Wo Liebe ist, da ist Gott

von Leo Tolstoi, aus: Alexander Simon: Russische Weihnacht. Die Arche, 1965.


In einem einfensterigen Stübchen im Erdgeschoß wohnte der Schuster Martyn Awdejewitsch; das Fenster ging auf die Straße. Durch das Fenster konnte man sehen, wie die Leute vorübergingen. Obgleich nur die Füße zu sehen waren, erkannte Martyn Awdejewitsch die Menschen an den Stiefeln. Seit langer Zeit lebte er hier und hatte eine große Bekanntschaft, es gab nur wenige Stiefel in der Nachbarschaft, die nicht ein- oder zweimal in seinen Händen gewesen wären.

Oft sah er aufwärts bei seiner Arbeit durchs Fenster. Er hatte viel zu tun, denn seine Arbeit war dauerhaft, er nahm gutes Material, sein Preis war mäßig, und er hielt Wort: vermag er den bestimmten Termin nicht einzuhalten, so sagt er's im voraus. Ein guter Mensch war er stets gewesen; wie er älter wurde, begann er mehr als früher an seine Seele zu denken und sich Gott zu nähern. Als er noch bei einem Meister arbeitete, war seine Frau gestorben. Sie hatte ihm ein Kind hinterlassen, einen Knaben von drei Jahren; die älteren Kinder waren früher gestorben. Martyn wollte das Söhnchen in das Dorf zu seiner Schwester schicken, er dachte aber: Meinem Kapitoscha wird es schwerfallen, in fremder Familie aufzuwachsen, ich lasse ihn bei mir. Und Awdejewitsch ging von dem Meister fort und wohnte mit dem Söhnlein zur Miete.

Gott aber gab Awdejewitsch in seinen Kindern kein Glück. Als der Knabe heranwuchs und dem Vater zu helfen begann, daß es eine wahre Freude war, befiel ihn eine Krankheit - er fieberte ein Wöchelchen, und dann starb er. Martyn begrub den Sohn und fiel in Verzweiflung. Und so wild war seine Verzweiflung, daß er auf Gott murrte; so eine Wehmut kam über ihn, daß er immer und immer wieder Gott um den Tod bat; daß er Gott vorwarf, statt des einzigen geliebten Sohnes nicht ihn, den alten Mann, zu sich genommen zu haben. Er ging sogar nicht mehr in die Kirche.

Einst sprach bei Awdejewitsch ein Landsmann vor, ein alter Mann, der schon das achte Jahrzehnt pilgerte und eben vom Trotzkij-Kloster kam. Im Laufe des Gespräches klagte Awdejewitsch seinen Kummer.

„Die Lust zum Leben ist mir sogar vergangen, nur um eins bitte ich Gott - zu sterben. Ich bin ein nutzloser Mensch.“
Der Landsmann entgegnete: „Du sprichst nicht gut, Martyn. Gottes Tun zu beurteilen, geziemt uns nicht. Nicht Menschenverstand, es gebeut Gottes Wille allzeit. Gott hat beschlossen, dein Sohn solle sterben, dich aber ließ er am Leben - also ist es besser so. Und wenn du verzweifelst, so ist es deshalb, daß du leben willst zu deiner Freude.“
„Wozu leben?“ seufzte Martyn.
Der Alte sagte: „Für Gott, Martyn, muß man leben. Er gibt dir das Leben, für ihn muß man auch leben. Wenn du für ihn lebst, wirst du über nichts trauern, und alles erscheint dir leicht.“
Nach kurzem Schweigen lieg sich Martyn vernehmen: „Aber wie lebt man für Gott?“
„Christus hat es uns gezeigt. Kannst du lesen, so kaufe dir das Evangelium und lies: du wirst erkennen, wie man für Gott lebt.“


Diese Worte fielen in das Herz Awdejewitschs. Noch am selben Tag kaufte er das Neue Testament mit großer Schrift und begann zu lesen.

Er wollte nur an Feiertagen lesen; aber das heilige Buch gab ihm solchen Frieden, daß er jeden Abend las. Manchmal vertiefte er sich so, daß er sich nicht losreißen konnte, wenn auch die Lampe schon im Verlöschen war. Und je mehr er las, je klarer wurde es ihm, was Gott von ihm wolle und wie man für Gott leben müsse; und er fühlte sich leichter und leichter auf dem Herzen. Vordem, wenn er sich niederlegte, stöhnte er und gedachte Kapitoschas; jetzt aber sagte er: „Dir sei Preis, Herr, Dein Wille geschehe.“

Seit dieser Zeit war das ganze Leben Awdejewitschs verändert. An Feiertagen kehrte er früher manchmal im Kruge ein, trank Tee, ab und zu nahm er auch ein Schnäpschen. Mit einem Bekannten trank er zusammen - war er auch nicht gerade betrunken, so trat er doch stets aus dem Kruge mit einem leichten Rausch und sprach nichtige Worte: fand alles zu tadeln und beurteilte lieblos seinen Nächsten.

Jetzt aber war eine Wandlung vor sich gegangen. Er führte ein ruhiges und freudiges Leben. Morgens ging er an die Arbeit und schaffte rüstig den Tag über. Dann nimmt er die Lampe vom Haken, stellt sie auf den Tisch, holt vom Regal das Buch, schlägt es auf und setzt sich nieder zum Lesen. Je mehr er liest, je mehr begreift er; klarer, heiterer wird es ihm auf der Seele.

Wieder einmal hatte sich Martyn bis spät in die Nacht in sein Lesen vertieft. Er las im Evangelium des Lukas das sechste Kapitel und kam an die Verse: Und wer dich schlägt auf einen Backen, dem biete den andern auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem wehre nicht auch den Rock.- Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, da fordere es nicht wieder. - Und wie ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, also tut ihnen gleich auch ihr. Weiter las er die Verse, wo der Herr spricht: Was heißet ihr mich aber Herr, Herr und tut nicht, was ich euch sage? - Wer zu mir kommt und höret meine Rede, und tut sie, den will ich euch zeigen, wem er gleich ist. - Er ist gleich einem Menschen, der ein Haus bauet, und grub tief und legte den Grund auf den Fels. Da aber Gewässer kam, da riß der Strom zum Hause zu, und mochte es nicht bewegen; denn es war auf den Fels gegründet. - Wer aber höret und nicht tut, der ist gleich einem Menschen, der ein Haus bauete auf die Erde ohne Grund; und der Strom riß zu ihm zu, und es fiel bald, und das Haus gewann einen großen Riß.

Awdejewitsch las diese Worte, und es wurde ihm so heiter auf der Seele. Er nahm die Brille ab, legte sie auf das Buch, lehnte sich an den Tisch und wurde nachdenklich. Und er begann sein Leben diesen Worten anzupassen.

Ist mein Haus auf Stein oder auf Sand gebaut? denkt er bei sich. Gut, wenn es auf Stein ruht - und es läßt sich so leicht an, wenn man allein ist, dann scheint es, als ob man alles verrichtet habe, wie Gott befohlen. Zerstreut man sich aber, so sündigt man von neuem. Ich will streben, des Höchsten Willen zu tun. Es ist zu schön. Gott helfe mir! - Mit diesen Gedanken wollte er sich niederlegen, aber es tat ihm leid, sich von dem Buche loszureißen, und er begann das siebente Kapitel zu lesen. Er las von des Hauptmanns Knecht, dem Jüngling zu Nain, er las die Antwort, welche Jesus den Jüngern Johannes des Täufers gab, er las die Stelle, wo der reiche Pharisäer den Herrn bat, daß er mit ihm äße, wie Er die Sünderin rechtfertigte, die seine Füße salbte und mit Tränen benetzte - und er kam bis zum vierundzwanzigsten Vers und las: Und er wandte sich zu dem Weibe und sprach zu Simon: Siehest du dies Weib? Ich bin gekommen in dein Haus: du hast mir nicht Wasser gegeben zu meinen Füßen; diese aber hat meine Füße mit Tränen genetzet und mit den Haaren ihres Hauptes getrocknet. - Du hast mir keinen Kuß gegeben; diese aber, nachdem sie hereingekommen ist, hat sie nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. - Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbet; sie aber hat meine Füße mit Salben gesalbet. Er las diese Verse und dachte: Die Füße hat er nicht mit Wasser benetzt, keinen Kuß hat er gegeben, das Haupt nicht gesalbt...

Wieder nahm er die Brille ab, legte sie auf das Buch und vertiefte sich in seine Gedanken.
Der Pharisäer war, wie ich vermute, wohl ein ebensolcher wie ich - daran denke ich: daß ich meinen Tee habe, daß ich gewärmt bin, daß ich mich pflege; aber auf meinen Nächsten achte ich nicht. Mich vergesse ich nicht, aber für den Gast treffe ich keine Sorge. Und wer ist der Gast? Der Herr selber. Kehrte er bei mir ein - würde ich so handeln?
Er stützte seinen Kopf auf beide Hände und bemerkte nicht, daß er einduselte.

„Martyn!“ hörte er plötzlich ganz leise neben sich rufen.
Schlaftrunken reckte sich Martyn und fragte: „Wer da?“ Er blickte sich um, sah auf die Tür - niemand war da. Wieder duselte er ein, Deutlich vernahm er die Worte: „Martyn, Martyn! Blicke morgen auf die Straße, ich werde kommen.“

Martyn erwachte, stand vom Stuhl auf und rieb sich die Augen. Er wußte nicht: hatte er diese Worte im Traum oder in Wirklichkeit gehört? Nachdem er die Lampe ausgelöscht hatte, legte er sich schlafen.


Früh am Morgen erhob sich Awdejewitsch, betete, heizte an, schob Kohlsuppe und Grütze in den Ofen, stellte die Teemaschine auf, band seine Schürze vor und setzte sich an das Fenster zum Arbeiten. Bei der Arbeit denkt er an das, was er am Abend durchlebt. Hörte er die Stimme im Traum oder erklang sie ihm in Wirklichkeit?

Er blickt mehr durch das Fenster, als daß er arbeitet. Kommt jemand vorüber in unbekannten Stiefeln, so biegt er sich weit vor, um nicht die Füße allein, sondern auch das Gesicht zu sehen. In neuen Filzstiefeln ging der Hausknecht vorüber, dann kam der Wasserträger, und bald stellte sich der alte Nicolajewsche Soldat in ganz alten geflickten Filzstiefeln, eine Schaufel in den Händen, vor das Fenster. An den Filzstiefeln erkannte ihn Awdejewitsch. Den Alten nannte man Stepanitsch. Er aß bei einem Kaufmann das Gnadenbrot und mußte dem Hausknecht Hilfe leisten. Stepanitsch fing an, vor dem Fenster Schnee zu schaufeln. Awdejewitsch sah ihm zu, dann nahm er wieder seine Arbeit vor.

Ganz närrisch bin ich auf meine alten Tage geworden, lachte Awdejewitsch sich selbst aus. Stepanitsch schaufelt Schnee, und ich denke, Christus kommt zu mir. Ich bin wahrhaftig ein närrischer alter Kauz. Nachdem er an zehn Stiche gemacht, drängt es ihn, wieder durch das Fenster zu blicken: Stepanitsch hatte die Schaufel an die Wand gelehnt - er wärmt seine Hände oder ruht sich aus.

Ein alter, gebrochener Mann, er scheint nicht mehr die Kraft zum Schaufeln zu haben. Awdejewitsch dachte: Soll ich ihm nicht Tee geben? Die Teemaschine fängt schon an überzulaufen. Er steckte die Ahle ein, erhob sich, stellte die Teemaschine auf den Tisch, machte Tee und klopfte an das Glas. Stepanitsch sah sich um und näherte sich dem Fenster. Awdejewitsch winkte ihn zu sich und ging, die Tür aufzumachen.

„Komm herein, wärme dich - dir ist wohl sehr kalt?“ fragte er.
„Christus stehe uns bei! Die Knochen schmerzen“, entgegnete Stepanitsch.
Er trat ein, schüttelte sich den Schnee ab und wischte sich die Füße; sein Gang war unsicher.
„Mühe dich nicht ab, deine Füße zu reinigen“, rief ihm Awdejewitsch entgegen, „setze dich, trinke Tee.“

Awdejewitsch goß zwei Gläser ein, schob das eine dem Gast zu, von seinem Tee goß er auf die Untertasse und begann zu blasen.
Stepanitsch trank sein Glas leer, stellte es hin, mit dem Boden nach oben, legte das Stück Zucker, das er beim Trinken benagt hatte, auf den Tisch und dankte. Wie indes zu bemerken war, hätte er gern noch ein Glas gehabt. „Trinke“, forderte Awdejewitsch den Stepanitsch auf und goß sich und dem Gaste ein.
Awdejewitsch trank seinen Tee und blickte dabei auf die Straße.


„Du erwartest jemand?“ erkundigte sich der Gast.
„Ob ich jemand erwarte? Ich muß mich schämen zu sagen, wen ich erwarte. Ich warte auf etwas, und ich warte auch nicht ... aber ein Wort ist mir in die Seele gefallen ... ich hatte eine Erscheinung ... ach, ich weiß selber nicht. Siehst du, Brüderchen, gestern habe ich das Evangelium vom Herrn Christus gelesen, wie er auf Erden ging. Du hast's doch wohl gehört?“
„Gehört wohl. Aber wir sind dunkle Leute, können nicht lesen.“
„Nun, ich habe eben gelesen, wie er auf Erden ging ... wie er zu dem Pharisäer kam, weißt du, und der empfängt ihn ohne Feier. Und ich denke, während ich lese, daß er den Herrn Christus nicht mit aller Ehre empfangen habe: geschähe es mir, denke ich, ich wüßte gar nicht, was alles ich tun sollte, um ihn zu empfangen. Ich dachte darüber nach und duselte ein. Und wie ich duselte, höre ich mich beim Namen rufen; ich erhebe mich, und es ist mir, als höre ich flüsternde Worte: 'Warte, ich komme morgen.‘ Und so geschah es zweimal. Ich muß mich selber auslachen - aber dennoch erwarte ich den Herrn.“

Stepanitsch sagte nichts, trank seinen Tee aus und legte das Glas hin, Awdejewitsch aber stellte es wieder aufrecht und goß ein.

„Trinke zur Gesundheit. Ich meine, daß unser Herr, als er auf Erden wandelte, keinen verachtete und zumeist mit einfachem Volk umging. Aus unsereinem nahm er am liebsten seine Jünger, aus Arbeitsleuten, aus solchen, wie wir sind. Wer sich erhebt, sagte er, der soll erniedrigt werden, und wer sich erniedrigt, der soll erhöht werden. Ihr, so redete er, nennt mich den Herrn, und ich werde euch die Füße waschen. Wer der Erste sein will, soll allen ein Diener sein. Selig sind die Armen, die Demütigen, die Sanftmütigen, die Milden.“

Stepanitsch dachte nicht an sein Glas, er war ein alter weichgestimmter Mensch. Er sitzt, hört zu, und über sein Gesicht fließen Tränen.

„Trinke noch“, sagte Awdejewitsch, aber Stepanitsch bekreuzte sich, dankte, schob sein Glas fort und stand auf.
„Ich danke dir, Martyn Awdejewitsch, du tatest mir wohl, hast Seele und Körper gesättigt.“
„Kehre ein andermal wieder bei mir ein, Stepanitsch.“

Stepanitsch ging fort. Martyn goß sich den letzten Tee ein, trank aus, räumte das Geschirr auf und machte sich daran, einen vertragenen Schuh zurechtzuflicken. Während der Arbeit blickte er durch das Fenster - er wartet auf Christus, denkt immer an ihn, an seine Reden und Taten.

Zwei Soldaten gingen vorüber, einer in Regimentsstiefeln, der andere in seinen eigenen; dann kam, in sauber geputzten Galoschen, der Wirt des Nachbarhauses; ein Bäcker mit einem Korbe folgte.


Bald kam ein Weib in wollenen Strümpfen und Dorfschuhen. Sie blieb am Fensterpfeiler stehen. Awdejewitsch blickte auf; er sieht ein fremdes Weib, schlecht gekleidet, ein Kind auf dem Arm; es stellt sich an die Wand, mit dem Rücken gegen den Wind, und wickelt das Kind ein - und hat doch nichts zum Einwickeln. Durch das Fenster hört Awdejewitsch das Kind schreien; sie will es beruhigen und kann es gar nicht beruhigen. Awdejewitsch ging zur Tür und rief von der Treppe aus: „Gute Frau, gute Frau!“

Das Weib sah sich um.
„Was stehst du da mit dem Kindchen in der Kälte? Komm in die Stube, in der Wärme wirst du es besser einwickeln können. Da - hierher.“
Verwundert sah ihn das Weib an - ein alter Mann mit einer Schürze und einer Brille auf der Nase ruft sie zu sich. Sie folgte ihm in die Stube, und der Alte führte sie zum Bett.
„Hierher setze dich, gute Frau, näher zum Ofen; erwärme dich und stille das Kind.“
„Hab' keine Milch in der Brust, seit dem Morgen habe ich nichts gegessen“, sagte das Weib, legte aber dennoch das Kind an die Brust.

Bedauernd schüttelte Awdejewitsch den Kopf, ging zum Tisch, holte Brot und einen Napf, öffnete die Ofentür, goß in den Napf Kohlsuppe und nahm auch den Topf mit der Grütze heraus; da dieselbe aber noch nicht gar war, goß er nur Suppe ein und stellte sie auf den Tisch. Auch nahm er vom Haken das Handtuch und breitete es aus.
„Setz dich“, sagte er, „und iß, gute Frau. Mit dem Kinde werde ich inzwischen sitzen. Ich habe eigene Kinder gehabt und verstehe sie zu warten.“

Das Weib bekreuzte sich, setzte sich an den Tisch und begann zu essen. Awdejewitsch setzte sich auf das Bett zu dem Kinde. Er schmatzt und schmatzt - aber es schmatzt sich schlecht, denn er hat keine Zähne. Das Kind hörte nicht auf zu schreien. Da dachte sich Awdejewitsch aus, den Schreihals mit dem Finger zu beruhigen - er führt einen Finger gerade zu dessen Munde und wieder zurück; aber in den Mund gibt er ihm den Finger nicht, denn derselbe ist von Pech ganz schwarz. Und das Kind betrachtete den Finger, beruhigte sich und fing sogar an zu lachen. Awdejewitsch freute sich darüber. Und das Weib ißt und erzählt, wer sie ist und wohin sie gegangen war.

„Ich bin eine Soldatenfrau“, sagte sie, „vor acht Monaten hat man meinen Mann fortgebracht, weit von hier, und seit dieser Zeit erhielt ich kein Lebenszeichen von ihm. Während ich einen Dienst als Köchin hatte, kam ich nieder. Mit dem Kinde wollte man mich nicht behalten. Schon den dritten Monat schlage ich mich ohne Stelle durch, habe alles fortbringen müssen, was ich hatte. Ich wollte als Amme dienen, aber man nimmt mich nicht - ich sei zu mager, sagt man. Eben war ich zu einer Kaufmannsfrau gegangen; bei der dient ein Weib aus unserem Dorfe; man hatte versprochen, mich zu nehmen, und ich dachte, ich würde gleich dableiben können; aber sie befahl mir, in der nächsten Woche zu kommen, und sie wohnt so weit, ich bin ganz abgemattet, und auch das Kind ist so geschwächt. Gott sei Lob, daß die Wirtin Mitleid hat - sie hält uns um Christi willen im Quartier, sonst wüßte ich nicht, wie zu leben.“

Awdejewitsch seufzte und sagte: „Du hast wohl auch keine warme Kleidung?“
„Wie sollte ich warme Kleidung haben, Väterchen. Gestern mußte ich das letzte Tuch für einen Dwugriwennyj (20 Kopeken) versetzen.“
Sie ging zum Bett und nahm das Kind.

Awdejewitsch stand auf und holte von der Wand einen alten Halbrock. „Nimm“, sagte er. „Zwar ist es ein schlechtes Stück, aber zum Einwickeln wird es noch taugen.“
Das Weib sah auf das Kleidungsstück und auf den Alten, nahm den Halbrock und weinte. Awdejewitsch duckte sich auf die Diele, schob den Kasten unter dem Bett vor, wühlte darin und setzte sich wieder zu dem Weibe.
„Christus beschütze dich“, hob sie an. „Er hat mich wohl an dein Fenster geschickt, Väterchen. Ohne dich würde mein Kind erfroren sein. Als ich fortging, war es warm, und jetzt ist die Kälte gekommen. Er, der Herr, hat dich gelehrt, durch das Fenster zu blicken und mit mir Elendem Mitleid zu haben.“
Lächelnd entgegnete Awdejewitsch: „Er hat es mich gelehrt, gute Frau. Nicht, um den Tag dem lieben Herrgott zu stehlen, blicke ich durch das Fenster.“ Und Martyn erzählte auch der Soldatenfrau seinen Traum: wie er die Stimme gehört und der Herr versprochen, noch heut zu ihm zu kommen.
„Es kann so geschehen“, meinte das Weib, stand auf, nahm den Halbrock, wickelte das Kind darin ein, verbeugte sich zum Dank, und immer wieder dankte sie.
„Nimm um Christi willen.“, sagte Awdejewitsch und reichte ihr, damit sie das Tuch einlöse, einen Dwugriwennyj. Sie bekreuzte sich, auch Awdejewitsch bekreuzte sich und geleitete sie hinaus. 


Als das Weib gegangen war, aß Awdejewitsch seine Kohlsuppe, räumte ab und setzte sich wieder zur Arbeit. Und während der Arbeit denkt er immer an das Fenster. Wie es zu dunkeln beginnt, späht er hinaus, wer wohl vorüberginge. Bekannte und Fremde gingen vorüber - nichts Besonderes war dabei. Jetzt bleibt gerade vor seinem Fenster ein altes Hökerweib stehen. Sie trägt einen Korb mit Äpfeln; es waren nur wenig geblieben; sie hatte fast alle verkauft; über der Schulter hängt ihr ein Sack mit Spänen - wahrscheinlich hatte sie dieselben auf einem Bau gesammelt, und nun geht sie nach Hause. Aber der Sack drückte ihr wohl die Schulter ab; sie wollte ihn über die andere Schulter hängen, weshalb sie ihn auf das Trottoir niederließ; auch den Korb mit den Äpfeln setzte sie ab und schüttelte die Späne im Sack.

Währenddes rannte ein Junge mit zerrissener Mütze herbei, griff aus dem Korb einen Apfel und wollte fortlaufen. Die Alte bemerkt ihn, dreht sich um und faßt den Jungen am Ärmel. Der Junge duckt sich, will entschlüpfen, die Alte aber packt ihn fester, wirft ihm die Mütze ab, zaust ihn am Haar. Der Junge schreit, das Weib schimpft.

Awdejewitsch hatte nicht Zeit, die Ahle einzustecken, er wirft sie auf die Diele und springt zur Tür hinaus, wobei er stolpert, so daß die Brille abfällt. Wie er auf die Straße kommt, hat die Hökerin den Jungen gerade am Schopf, sie schimpft und will ihn zur Polizei führen. Der Junge müht sich aus Leibeskräften, um loszukommen.

„Ich habe nichts genommen“, plärrt er. „Weshalb schlägst du mich? Laß mich los.“
Awdejewitsch versucht, sie auseinanderzubringen, er faßt den Jungen bei der Hand und sagt: „Laß ihn, Mütterchen, verzeihe ihm um Christi willen.“
„Ich werde ihm so verzeihen, daß er's braun und blau haben soll. Der Lümmel muß auf die Polizei.“
Awdejewitsch bat: „Laß ihn laufen, Mütterchen, er wird's in Zukunft nicht wiedertun. Gib ihn frei um Christi willen.“

Die Alte ließ ab, der Junge wollte sich fortmachen, aber Awdeiewitsch hielt ihn zurück.

„Bitte das Mütterchen um Verzeihung, und künftig tu's nicht wieder. Ich habe gesehen, wie du den Apfel genommen hast.“
Der Junge weinte und bat um Verzeihung.
„So ist's recht, hier hast du einen Apfel.“
Und Awdejewitsch nahm aus dem Korb einen Apfel und gab ihn dem Jungen.
„Ich werd' ihn dir bezahlen“, sagte er dabei.

„Verwöhnst sie, diese Taugenichtse“, rief die Alte. „Man muß ihn so belohnen, daß er eine Woche lang nicht sitzen kann.“
„Eh, Mütterchen, Mütterchen, so würde es sein, wenn es nach uns ginge. Aber nach Gottes Willen ist es nicht so. Was sollte wohl, wenn man ihm wegen eines Apfels die Rute gäbe, mit uns geschehen für unsere Sünden?“
Und er erzählte der Alten das Gleichnis, wie der Gutsherr dem Zinsbauern die ganze Schuld erließ, und der Zinsbauer ging hin und begann, seinen Schuldner zu würgen.
Die Alte horchte auf, auch der Junge hörte zu.
„Gott befahl, zu vergeben“, sagte Awdejewitsch, „sonst wird auch uns nicht vergeben werden. Allen muß man verzeihen, und dem Unvernünftigen um so mehr.“

Die Alte nickte und seufzte: „Jaja, aber sie sind zu unbändig geworden.“
„So müssen wir, Alte, sie belehren.“
„Auch ich sage ja so. Hatte selbst sieben Kinder - nur meine Tochter ist mir geblieben.“
Die Alte erzählte, wo und wie sie bei ihrer Tochter lebt, wie viele Enkel sie hat.
„Wenn ich auch nicht mehr viel Kraft habe, so mühe ich mich doch noch ab. Die Enkel tun einem leid, es sind gute Kinder; so herzig wie sie ist keiner zu mir. Besonders Akßjutka läßt gar nicht von mir ab. Großmutter, traute Großmutter...“ Die Alte wurde ganz weich. „Es ist ja nur eine Kinderei mit dem Jungen da. Gott mit ihm.“
Bei diesen Worten wirft sie den Sack über die Schulter. Der Junge springt herzu und sagt: „Laß mich den Korb tragen, Großmütterchen, wir haben denselben. Weg.“
Nebeneinander gingen sie jetzt auf der Straße. Die Alte hatte vergessen, das Geld für den Apfel zu fordern. Awdejewitsch sah ihnen nach und hörte, wie sie zusammen sprachen. 


Als sie fortgegangen waren, kehrte Awdejewitsch zurück, fand die Brille auf der Treppe nicht zerbrochen, nahm die Ahle und setzte sich wieder an seine Arbeit. Er arbeitete ein wenig, die Dunkelheit hatte sich schon recht bemerklich gemacht. Der Anstecker ging vorüber und steckte die Laterne an. Es ist Zeit, Licht anzuzünden, dachte Awdejewitsch, machte sein Lämpchen zurecht, hängte es auf und arbeitete wieder. Einen Stiefel machte er fertig, beguckte ihn von allen Seiten und sah, daß er gut war. Er legte seine Instrumente zusammen, fegte aus, stellte die Lampe auf den Tisch und holte vom Regal das Evangelium.

Wo er gestern einen Saffianschnitzel eingelegt hatte, wollte er das Buch aufmachen, aber es schlug sich an einer anderen Stelle auf. Und wie das heilige Buch aufgeschlagen vor ihm lag, entsann er sich des gestrigen Traumes. Und da war es ihm plötzlich, als höre er hinter sich Schritte. Er schaut sich um und sieht: Menschen stehen in der dunklen Ecke, aber er vermag sie nicht zu erkennen. Und eine Stimme flüsterte ihm ins Ohr:

„Martyn, Martyn! Hast du mich nicht erkannt?“
„Wen?“ fragte Awdejewitsch.
„Mich“, sagte die Stimme. „Ich bin es.“
Und es trat aus der dunklen Ecke Stepanitsch - er lächelte und zerrann wie ein Wölkchen.
„Das bin ich auch“, sagte die Stimme, und aus der dunklen Ecke trat dlas Weib Mit dem Kindchen - das Weib lächelte und zerrann wie ein Wölkchen.
„Das bin ich auch“, sagte die Stimme, und es näherte sich die Alte mit dem Knaben - der Knabe hielt den Apfel, beide lächelten und verschwanden.

Fröhlich war es Awdejewitsch auf der Seele, er bekreuzte sich, setzte die Brille auf und las im Evangelium, wo es aufgeschlagen war. Oben auf der Seite las er Matthäus 25: Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeiset. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränket. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich beherberget. Und unten auf der Seite las er noch: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

Und Awdejewitsch begriff, daß der Traum ihn nicht betrogen, daß zu ihm an diesem Tage sein Heiland gekommen war und er ihn empfangen hatte.