05.06.2008

Der lebendige Rudolf Steiner

Buchbesprechung: Mieke Mosmuller: Der lebendige Rudolf Steiner. Eine Apologie. Occident Verlag, 2008 (244 S., 18,50€).

Veröffentlicht im „Europäer“, Oktober 2008. Gekürzt veröffentlicht in "Gegenwart" 4/2008. >> Langfassung.

Es gibt viele Bücher über Rudolf Steiner. Kürzlich aber ist ein außergewöhnliches Buch erschienen, das Zugänge zum lebendigen Wesen Rudolf Steiners und zum wahren Wesen der Anthroposophie eröffnen will. Geschrieben wurde es von der niederländischen Anthroposophin Mieke Mosmuller, die in ihrem 2007 erschienenen Buch „Der Heilige Gral“ bereits das Wesen und den Entwicklungsweg des reinen Denkens schilderte – ein Weg, der schließlich zur realen Erfahrung des Christuswesens führt.


Mit dieser seit 21 Jahren errungenen und stetig weiterentwickelten über-sinnlichen Fähigkeit trägt sie von verschiedenen Seiten Aspekte zusammen, die sich auch für den Leser immer mehr zu einem Erlebnis zusammenfügen. Die klare Sprache zielt immer auf das Wesentliche und enthält zugleich voll und ganz den tiefen Ernst des Geschilderten. Mehr und mehr wird klar: Rudolf Steiner und die Anthroposophie sind lebendige Wesen. Man kann sie und ihre Bedeutung immer nur unterschätzen – und tut dies fortwährend, weil überall, selbst im Zentrum der anthroposophischen Bewegung, der Intellekt das Feld beherrscht und nirgendwo das reine Denken geübt, geschweige denn in seiner Bedeutung (an)erkannt wird. 

Vom fehlenden Verständnis

Mieke Mosmuller schildert, welche unerhörte Tat Rudolf Steiner bereits in „Wahrheit und Wissenschaft“ vollbrachte: Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte verwirklicht ein Mensch denkend das Erkennen des Erkennens – und bringt diese Tat in Worte. Es käme darauf an, nicht einfach darüber hinwegzulesen, sondern dem mit aller Willenskraft nachzufolgen.

In demselben Maße wäre auch alles andere erst einmal (neu) tief ernst zu nehmen, was Rudolf Steiner geschrieben und geschildert hat – seien es die Worte über seine eigene Entwicklung, sei es das Gestandenhaben vor dem Mysterium von Golgatha, das Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ oder die „Geheimwissenschaft“. Immer müsste man sich klarmachen und es mehr und mehr wirklich erleben können, was es heißt, dass ein Mensch – Rudolf Steiner – dies alles erlebt, errungen, geschaut hat. Auf all dies weist Mieke Mosmuller in tief wahrhaftiger Weise hin.

Im weiteren schildert sie dann die Tragik der Anthroposophie, wie sie schon zu Steiners Lebzeiten einsetzte: Es hätte neben Rudolf Steiner andere Menschen geben müssen, die das reine Denken zumindest in Ansätzen entwickelten. Diese gab es jedoch nicht, und als die Anthroposophie in den Künsten sichtbar und hörbar wurde, verfiel man um so mehr dem äußeren Schein. Der Geist kann die Formen aber nur beleben, wenn sie selbst aus einem geistigen, wirklichen Bewusstsein der Form gestaltet werden. Ist dies nicht der Fall, bleibt alles, was in Erscheinung tritt, mehr oder weniger geistlos. Die Autorin beschreibt dies ausführlich und eindrücklich.

Der Brand des Goetheanums war dann – wie Rudolf Steiner selbst sagte – die Folge dessen, dass die Mitglieder nicht wach genug waren. Ein Jahr später versuchte er durch die Tat der Weihnachtstagung, das Ruder herumzureißen. Doch auch da konnten ihm die Mitglieder nicht wirklich innerlich folgen, den von ihm gewiesenen Weg nicht wirklich betreten. Neun Monate später brach Rudolf Steiner zusammen, ein halbes Jahr darauf starb er. – Nach seinem Tod wurde die Anthroposophie vollends ein Totes, eine zerfallende Mumie, die nur äußerlich dieselbe Gestalt behielt.

„Es müsste Menschen geben, die ein innerlich erkraftetes reines Denken entwickelt haben – wodurch es erst ein freies Geistesleben und eine anthroposophische Bewegung geben würde –, die das auf Erden anwesende anthroposophische Gebilde auferstehen lassen könnten. (...)
Die innerlichen Anstrengungen, die man machen muss, um zum reinen Denken zu gelangen, werden viel zu sehr unterschätzt. (...) Dann aber kann man auch Rudolf Steiner nie in seiner Lebendigkeit erfassen (...)“

Karmisches Dogma oder lebendige Beziehung?

Dann setzt sich Mieke Mosmuller mit der bis heute verbreiteten Auffassung auseinander, Rudolf Steiner habe sich in der Weihnachtstagung karmisch mit der „Gesellschaft“ verbunden und bleibe es „auf ewig“. Ausführlich beschreibt sie, wie man, gerade wenn man die Tatsachen ernst nimmt, nur zu der Erkenntnis kommen kann, dass es sich hierbei um ein reines, undurchschautes Dogma handelt – ein Dogma, an dem bis heute unzählige Anthroposophen leiden, die in der „Gesellschaft“ nie eine Geistesheimat gefunden haben, weil die Zerrissenheit der tief erlebenden Seele gerade dadurch entsteht, dass der Geist Rudolf Steiners und der Anthroposophie dort nicht anwesend ist.

Gerade eine der engsten Vertrauten Rudolf Steiners, Ita Wegman, erkannte die wahre Lage und schrieb nach seinem Tod: „Wir müssen uns zu allererst klar sein, dass die Weihnachtstagung eigentlich kaputt ist, zugrunde gerichtet.“ „Es wurde alles so hingenommen, als ob es selbstverständlich war und als ob man ein Anrecht darauf hatte.“

Auch heute ist die Lage keineswegs besser. Mieke Mosmuller weist vielmehr darauf hin, dass auch die Mantren der Klassenstunden längst unwirksam geworden sind, ja mehr noch:

„Als Mantren sind sie nicht nur unwirksam – davor hatte der Meister selbst schon genügend gewarnt: ein Bekanntwerden der Sprüche außerhalb der Hochschule würde diese unwirksam machen –, sondern sind sie sogar schädlich für das gesunde Seelenleben. (...) Aller Streit, alle Konkurrenz, das ganze Machtstreben, das in den Klassenlesern und den Mitgliedern der Hochschule damals lebte, jetzt noch immer lebt, ist in sie hineingetragen worden, ist hineingeflossen. Sie sind von schädlicher Astralität überladen, und wer den Geist in sich erweckt hat, der erlebt es und schaut es letztlich.“


Wie aber findet man Zugang zum Wesen Rudolf Steiners? Die Autorin beschreibt zunächst, wie hier auch das reine Denken ohnmächtig an die eigenen Erkenntnisgrenzen gelangt und sich Antworten erst im Laufe eines wahrhaftigen Ringens ergeben. Als Ergebnis eines solchen Ringens entfaltet sie dann Zusammenhänge, die im mitdenkenden Leser ebenfalls eine Ahnung von dem Entwicklungsweg des großen Eingeweihten über mehrere Inkarnationen hin aufsteigen lassen. Auf behutsamste und ehrfürchtige Art zeigt die Autorin, wie diese einzigartige Individualität die Früchte ihrer Entwicklung jeweils aufgegriffen und auf immer höhere Stufen geführt hat – bis das reale, schaffende Weltenwort selbst in ihre Intelligenz einziehen konnte...

Dann beschreibt Mieke Mosmuller, wie man auch heute vom Wesen Rudolf Steiners Hilfe und Antworten auf seine Fragen bekommen kann. Und sie deutet an, wie man die lebendige Anthroposophie finden und in ihr lesen lernen kann – was sie ausführlicher in ihrem Buch „Der Heilige Gral“ beschrieben hat. All dies ist nur möglich, wenn man selbst das reine Denken erreichen kann und dieses immer weiter entwickelt. Die vielfältigen Stellen, an denen die Autorin dies immer wieder betont, sind eine klare Absage an den verbreiteten Glauben, „Anthroposophie“ treiben zu können, ohne dieses reine, lebendige Kraft-Denken als Fähigkeit errungen zu haben.

Innere Gegnerschaft und das Wesen der Wahrhaftigkeit

Im letzten Teil ihres Buches setzt sich Mieke Mosmuller zunächst mit drei Arten der inneren Gegnerschaft der Anthroposophie auseinander. Die erste Art richtet sich gegen das Wesen der Geist-Erkenntnis, indem sie bei einer Verstandes-Erkenntnis stehen bleibt. Die zweite Art biedert sich in Form einer „All-Eins-Esoterik“ anderen New-Age-Kreisen an und leugnet so ebenfalls die viel umfassendere Entwicklungsidee und Geistigkeit der Anthroposophie. Die dritte Gegnerschaft richtet sich gegen das Christliche, indem sie es völlig verzerrt verkündet (hier bezieht sich die Autorin auf Judith von Halle, mit der sie sich sehr ausführlich in ihrem im Februar erschienen Buch „Stigmata und Geist-Erkenntnis“ auseinandergesetzt hat).

Es folgt dann ein sehr wesentliches Kapitel. Es schildert den Maßstab, an dem sich entscheidet, ob etwas Anthroposophie, ob jemand Anthroposoph ist oder nicht: „Der Weg zur Wahrhaftigkeit“.

„Die Wahrhaftigkeit im Denken tritt erst ein, wenn es zwischen dem Denker und dem Gedachten keine Distanz mehr gibt. Gibt es diese Distanz, dann hat man es entweder mit Abstraktion zu tun, oder mit Unwahrheit (bewusste oder unbewusste Lüge oder Irrtum). (...) Die Unwahrhaftigkeit (...) beginnt schon da, wo Anthroposophie vom Abstrakten her ‚behandelt‘ wird, statt sich von innen nach außen wahrhaft zu entfalten (...) Die Gedanken dürfen nie Phrase werden, werden es jedoch, die aus den Gedanken geschöpften Verhaltensweisen nie zur Konvention, es besteht aber ein ganzes System ‚anthroposophischer‘ Konventionen, und die Taten, welche auch immer, nie zur Routine, diese findet sich jedoch im ganzen ‚anthroposophischen‘ Tatenleben (...).“


In ihrem Schlusskapitel macht Mieke Mosmuller noch einmal ganz klar, dass man sich dem Wesen Rudolf Steiners und der Anthroposophie nur nähern kann, indem man diese verwirklicht – in harter, fortwährender Arbeit.

„Für mich war das seit dem ersten Satz Rudolf Steiners, den ich las, klar: Dies ist nicht nur eine Erkenntnisaufgabe, man muss sich selbst verwandeln wollen, und im Werk Rudolf Steiners liegt der Leitfaden dazu. Es muss ein Streben nach Heiligkeit da sein, aber mit dem vollen Bewusstsein, dass diese nicht unmittelbar erlangt werden kann, sondern erst entlang eines langen Weges.“ – Und: „Nun, nach 24 Jahren des ‚Zusammenlebens‘ mit dem Nachlass Rudolf Steiners und intensiver Nachfolge seiner Anregungen (...) fesselt mich noch immer jede Zeile, (...) beweist sein Werk noch täglich die unerschütterliche Wahrheit, weil alles nachvollziehbar ist, nicht nur als Erkenntnis, sondern vor allem in dem Verwirklichen der beschriebenen Erkenntnis-Stufen, das auch zum wirklichen, lebendigen Rudolf Steiner führt.“

Wenn sie dann das Buch mit dem Satz beendet: „Im Bewusstsein der Unvollkommenheit dieser Darstellung, in tiefster Ehrfurcht und Dankbarkeit für diesen Meister des Abendlandes geschrieben“, zeigt sich in diesem einen Satz nochmals die ganze Signatur des Buches. Und trotz dieser Unvollkommenheit, die die Autorin fühlt, muss gesagt werden: Es gibt kein Buch, das dem Wesen Rudolf Steiners näher kommt und die Tragik der Anthroposophie heute klarer und wahrhaftiger beschreibt als dieses.