Weihnachten
Wie das Michele dem Christkind Geige spielte
von Heinz Markert, aus: Hubert Butterwege (Hg.): Der leuchtende Stern. Bonifatiuswerk Paderborn, o.J.
"Ich tu's, ich tu's doch!" flüstert das Michele aufgeregt vor sich hin, während sein kleines Herz fieberhaft pocht und klopft. Aus der Christmette tönt von ferne schon das feierliche Glockengeläut der heiligen Wandlung. Vorsichtig und leise springt das Michele aus seinem warmen Bett, sucht hastig Hemdchen, Hose, Strümpfe und Jacke zusammen und schlüpft hinein. Ängstlich horcht es dabei auf die schwachen Atemzüge der jüngeren Geschwister im gleichen Zimmer. Ein wenig fürchtet es sich doch, wie alles so unheimlich still ist und nur der Mond seine Strahlen blendend über die schneebedeckten Dächer wirft.
Dann packt es mit einem Griff den schwarzen, unförmigen Geigenkasten unter seinem Bett, zieht das abgeschabte, graue Mäntelchen über und schleicht die knarrige Treppe hinunter und zur Haustüre hinaus. Fast geblendet vom glitzernden Schnee, der im Mondlicht strahlt und leuchtet, huscht es die Turmgasse entlang und über den engen Platz der Kirche zu. Das sonst so bekannte Häuserbild erscheint ihm schier unwirklich und traumhaft: wie die Schatten der Häuser in den Schnee stechen und ihre Giebel schreckhaft hoch in den Himmel wachsen.
Unbemerkt öffnet das Michele die Kirchentüre und windet sich durch den engen Spalt. –
Ganz hinten in der Kirche, eng an einen Pfeiler gedrückt, steht das Michele nun und staunt und staunt. Es starrt in das Lichtermeer, beguckt die vielen roten Röcke vorne im Chor, schnuppert die weihrauchgeschwängerte Luft, lauscht dem Brausen und Jubilieren der Orgel und dem Singen der vielen, vielen Leute. So ist das also, wenn das Christkind zu den Menschen kommt!
Es wird ihm ganz ängstlich zumute, als es an sein Vorhaben denkt, und eingeschüchtert preßt es den Geigenkasten fester an sich.
Da gleitet sein Blick hinüber an den Seitenaltar, wo unbekümmert von unzähligen Kerzen die Krippe steht. Oh, wieviel schöner ist sie jetzt anzuschauen, als gestern, da sie noch düster und tot in der dunklen Kirche lag. Das Michele erkennt wieder das Christkind in der Krippe, Maria und Josef, wie sie sich darüberbeugen, und die vielen Hirten und Schäflein darum herum.
Und – da ist er ja auch wieder, der kleine Hirtenbub, der so fröhlich auf seiner Flöte bläst und daran schuld ist, daß es, das Michele, jetzt mitten in der Nacht in die Kirche geschlichen kommt!
Das Michele besinnt sich, wie es gestern vor ihm gestanden war und es beinahe hatte lachen müssen, mit welch schelmischem Mündchen der Kerl sein Pfeifrohr ansetzte, und – das war doch kein Zufall! – das Christkind schaute gerade zu ihm hin und lächelte so zart und glücklich, daß man ganz genau sehen konnte, wie ihm die Musik gefiel, die der kleine Junge da seinem Instrument entlockte.
Als sich das Michele nun gestern am Christkind und dem Flötenbub gar nicht satt sehen wollte, da war ihm mit einem Male ein Gedanke in sein Köpfchen geschossen, siedend heiß und so herrlich, daß es zuerst erschrak und glaubte, ihn gar nicht fassen zu können. Aber je mehr es darüber nachdachte und sich den Plan ausmalte, um so schöner erschien er ihm. Ja, das Michele, es konnte doch Geige spielen, und wenn es sich recht Mühe gab, ganz sicher so schön wie der Hirtenbub da Flöte blies, und dann, ja dann – es wagte kaum den Gedanken festzuhalten – mußte doch das Christkind ihm genauso zulächeln wie dem Flötenbub jetzt!
Lieber Gott! Das Christkind würde ihm zulächeln! Weiter konnte das Michele gar nimmer denken, und erschöpft trabte es von der Kirche heim.
Doch dann fuhr ihm gleich der Schrecken durch die Glieder. Wann sollte es denn dem Christkind spielen? Ob es der Küster erlauben würde? Oh, der gewiß nicht, der schaute schon immer so grimmig, wenn das Michele am Sonntagmorgen in der Kirche schöner und lauter sang als alle anderen Buben. Und das war dem Michele klar. Dem Christkind wollte es nur spielen, wenn es mit ihm ganz allein war, höchstens daß noch Maria und Josef und die Hirten zuhören durften. Tagsüber waren immer Leute in der Kirche, da mußte es also in der Nacht gehen. Ein wenig unbehaglich wurde es dem Michele wenn es an die finstere Kirche dachte, aber das Christkind würde ihm schon einen besonders guten Schutzengel schicken! Am besten ging es doch morgen nach der Christmette, da war das Christkind gerade auf die Welt gekommen und würde sich am meisten freuen, wenn das Michele ihm gleich eines vorspielte. Da waren auch die Eltern und größeren Geschwister in der Christmette, so daß es gar nicht auffiele, wenn man sich während dieser Zeit davonschliche und in der Kirche versteckte, bis alle Leute fortgegangen waren.
Das Michele hatte am Abend die Eltern noch gebeten, es mit in die Christmette zu nehmen. Aber der Vater hatte ihm, als es mit dem Betteln gar nicht aufhörte, entschieden gesagt: wenn es alt genug sei, dürfe es mit, jetzt habe es zu gehorchen und ins Bett zu gehen! Das Michele hatte geheult und war in sein Bett gekrochen und hatte sich vorgenommen, wach zu bleiben, bis die Eltern fortgingen, und ihnen dann heimlich zu folgen. Es war aber trotzdem eingeschlummert und erst aufgeschreckt, als die Kirchgänger die Türe zuklappten und von der Kirche die Glocken jauchzend zur Christnachtfeier riefen. – –
Aber jetzt hat das Michele wieder neuen Mut. Flink kriecht es, als es merkt, daß der Pfarrer sich zum Segen anschickt, in einen Beichtstuhl, der ganz hinten im Schatten der Empore steht und duckt sich hinter die dichten Vorhänge. Dort wartet es mit klopfendem Herzen, bis der letzte schwere Männerschritt verhallt, bis der leichte Tritt des Lehrers von der Orgel herunter verklingt, das letzte alte Weiblein seine Gebete gemurmelt hat und mit einem großen, feuchten Kreuzzeichen zur Kirchentüre hinausschlurft. Das aufgeregte Michele braucht eine ganze Menge Geduld und hat inzwischen Zeit auszudenken, wo es denn dem Christkind spielen solle. Weil es dabei an den Lehrer denkt, der die Musik immer auf der Empore macht, und an den Metzgermeister Liborius Troll, der bei den Totenmessen auch immer von oben singt, so faßt es den Entschluß, auch Geige dort oben zu spielen. – So eifrig ist das Michele mit diesen Gedanken beschäftigt, daß es gar nicht merkt, wie der Küster sorgfältig jede Tür abschließt und dann durch die Sakristei nach Hause geht.
Auf einmal ist es totenstill in der Kirche. Das Michele wartet noch eine Weile, steigt dann aus dem Versteck und tastet sich die ausgetretene Treppe zur Orgel hinauf.
Vorne im Chor glüht schwach das Ewige Licht und vor der Krippe flackert eine einsame, stille Kerze. Ruhig und feierlich legt der Mond sein Licht in breiten Bändern über Bänke und Altäre.
Das Michele holt mit zitternden Händen seine Geige heraus und stimmt leise und zaghaft. Dann faßt es allen seinen Mut zusammen und beginnt zu spielen: Es ist ein Ros entsprungen. Und wunderlich, während es spielt, da wird es ihm freier und freier; fester greift es zu, und voller kommen die Töne aus seiner Geige. Es scheint dem Michele, als schwängen all die grauen und toten Steine um ihn mit. Als fingen sie seine schwachen und zitternden Töne auf, durchdrängen sie und gäben sie rein und voller wieder zurück, hinaus in den weiten Kirchenraum, in dem sie dann standen und klangen, als seien sie lebende Wesen: schwellend, blühend, verklingend. Das Michele greift immer fester und glücklicher in die Saiten, und der Bogen fliegt sicherer darüber, je mehr es hört und spürt, wie herrlich die Melodien rauschen und tönen. Das Blut summt und braust in seinem Kopfe, und längst weiß es nicht mehr, was es da spielt und geigt.
Das Michele merkt nicht, wie die dicke Spinne am hinteren Chorfenster mit großen Augen aus ihrem Versteck gekrochen kommt. Wie sie die silbrig im hellen Mondlicht leuchtenden Fäden ihres Netzes entlangläuft, ganz nach vorne hin, damit sie es nur ja recht deutlich höre, das wundersame Spiel.
Das Michele merkt nicht, wie die vielen, vielen Mäuse im Gebälk innehalten mit ihrem Knistern und Knabbeln, wie sie an ihre Löcher huschen und mit flinken Äuglein und spitzen Schnäuzchen hinauslauern, um den Künstler zu finden, der so herrliche Musik zu machen weiß.
Selbst der bucklige Kater, der einsam auf dem schrägen Kirchendach spaziert, läßt alle finsteren und räuberischen Gedanken fahren, preßt den dicken Kopf an die Scheiben eines Fensters und sucht mit seinen grünen Augen den Urheber der zauberhaften Weisen. Hätte er nicht Furcht gehabt zu stören, er hätte laut geschnurrt vor Freude und Wonne.
Das Michele spielt und spielt und sieht nichts als das feine, zarte Lächeln im Munde des Christkindes. –
Das Michele weiß nicht, daß die Eltern beim Heimkommen erschrocken das leere Bett bemerkten und die Mutter weinend nach dem Michele rief und suchte. Es weiß nicht, daß die Eltern kein Auge zutun vor Sorge und am andern Morgen die Polizei nach dem Verlorenen suchen lassen wollen.
Das Michele weiß nicht, daß in den anliegenden Häusern manche Schläfer erwachen und schlaftrunken den wunderlichen Tönen lauschen. Es weiß nicht, daß manches alte Weiblein ein Kreuzzeichen schlägt und die geweihte Kerze anzündet: Man konnte doch nicht wissen, ob der Teufel dort drüben Orgel spielt oder der liebe Gott seine Engel singen läßt!
Das Michele kann gar nicht genug bekommen mit dem Spielen, damit das Christkind nur ja nicht mit dem Lachen aufhöre. Doch das Christkind muß soviel Einsicht haben, daß das Michele auch einmal müde werden könne. Deshalb nickt es ihm freundlich zu, und das Michele weiß genau, das bedeutet: Schön hast du gespielt, Michele! Aber jetzt will ich schlafen und du sollst nach Hause gehen. Folgsam läßt Michele die Töne leiser und leiser werden bis sie zart verklingen. Aufatmend setzt es die Geige ab und packt sie ein. "O wie schön es gelächelt hat!" denkt es nur immer wieder.
Dann kommt ihm von ferne der Gedanke, es müsse heimgehen, und langsam steigt es die Treppe hinab und geht zum Ausgang. Erschrocken merkt es da, daß alle Türen fest verschlossen sind. Aber es tröstet sich schnell: "Ich lege mich auf eine Kirchenbank, da bin ich dem Christkind am nächsten", denkt es bei sich. - Das Michele ist ja so müde! Die Geige stellt es auf den Boden, wickelt sich in sein Mäntelchen und legt sich der Länge nach auf eine Bank. Und während es noch an das süße Lächeln des Christkindes denkt, schläft es schon fest und tief. –
Früh am Morgen des Weihnachtstages staunt der Küster nicht wenig, als er die Kirchentüren weit aufreißt und die klare Luft in das Gotteshaus läßt. Er findet auf einer Bank ein graues Bündel liegen, und bei näherem Zusehen entpuppt es sich als das Michele aus der Turmgasse! Wie er es wecken will, flüstert es selig: "Wie schön das Christkind lächelt, wie schön ich ihm gespielt habe!" und schläft gleich wieder ein.
Die Kirchgänger des kleinen Städtchens haben an diesem Morgen viel zu wispern und zu flüstern über die seltsame Musik mitten in der Nacht in der Kirche; und noch mehr haben sie zu, flüstern und mit dem Kopf zu schütteln, als sie hören, es sei das kleine Michele gewesen, das so herrlich und schön gespielt habe.