der Nacht Neuschnee gefallen. Der Wald stand in Flaum gehüllt, vergoldet von der Morgensonne, unter blauem Himmel. Als sie unten in Uvaasen angekommen waren, bemerkten sie Signe - sie stand draußen auf dem schmalen ausgeschaufelten Pfad zwischen den Gebäuden, neben ihr beide kleine Mädchen. Die Schwiegertochter beschattete die Augen mit der Hand und spähte hinauf. Ihr Gesicht war sehr verweint, das sahen sie beim Näherkommen.

„Was ist mit Haldor?“ fragte die Mutter, nachdem sie sich begrüßt hatten.

Nun, er hatte tief geschlafen, da sie heimkam - sie hatte nach dem Hochamt talauf bis Bergheim eine Fahrgelegenheit bekommen und war daher bald zurück. Und die Kleinen saßen so artig und froh auf der Bank und tranken Milch und aßen Kuchen wie Königskinder. Bald darauf war Haldor erwacht und sagte, er fühle sich viel besser. Aber beide ängstigten sich um die Großmutter, die nicht heimkam, sagte Signe und starrte mit großen Augen auf den fremden Mann, ihren Schwager, und die Kinder verbargen sich hinter ihr und guckten. Doch die Großmutter befahl ihnen streng, herzukommen und ihren Oheim brav zu grüßen. Olav nahm die Kleinste, Ingegjerd, auf seinen Arm und ging ins Haus zum Bruder.

„Ich ahnte es, daß es dir, Mutter, geglückt war, die Fallen einzuholen, denn der Schmerz hörte jäh auf, und erquickende Ruhe kam über mich.“ Olav saß bei seinem Bruder, auf jedem Knie ein kleines Mädchen. Die Kinder waren sprachlos und vermochten nur auf den Oheim zu starren, der ihnen je einen Silberring gegeben hatte. Haldor befingerte im Liegen das Gepäck seines Bruders. Aber viel Geld, das er sich verdient hatte, legte Olav in die Hände seiner Mutter.

Signe ging auf und ab und hielt die Wiege des jüngsten in Bewegung, während sie sich um den Kessel bemühte. Mutter Helga weinte leise in Dankbarkeit vor sich hin, sie lag auf den Knien in der Ecke und bemühte sich, Worte zu finden, so daß sie recht Gott und der Jungfrau Maria für die glücklichste Weihnacht danken konnte, die ein armes sündiges Weib je hier auf Erden erlebt hatte.