Über den Abgrund

Holger Niederhausen: Über den Abgrund. Roman. Books on Demand, 2015. Paperback, 204 Seiten, 9,90 Euro. ISBN 978-3-7386-4897-3.


Erschienen am 28. September 2015.              > Bestellen: BoD | Amazon <              > Reaktionen und Rezensionen <

Inhalt


Joachim Bauer ist Mitte vierzig, als er aus einem trostlosen Leben als Buchhalter und Familienvater langsam aufwacht. Seine Ehe ist am Ende, eigentlich schon seit Jahren. Seine erste freie Handlung ist das Nachdenken auf einer Parkbank.

Als er sich in eine junge Studentin verliebt und sie kennenlernen darf, steht er vor entscheidenden Fragen nach der Zulässigkeit, Qualität und Zukunft seiner Liebe und Empfindungen ihr gegenüber. Immer mehr bilden diese Fragen und aufsteigende spirituelle Fragen eine unauflösliche Einheit, und immer mehr sieht er sich vor einen inneren Kampf gestellt...



Leseprobe 1


Scheinbar plötzlich war die Veränderung eingetreten. Joachim Bauer, ein Mann von Mitte vierzig, hatte sich an einem Samstag im Mai auf eine Parkbank gesetzt, und schon dies war ein Teil der Veränderung gewesen.
Eigentlich war er auf dem Weg zum Markt gewesen. Jede zweite Woche war dies seine Aufgabe, der Wochenendeinkauf. Der Markt lag gleich hinter dem Park, von seinem Platz aus konnte man die ersten Stände bereits sehen.
Später würde er noch oft an diesen Tag zurückdenken und sich jedes Mal fragen, warum er sich auf die Bank gesetzt hatte. Es war etwas Merkwürdiges – jahrelang geht man eine bestimmte Strecke, ohne sich jemals auf diese Bank zu setzen ... und plötzlich setzte man sich.
Bauer war tatsächlich kein Mann, der sich auf Parkbänke setzte. Nach seiner Ausbildung zum Buchhalter hatte er nun vierundzwanzig Jahre in diesem Beruf gearbeitet, bei drei verschiedenen Firmen, und er hatte jede seiner Pflichten ernst genommen. Das Sitzen auf Parkbänken gehörte nicht dazu. Also hatte er dies auch nie getan.

Aber dann, an diesem dritten Samstag im Mai, saß er auf einmal auf dieser Bank. Später, im Rückblick, kam ihm alles ein wenig wie ein Traum vor. Als er sich am Abend desselben Tages an diese Momente zurückerinnerte, meinte er, noch einmal genau jenes Gefühl zu spüren, das er hatte, als er vor der Bank stand und, wie von einer unbekannten Macht berührt, nicht weiterging, sondern sich hinsetzte. Es war ein Gefühl wie eine flüchtige Traurigkeit, flüchtig und doch uralt-schwer. Er hatte sich hingesetzt und im Sich-Setzen eine große Müdigkeit empfunden. Dann hatte er alles aus einer neuen Perspektive gesehen – aus der Perspektive einer Parkbank und aus der Perspektive dieser Müdigkeit, die sein Leben verändern sollte.
Gleichsam benommen von dem neuen Zustand, in dem er sich befand, blickte er auf die Welt, die ihn umgab, und nahm alles auf einmal seltsam unwirklich wahr. War es die Welt, die unwirklich wurde, oder war es sein eigenes Leben und er selbst, die unwirklich wurden?
Er erinnerte sich noch an das Lachen der beiden Mädchen, die an ihm vorbeigegangen waren, in ausgelassenem Gespräch. Dann war eine alte Frau gefolgt, einen Rollwagen vor sich her schiebend. Und dann noch viele andere Menschen. Er hatte all diese Menschen an sich vorübergehen sehen und ihnen ins Gesicht geblickt, als würde er dort etwas suchen. In Wirklichkeit jedoch war er dabei, sich darüber klarzuwerden, was er selbst hier eigentlich tat.

Er hatte nicht gewusst, wie lange er dort gesessen hatte. Erst als er vom Markt zurückgekehrt war, hatte er wieder auf die Uhr gesehen. Eine halbe Stunde etwa musste es gewesen sein. Diese halbe Stunde war es, die ihn eigentümlich sanft, aber unwiderruflich aus seinem bisherigen Leben und Sein hinauswarf. Denn genau dies geschah, als er die Menschen an sich vorübergehen sah. Er begann zum ersten Mal zu sehen – die Menschen, die Welt, den Gang der Welt, an ihm vorbei... Er saß da, und die Welt ging weiter, ohne ihn, der einfach da saß und all dies registrierte.
Die Mädchen – waren nicht Teil seines Lebens. Die alte Frau – auch nicht. Die anderen Menschen – auch nicht. Und er? Was war eigentlich sein Leben? Sein Leben lief an dem Leben all dieser Menschen ebenfalls vorbei. Unbeteiligt. Einfach so. Leben neben Leben, ohne Zusammenhang, ohne Begegnung, ohne Wichtigkeit.
Er erinnerte sich im Rückblick auch, wie er in diesem Moment einmal kurz gelächelt hatte – wie man lächelt in einem kurzen Bedauern über etwas, was so ist, wie es ist, ohne dass man es ändern kann. Die Menschen waren weiter an ihm vorbeigegangen, jeder für sich, manche zu zweit, manche auch zu dritt, zu viert, aber sie alle für sich, und er, er, ganz allein. Was machte es, wenn man die Marktfrauen oder auch -männer vom Sehen her kannte und grüßte? Sie waren fremd und blieben es. Und die Kollegen auf der Arbeit? Sie nicht ganz ebenso? Hier hatte er noch einmal gelächelt, wie um etwas zu verabschieden, das schon vor langer Zeit verloren gegangen war, dessen Verlust er aber erst jetzt bemerkte. Oder wie staunend darüber, dass Hülle um Hülle von seinem bisherigen Leben abfiel, während ein neues Leben hervortrat, das aber nichts anderes als das alte war, nur dass er jetzt bemerkte, wie es wirklich aussah.
Müde und doch auch seltsam leicht stand er schließlich wieder auf und dachte: ‚Alle Menschen gehen aneinander vorbei...’. Mit diesem Gedanken ging er zum Markt und tätigte die üblichen Wochenendeinkäufe. Mit diesem Gedanken kam er nach Hause. Mit diesem Gedanken lebte er die nächsten Wochen. Und inmitten dieses Gedankens erwachte leise eine Sehnsucht.

...

Leseprobe 2


Am nächsten Morgen entschloss er sich, das Mädchen einfach zu vergessen.
Er fasste diesen Vorsatz ebenso, wie man beschloss, neue Schuhe zu kaufen oder das Auto in die Werkstatt zu bringen. Mit diesem Vorsatz ging er zur Arbeit, verbrachte er arbeitend den Tag und kehrte er nach Hause zurück. Er aß mit der Familie zu Abend, ging dann wie immer in sein Arbeitszimmer und setzte sich mit dem neuen Buch an den Schreibtisch.
Diesmal gelang ihm das Lesen sogar. Er las die gesamte Einleitung und das erste Kapitel über ‚Das Wesen des Menschen’. Es war dort unter anderem von Äther- und Astralleib des Menschen die Rede. Diese Stellen hatte er in der Buchhandlung nicht gelesen. Sie schienen ihm etwas sehr östlich zu sein und zugleich weniger bedeutsam als die Worte des Buddha. Und doch las er weiter, denn er behielt das Gefühl, dass hier nicht irgendein Scharlatan abwegige Theorien verkündete, sondern dass hier ein Mensch schrieb, der von dem, worüber er schrieb, etwas zu wissen schien.
Dennoch war das, was da beschrieben wurde, so komplex und so neu, dass er mindestens die Hälfte nicht verstand. Sehr wohl jedoch verstand er, dass auch dieser Mensch vom Überwinden der Leidenschaften sprach. Wie er dies tat, unterschied sich von den Reden des Buddha deutlich, aber das Thema schien ähnlich. Der Leib unterlag den Begierden, der Geist konnte sie verwandeln...

Am nächsten Tag lebte er mit dem gleichen Vorsatz und las am Abend das zweite Kapitel, in dem es um Wiederverkörperung und Schicksal ging. Als er zu Ende gelesen hatte, brach sein ganzer Vorsatz zusammen, und er musste sich zum zweiten Mal etwas eingestehen. Er konnte das Mädchen einfach nicht vergessen. Wieder erfüllten sich seine Gedanken mit dem Mädchen – obwohl er ihr Gesicht kaum noch konkret erinnern konnte. Sein Gedächtnis war in diesen Dingen unsäglich mangelhaft. Und doch schienen seine Gefühle gar nicht an die deutliche Erinnerung gebunden zu sein. Sie schienen sogar stärker als vor zwei Tagen, so als wären sie im Verborgenen weiter gewachsen. War es derart vergeblich, einen Entschluss zu fassen? Konnte er von den Gefühlen einfach so umgestoßen werden? Aber was waren dann diese Gefühle, über die man scheinbar gar keine Kontrolle hatte?

Er machte noch einen letzten Versuch, sich über diese Gefühle hinwegzusetzen, und las das kurze Kapitel ein weiteres Mal. Doch nun erschütterte ihn auch der Text an zwei Stellen so sehr, dass er sich wiederum fragte, wie das möglich war – die gleichen Stellen einmal nahezu ohne Gemütsregung lesen zu können und einmal bis ins Innerste getroffen zu werden. Er las:
‚So wie also die physische Menschengestalt immer wieder und wieder eine Wiederholung, eine Wiederverkörperung der menschlichen Gattungswesenheit ist, so muß der geistige Mensch eine Wiederverkörperung desselben geistigen Menschen sein.’
Erst jetzt, beim zweiten Lesen, war dies für ihn mehr als eine Theorie. Und zugleich war dies doch auch etwas völlig Anderes als die Seelenwanderung, die man mit dem Buddhismus in Verbindung brachte. Ein Mensch wäre dann schon oftmals verkörpert gewesen, wirklich derselbe Mensch...
Und dann, kurz vor Ende des ganzen Kapitels, stand da:
‚Menschen, mit welchen die Seele in einem Leben verbunden war, wird sie in einem folgenden wiederfinden müssen, weil die Taten, welche zwischen ihnen gewesen sind, ihre Folgen haben müssen.’
Wiederum lag in diesem Satz auf einmal eine ungeheuer starke Realität, so als hätte nicht nur der Schreiber keine Zweifel daran, sondern als würde der Satz selbst seine Fortsätze in die Realität hineintreiben.
Und plötzlich verband sich das starke Gefühl in seinem Inneren mit dem Inhalt dieses Satzes, und er fragte sich: Was, wenn ich mit diesem Mädchen bereits in einem vorigen Leben verbunden gewesen bin?
Zumindest hatte dieser Gedanke etwas Tröstliches. Er gab dem anderen Gedanken der ‚Begierden’ doch eine sehr neue Richtung. Es schien auf einmal nicht mehr nur verwerflich, etwas für einen anderen Menschen zu empfinden. Für ihn war das, was er für das Mädchen empfand, auch nicht ‚Begierde’. Obwohl er sich gestehen musste, dass die Sehnsucht nach diesem Mädchen unaufhörlich zu wachsen schien – und dass der Mensch, der dieses Buch geschrieben hatte, diese Sehnsucht vielleicht doch auch als ‚Begierde’ ansehen würde.
Hilflos gefangen in diesen Gedanken, wusste er nur eines: Er konnte diesem Gefühl der Sehnsucht nicht länger entfliehen, er konnte es nicht mehr verleugnen, es war einfach zu stark.

Und so fasste er einen neuen Entschluss: Er musste dieses Mädchen wiedersehen. Es war eigentlich kein Entschluss, es war eine Notwendigkeit, das erlösende Nachgeben gegenüber einer Notwendigkeit. Er musste sie einfach wiedersehen...
Eine Stimme in ihm meldete sich und ergänzte: sonst würde er vor Liebeskummer sterben. Er versuchte diese Stimme zum Schweigen zu bringen. Schon das Wort ‚Liebeskummer’ zog alles, was er wirklich empfand, auf ein viel zu niedriges Niveau herab.
Oder war es so? War er einfach nur ein verliebter, viel zu alter Mann, der nun anfing, jungen Mädchen nachzustellen? Was gäbe er jetzt für einen Rat von Toni! Aber vielleicht würde es ihr ja auch zuviel werden? Vielleicht würde sie sagen: ‚Oh, sorry, Joachim, ich glaube, ich habe was falsch gemacht. Durch mich bist du auf einmal auf junge Mädchen aufmerksam geworden. So war das echt nicht gemeint gewesen!’
Und was, wenn das Mädchen selbst jegliche Annäherung abwehren würde? Eine Annäherung, von der er selbst noch nicht einmal wusste, wie sie aussehen könnte?
Was hatte da von ihm Besitz ergriffen? War es richtig, oder war es nicht richtig? Unsäglich litt er an der völligen Unentschiedenheit dieser Frage. Hatte ihn die erste Erschütterung über die Sätze von der Verbundenheit der Seelen für einen Moment eine völlige Sicherheit empfinden lassen, so hatte jene andere hässliche Stimme alles wieder umgeworfen. Hatte er für einen Moment an den Satz ‚Befreie dich von der Illusion’ so gedacht, dass es richtig und notwendig war, sich von allen äußeren Konventionen zu lösen, so fragte er sich im nächsten Moment, ob nicht gerade diese Verliebtheit eine neue Illusion war. Aber das Gefühl, die Sehnsucht war so stark...
Und wäre dann das Verhalten des Mädchens das Entscheidende? Würde ihre Ablehnung die Illusion beweisen? Oder würde ihre Erwiderung, welche Form sie auch immer hätte, beweisen, dass er das Richtige tat? Er kam zu keiner Antwort...

...