30.06.2004

Revolution der Demokratie – durch Viergliederung?

Das Konzept des Sozialphilosophen Johannes Heinrichs

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 27.8.2004 (Nr. 35). >> Korrespondenz bzw. Diskussion.

„Unsere Demokratie befindet sich in der Krise“: „Politikverdrossenheit“, stetig sinkende Wahlbeteiligung, Auflösungserscheinungen in den etablierten Parteien, Korruptionsfälle und anderes mehr belegen jenes Urteil. Immer mehr Menschen befällt beim Wort „Demokratie“ eine Mischung von Langeweile, hilfloser Wut und resignativer Trauer, ein Gefühl von bürokratischer Kälte. Auf der anderen Seite bezweifelt kaum jemand, daß in den europäischen Ländern Demokratien bestehen – höchstens sagt man sich, daß mehr eben nicht machbar sei. Doch bedeutet „Demokratie“ Parteien-Herrschaft oder Selbst-Beherrschung des Volkes?


Die Idee der Demokratie ist eine wunderbare und entspricht dem Zeitalter der mündigen Individualität. Doch diese Idee verharrt in bezug auf ihre Verwirklichung noch im Embryonalzustand! Es wäre an der Zeit, daß gerade in Deutschland der Importartikel der Siegermächte zu etwas eigenständig Durchdachtem würde. Dies würde die wiedergewonnene Souveränität jenes Landes ausmachen, dessen Denker einer ganzen Epoche wichtigste Impulse gegeben haben. 

Soweit die Analyse des Bisherigen, wie sie Johannes Heinrichs zu Beginn seines sehr lesenswerten Buches „Revolution der Demokratie“ entwickelt[1].

Viergliederung als Entsprechung der menschlichen Reflexivität

Wer jetzt an Dreigliederung denkt, dem hält Heinrichs entgegen: „Nein, Viergliederung!“ Auch sein Ansatz ist es, daß die notwendigen Strukturen einer dem Menschen wesensgemäßen Freiheits-Ordnung aus einer Erkenntnis des Menschenwesens und der gesellschaftsbildenden Prozesse selbst gefunden werden müssen. Heinrichs findet das zentrale Prinzip in der Reflexivität des menschlichen Bewußtseins.[2] Hier sieht er vier Stufen, die sich in der Begegnung zwischen Menschen verschieden äußern:

(1) Unreflektierte Intentionalität (wie sie auch für objekt-orientiertes Handeln kennzeichnend ist),
(2) einfach reflektierte Intentionalität („strategisches Handeln“ unter Reflexion des Verhaltens anderer),
(3) gegenläufig-doppelt reflektierte Intentionalität („kommunikatives Handeln“ unter Reflexion der Reflexion des anderen, entspricht einem wirklichen Sich-Hineinversetzen),
(4) Reflexion der Gegenseitigkeit in eine Einheit, zum Beispiel Verabredung gemeinsamer Verhaltensnormen, in jedem Fall ein  „Sich-Stellen“, darin struktureller Abschluß der Reflexion („metakommunikatives Handeln“). 

Diese vier Reflexionsstufen sind nach Heinrichs die Ursache, daß sich der soziale Organismus in vier Subsysteme differenziert, die von der Logik je einer Stufe dominiert werden: Wirtschaft, Politik, Kultur und „Grundwertesystem“ mit ihren je spezifischen Medien Geld, Recht, Sprache sowie „Prinzipien“. Innerhalb der vier Ebenen zeigt Heinrichs weitere Vierstufungen auf – z.B. für die Politik: Verwaltungs-Exekutive einschließlich der einfachen Rechtssprechung, Regierung, Legislative und Judikative (verstanden als Wächterin über die Gesetzeskonformität der drei anderen Gewalten).[3]

Die Voraussetzung für eine Sozialgestalt der Freiheit ist nach Heinrichs nun, daß dieser Vierstufung auch die Institutionen des sozialen Organismus entsprechen: Durch eine Viergliederung vor allem der Parlamente (Wirtschafts-, politisches-, Kultur- und Grundwerteparlament).

Heinrichs erarbeitete seine Reflexionstheorie und sein darauf aufbauendes Konzept in den 70er Jahren und stieß erst danach auf Rudolf Steiner. Um dessen „Intuition“ zu würdigen, sprach er analog von „Viergliederung“, kritisiert aber, daß der „Dreigliederung“ und damit der gesamten Rede vom „sozialen Organismus“ eine handlungs- und reflexionstheoretische Begründung fehle. Dies sei auch der Grund für ihre Unvollständigkeit und das Fehlen konkreter Anwendungsbezüge „außer einer vagen „Freiheit des Geisteslebens“ vom Staat, als habe dieser nichts mit Kultur und Weltanschauung zu tun“ (S.109).

Praktische Konsequenzen

Die Vierheit der Parlamente würde dazu führen, daß die bisherigen „Blockparteien“, die alle Probleme von A bis Z zu einem unsachgemäßen Konglomerat zusammenbinden, sachorientierten „Parteien“ weichen müßten.[4] Diese könnten sich auf die Eigenlogik je einer gesellschaftlichen Sphäre konzentrieren und die je verschiedenen relevanten (Rechts)fragen sachgemäß behandeln. Die Wahlergebnisse würden die spezifischen Bedürfnisse und Überzeugungen der Öffentlichkeit repräsentieren. Fragen wie die nach dem Geldsystem oder der Situation alternativer Pädagogik oder Medizin würden endlich überhaupt und zudem sachorientiert debattiert werden (unter Berücksichtigung aller Ebenen und nicht dominiert von „wirtschaftlichen“ Argumenten).

Das „Grundwerte-Parlament“ soll nach Heinrichs die Transparenz des religiös-weltanschaulichen Kräftespiels herstellen, die Grundwerte möglichst allgemein akzeptabel artikulieren und in Form von Rahmengesetzen für die drei anderen Ebenen dynamisch konkretisieren.[5] Das Kulturparlament und dessen Exekutive hätten nach Heinrichs die Aufgabe, die Freiheit und Autonomie des gesamten Kulturlebens zu sichern und angesichts der weitgehenden Selbstgleichschaltung der Medien die bürgergesellschaftliche Kommunikation in ganz neuer Weise anzuregen.

Auch für Heinrichs haben die Parlamente nur die Aufgabe, die Rechtssphäre zu gestalten, die ja sehr wohl ins Wirtschafts- und Kulturleben hineinreicht und ihrerseits immer von einer „Sphäre der Grundwerte“ tangiert wird.[6] Die Entgegensetzung von Staat und Kultur bzw. Wirtschaft lehnt er ab, weil – unter Voraussetzung der Viergliederung – der Staat als Rechtsstaat alle Sphären bündelt, organisiert und fördert und gleichsam das Skelett des sozialen Organismus selbst bildet. „Es kann sich immer nur um die Frage handeln: Was ist der Staatsanteil, was ist der private und was der „gemischte“ oder öffentliche Anteil an diesen Ebenen [...]?“ (S.254). Der gesamte öffentliche Sektor könne weitgehend bürgerschaftlich organisiert werden, sobald die undemokratischen Privilegien Renditekapital und Bodeneigentum beseitigt seien. Auch die künftigen Sachparteien würden aus bürgergesellschaftlichen Vereinigungen hervorgehen.[7]

Wo die Dreigliederungs-Idee allgemein bleibt, wird Heinrichs konkret. Die Dreigliederung hat meines Erachtens viel mit Bewußtseinsbildung zu tun. Sie ist ein „Impuls“, wie Steiner sagt. Er selbst wies wiederholt darauf hin, daß die Dinge zunächst „ins Rechte gedacht“ werden müssen und sich die konkrete Gestalt der Idee dann im Leben erweisen müßte. Das heißt aber zugleich, daß konkreteren Konzepten nicht gleich der Vorwurf gemacht werden darf, sie widersprächen der „reinen Lehre“.

Gedanken zum Grundwerteparlament

Wer an Heinrichs Konzept kritisiert, daß zum Beispiel ein Grundwerteparlament Unsinn sei[8], weil die Umsetzung der verfassungsgemäßen Grundwerte in der Rechtssphäre sofort und sachgemäß erfolgen würde, wenn man nur ein freies, lebendiges Geistesleben hätte, muß sich fragen lassen, ob ihm denn der Status Quo lieber ist und wie er von diesem zu einem freien Geistesleben kommen will. Was ist, wenn gerade eine umgesetzte Viergliederung dazu führen würde, daß die Notwendigkeit eines freien Geisteslebens erkannt und die entsprechenden institutionellen und bewußtseinsmäßigen Veränderungen erfolgen würden? Heinrichs´ Intention entspricht durchaus der Idee der Dreigliederung.[9]

Das Grundwerteparlament hätte die verfassungsmäßigen Grundrechte in bezug auf altbekannte und neue Konfliktfelder zu konkretisieren und Widersprüche zur Ist-Situation aufzuzeigen. Die bestehenden Grundwerte (Recht auf Arbeit oder auf menschenwürdiges Leben und so weiter) werden offenbar so lange mißachtet, bis ein Parlament die explizite und ausschließliche Aufgabe hat, sie zu konkretisieren. Das konkret gesetzgebende Parlament kann den jeweiligen Fragen dann nicht mehr ausweichen, die Richtung ihrer Lösung würde aber auch nicht mehr durch Lobbygruppen bestimmt.[10]

Man kann sagen, daß das Rechtsempfinden (Parlament) und auch das Denken (Geistesleben) sich heute von niederen Interessen korrumpieren lassen. In diesem Sinne ist das Grundwerteparlament der Ich-Instanz im Menschen vergleichbar. Im sozialen Organismus soll es gerade das richtige Zusammenwirken der Glieder bewirken. Während das Fühlen sich leicht korrumpieren läßt und wesentliches schnell verdrängt, kann das Ich immer wieder die richtigen Fragen stellen. Natürlich steht auch das Ich in der Versuchung zwischen dem Höherem und dem Niederem. Ist es aber einmal sich seiner selbst bewußt geworden, kann es dieser Versuchung gar nicht ausweichen – es lebt gerade in der fortwährenden, bewußten Entscheidung.

Im Grundwerteparlament wären nicht „weisere“ Menschen tätig. Es würde aber institutionell die Tatsache spiegeln, daß freie Taten einer Intuition entsprechen, die zunächst unabhängig von konkreten Umständen ergriffen und erst im nächsten Schritt ihrem Wesen (und den Umständen) gemäß konkretisiert werden. Ein Parlament wäre zunächst nur mit dem Wesen der Grundwerte befaßt, die anderen hätten die frei von Sachzwängen schon begonnene Konkretisierung fortzuführen. Damit einher ginge für alle Abgeordneten ein deutlicher Schutz ihrer Gewissensfreiheit![11]

Heinrichs hat mit seinem Ansatz der Viergliederung eigentlich die Idee der Dreigliederung in die Öffentlichkeit getragen – und konkretisiert. Es wäre gerade um der Dreigliederungs-Idee willen wichtig, daß ihre Vertreter unbefangen und ernsthaft mit der Frage ringen, inwieweit diese Idee in Heinrichs´ Konzept konkrete Gestalt angenommen hat.[12] Der vorliegende Artikel möchte ausdrücklich zu einer entsprechenden Diskussion animieren.

Johannes Heinrichs, geboren 1942, Philosoph, Theologe und Sozialwissenschaftler, lehrte 1975-77 Sozialphilosophie an der Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt a. M. Seit seinem Ordens- und Kirchen-Austritt aus Gewissensgründen Gastprofessor, Forschungsbeauftragter und Schriftsteller. Zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze, Essays und Bücher zu Hegel, Kant, Handlungs- und Sprachtheorie, Sozial-, Natur- und Religionsphilosophie, zuletzt „Philosophie am Scheideweg“ (2002), „Revolution der Demokratie“ (2003), „Das Geheimnis der Kategorienlehre“ und „Logik des Sozialen“ (2004).
Information: www.viergliederung.de

 

Fußnoten


[1] erschienen im Maas Verlag, Berlin 2003.

 

[2] Johannes Heinrichs: Reflexion als soziales System. Zu einer Reflexions-Systemtheorie der Gesellschaft, Bouvier Verlag, Bonn 1976 (überarbeitete Neuerscheinung im Herbst 2004: Logik des Sozialen, Maas-Verlag, Berlin)

 

[3] Die Wirtschaftssphäre gliedert sich in Konsum und primären Sektor (Landwirtschaft); Produktion; Handel und Dienstleistung; Finanzmarkt (Handel mit dem Medium selbst), die Kultursphäre in Lernen und Lehren (Überlieferung des Vorhandenen); Forschung und Wissenschaft; gesellschaftliche Kommunikation; Kunst; die Grundwertesphäre in wissenschaftlich-philosophische Weltanschauung; Ethik und Moral/Ethos; Religion und Symbolik einer gemeinsamen Sinnwelt (kommunikativ); „Mystik“ bzw. Spiritualität (meta- bzw. transreligiöse, individuelle Sinn-Erfahrung).

 

[4] Im Wirtschaftsparlament würden sich z.B. eine neoliberal-kapitalistische Partei und eine zins- und renditekritische Partei bilden.

 

[5] In Zusammenhang mit dem „Grundwerteparlament“ denkt Heinrichs keineswegs an „demokratische“ Beschlüsse allgemeinverbindlicher Weltanschauungen. Sehr wohl aber an Rahmengesetze für Rechtsfragen, die durch demokratisch gewählte Repräsentanten verschiedenster Weltanschauungen demokratisch beschlossen werden. Da jeder Mensch Weltanschauungen hat, gibt es keine „weltanschaulich neutralen“ Gesetze. Heinrichs will die zentralen Rechtssetzungen nicht dem Zufall parteipolitischer Mehrheiten und versteckter Weltanschauungen, auch nicht dem Diktat angeblicher Sachzwänge, überlassen. Das Grundwerteparlament hätte den rechtlichen Rahmen dafür setzen, daß entsprechend der Grundwerte gehandelt werden kann. Heinrichs verweist auf den heute bereits massenhaft vorhandenen guten Willen der Einzelnen, der sich außer in Nischen nicht ausleben kann (und oft auch gar nicht als solcher bewußt werden kann), weil ihm die gegenwärtigen Verhältnisse entgegenstehen.

 

[6] Im Vortrag vom 25.10.1919 (GA 332a) lehnt Steiner Parlamente ab, die eine selbständige Verwaltung für das Wirtschafts- und Geistesleben bilden. In einer solchen Verwaltung würden sich die drei Impulse nach Freiheit, Demokratie und einer sozialen Gestaltung des Gemeinschaftswesens stets gegenseitig stören. Auch Heinrichs lehnt eine vereinnahmende Verwaltung ab. Ihm geht es um die demokratisch möglichen Rechtssetzungen, die für Freiheit und soziale Gestaltungen die Grundlage bilden (die Vierzahl der Parlamente darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß demokratisch entscheidbare Rechtsfragen durch die Gliederung gerade sachgemäß behandelt werden. Gewissermaßen hat sich nur das eine Parlament des Rechtslebens nur sachgemäß gegliedert und man könnte auch von Ausschüssen sprechen – die aber demokratisch gewählt werden etc.).

 

[7] Dieser Umstand sowie die Tatsache der „erzwungenen“ Sach-Orientierung läßt die Gefahr, daß gerade bei einer Mehrzahl von Parlamenten deren Kompetenz (die eigentliche Rechtssphäre) mißverstanden und überschritten werden könnte, gering erscheinen.

 

[8] Zum Argument, über Grundwerte könne nicht demokratisch entschieden werden, siehe Anmerkung 5.

 

[9] Im übrigen wäre die Diskussion entscheidender Rechtsfragen, die heute entweder totgeschwiegen oder in versteckten und/oder undemokratisch gebildeten Ausschüssen und Kommissionen verhandelt werden, ein starker Impuls für das Geistesleben, solche Fragen ebenfalls zu diskutieren und dem Grundwerteparlament seine Impulse zuströmen zu lassen. Auf der anderen Seite wäre die Konkretisierung und schon die demokratische Diskussion der Grundwerte auch für das Wirtschaftsleben ein Impuls, aus sich heraus Einrichtungen zu schaffen, die menschengemäß sind.

 

[10] Ein Verfassungsgericht kann eine Grundwerte-Kammer nach Heinrichs nicht ersetzen, weil es nicht demokratisch gewählt wird und seine Aufgabe nur die Kontrolle der anderen Gewalten ist. Die Grundwerte-Kammer hätte dagegen Rahmengesetze erst zu schaffen (demokratisch legitimiert und diskutiert).

 

[11] Die „moralische Technik“ als dritter Schritt entspräche dann den freien Handlungen aller Einzelnen, die innerhalb einer menschengemäßen Rechtssphäre sich frei ausleben könnten.

 

[12] Dabei wäre zu berücksichtigen, daß Steiner noch von einem deutlich anderen „Staat“ und Verhältnis Staat – Individuum - Zivilgesellschaft ausgehen mußte.