Tagebuch eines Mädchens

Holger Niederhausen: Tagebuch eines Mädchens. Books on Demand, 2015. Paperback, 152 Seiten, 8,90 Euro. ISBN 978-3-7386-4901-7.

► Wichtiger Hinweis: Wer meinen würde, ich schriebe nur 'Mädchen-Bücher', der irrte essenziell - diese Mädchen sind Botinnen des immer verschütteteren Wesens der menschlichen Seele überhaupt.

Erschienen am 28. September 2015.              > Bestellen: BoD | Amazon <              > Reaktionen und Rezensionen <

Inhalt


„Am liebsten würde ich das Herz der anderen Menschen an die Hand nehmen und ihm die ganze Schönheit zeigen. Das Herz müsste sie doch sehen? Aber wo ist es bei den anderen Menschen in einem solchen Augenblick?“

Ihrem Tagebuch vertraut die empfindsame 15-jährige Saskia ihre innersten Gedanken an. So entsteht ein berührendes Zeugnis eines jungen Mädchens, das an seiner Umwelt tiefsten Anteil nimmt und selbst oft so allein ist. Der mitempfindende Leser steht vor dem Erleben einer schönen Seele, das ihn selbst reich beschenken kann...



Leseprobe 1


Es ist seltsam, ein Tagebuch zu beginnen.
Aber ich bin froh, dass ich es jetzt endlich tue. Ich habe sonst niemanden, mit dem ich reden könnte. Niemanden, der mir zuhören würde. Und vor allem niemanden, der mich verstehen würde.
Noch fühlt es sich so ungewohnt an... Ich habe mir sogar einen eigenen Füller gekauft, den ich nur für dieses Tagebuch benutzen will. Ist das noch normal? Ein Füller, mit dem man Tinte aus einem Tintenfass aufsaugen kann. Auch das ist noch ganz ungewohnt, aber irgendwie schön. Und ja, obwohl es sich noch so merkwürdig anfühlt, merke ich schon, wie dieses Tagebuch wie ein guter Freund werden wird. Du verstehst mich, nicht wahr? Liebes Tagebuch... So werde ich Dich nennen. Denn das bist Du ja – mein liebes Tagebuch...
Heute wollte ich Dich nur einweihen. Ich konnte es nicht mehr abwarten. Aber ich muss noch lernen. Also warte nur ein wenig, bis morgen, dann schreibe ich weiter. Nur noch das Datum. Es ist der 19. September.

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                                                                                                                               20. September
Liebes Tagebuch!
Schon den ganzen Tag habe ich mich darauf gefreut, schreiben zu können. Ich möchte eigentlich gar nicht sagen, „in Dich hineinzuschreiben“, denn für mich bist Du nicht einfach nur ein Buch, eine Sache... Was ich in Dich hineinschreibe, das weißt Du. Und Du verstehst alles. Du bist mehr als ein Buch. Du bist mein Tagebuch...
Gerade höre ich eines meiner Lieblingslieder. Heart of Gold von Birdy. Kennst Du das, wenn man Lieder hat, die man immer wieder von vorne hören möchte? Und wenn diese Lieder Stellen haben, wo man eine Gänsehaut bekommt? Wo es sich so anfühlt, als ob die ganze Welt wundervoll ist? Als ob alle Menschen einmal glücklich sein könnten? Und man selbst auch – für immer?
Das sind genau die gleichen Stellen, wo die Sehnsucht so groß wird, so tief ... die Sehnsucht danach, dass es wirklich einmal so werden könnte. Vielleicht ist das auch nur bei diesem Lied so. Vielleicht singt Birdy einfach so. Deswegen mag ich sie jedenfalls. Weil sie so singen kann. Dass man diese Sehnsucht bekommt, die man aber längst hat. Dass man sie einfach spürt. Und nichts anderes, für einen Moment.

Aber haben die anderen Menschen das auch? Es müssten doch eigentlich alle Menschen haben, wenn sie so ein Lied hören? Aber ich weiß, dass es nicht so ist. Aber warum nicht? Warum kann es nicht so sein, dass man alle Menschen so ein Lied hören lassen kann – und dass dann alles gut wäre ... die ganze Welt?
So etwas kann ich niemanden fragen. Die Leute würden mich gar nicht verstehen. Emma zum Beispiel – das ist meine beste Freundin –, mit ihr hatte ich neulich einmal versucht, irgendwie darüber zu sprechen. Aber selbst sie hat mich nicht verstanden... Sie kennt auch solche Gänsehaut-Lieder, aber die Sehnsucht hat sie nicht verstanden... Weißt Du, was sie gesagt hat? Saskia, hat sie gesagt, Saskia, Du machst Dir einfach zu viele Gedanken. Sicher wäre es schön, wenn die ganze Welt glücklich wäre, oder besser, aber sie ist es nun mal nicht. Wenn man sich zu viele Gedanken macht, wird man verrückt – oder völlig unglücklich. Das willst Du doch nicht? Genieße Deine Lieblingslieder einfach, ohne gleich an die ganze Welt zu denken. Das hat sie gesagt...

...

Leseprobe 2


                                                                                                                                                                                                                          8. November
Liebes Tagebuch!
Heute musste ich daran denken, was der alte Bettler gesagt hatte: dass man auf den Ämtern oft wie eine Nummer behandelt wird. Warum ist das so? Wie entsteht das? Wann fängt das an?
Wann hört man zum ersten Mal auf, mit dem Herzen zu fühlen? Wann beginnt man, das zu verlernen?
Ein Mensch ist doch keine Nummer. Wie kann man das verwechseln? Und man kann doch schon eine kleine Motte nur dann totmachen, wenn man nicht wirklich zuschaut, was sie macht. Sie läuft da herum, so zittrig aufgeregt, fast wie ein kleines Mäuschen, die sind auch so aufgeregt, aber gerade daran sieht man doch, wie gerne sie leben, wie lebendig sie sind! Und wenn man sieht, wie ein Tier lebt und leben will, dann kann man es doch niemals totmachen wollen?
Aber man muss es wirklich sehen und fühlen wollen. Wenn man es nicht von selbst kann, muss man sich Mühe geben wollen, um es trotzdem zu sehen. Wie sehr die kleine Motte leben will!
Jedes Tier ist ein einzelnes – und jeder Mensch auch. Wenn man das einzelne Tier und den einzelnen Menschen wirklich sehen kann, dann hat man auch Mitleid. Dann muss man Mitleid haben, es kommt ganz automatisch...

                                                                                                                       ~ ·~

                                                                                                                                                                                                                          9. November
Liebes Tagebuch!
Als ich heute aus der Schule kam, war an einer Ampel auf einmal ein Streit zwischen einem Radfahrer und einem Autofahrer. Einer von beiden war dem anderen wohl kurz im Weg. Sie haben sich wirklich schlimm beschimpft. Ich hatte wirklich Angst, dass der Autofahrer aussteigt und sie sich schlagen werden. Dann ist er aber, als es grün wurde, doch losgefahren.
Weswegen streitet man so stark? Was kann denn überhaupt passiert sein? Ich hatte nichts Schlimmes gesehen, und auf einmal war dieser Streit da! Kann denn etwas so schlimm sein, dass man zu streiten anfängt? Es ist doch niemandem etwas passiert. Wenn jemand einem kurz im Weg ist, kann man dann nicht einfach einen Moment warten oder vorsichtiger fahren? Warum sind die Menschen so schnell böse aufeinander? Und selbst wenn man sich ärgert – warum muss man dann auch gleich streiten?
Ich finde Streit immer schlimm. Ich bekomme dann wirklich Angst. Aber vor allem werde ich immer sehr traurig. Kann man den Anderen denn nicht verstehen? Vielleicht hat er ja etwas falsch gemacht – aber trotzdem... Und es ist doch wirklich nicht schwer, und es ist doch soviel schöner! Jemanden verstehen und nicht böse werden...
Man ärgert sich über eine Kleinigkeit und streitet auf einmal ganz schlimm mit einem anderen Menschen – und woanders ertrinkt ein Mensch... Ist das Streiten wirklich so wichtig? Kann man nicht lieber an die Frau denken und dem anderen Menschen verzeihen, wenn er wirklich etwas Falsches gemacht hat?
Oder wenn man wüsste, jemand, den man lieb hat, müsste sterben. Würde man dann auch so mit anderen Menschen streiten? Oder würde man dann merken, wie schlimm das ist? Streiten... Ich finde schon den Gedanken daran schlimm. Wie kann man Worte benutzen und nach Worten suchen, die den Anderen möglichst stark verletzen? Warum will man das? Wie kann man jemanden verletzen wollen?

                                                                                                                       ~ ·~

                                                                                                                                                                                                                          10. November
Liebes Tagebuch!
Wenn einem ein anderer Mensch egal ist, ist einem vielleicht alles egal... Wenn einem ein Mensch egal ist, dann ist es auch nicht schlimm, mit ihm zu streiten, ihn zu schlagen, ihn zu töten... Dann ist es egal, ob er stirbt, ob er ertrinkt, ob man ihn selbst tötet. Das macht man zwar nicht, aber ob man jemanden verletzt und ihm das sehr, sehr weh tut, das überlegt man sich nicht!
Ich würde einen Menschen nie verletzen oder beleidigen wollen. Man will doch freundlich miteinander leben? So, dass es allen gut geht. Man will doch nicht verletzen, sondern freundlich sein, zueinander, zu allen. Das will man doch?
Ist das nicht ein wunderschönes Wort? Freundlich zueinander sein... Wie Freunde, fast so... So, als ob der Andere jederzeit ein Freund sein könnte. Einfach freundlich sein... Das ist doch nicht schwer. Und man will das doch wirklich? Ich will das wirklich. Wollen die Anderen das denn nicht?
Aber dann darf einem der andere Mensch nie egal sein. Freundlich sein kann man nur, wenn der andere Mensch einem nicht egal ist... Freundlich sein. Wie Freunde. Wie schön ist das! Und wie schlimm ist dieses andere Wort: egal. Es fühlt sich so kalt an.

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