Der Timpwecken

von Elisabeth Palmer-Paulsen, in: Die Christengemeinschaft, 9-10/1949, S. 237-240.


Timpwecken hießen in Estland jene vierzipfeligen kreuzförmigen Brötchen, nach den vier „Timpen“, d.h. Ecken, so benannt, mit denen alt-traditionelle Bäckerphantasie dieses ebenso sinnreiche wie wohlschmeckende Gebäck ausgestattet hatte. Und wenn allmorgendlich die „Bulkafrau“ an der Haustür erschien und den knusprigen Inhalt ihres Korbes den Kindern zur Auswahl hinhielt, so übte, neben all den Hörnchen, Mohnbrötchen, Brezeln, Rosen- und Franzbroten der goldbraune Timpwecken eine besondere Anziehungskraft auf das kleine Mädchen aus. 

Nicht jeder Bäcker führte, und nicht zu jeder Zeit, dieses altmodische Brotwerk, und so freute sich Lucie besonders, als sie nach den zu Studien im Ausland verbrachten Jahren wieder das heimatliche Städtchen besuchte und dort eines hellen Herbstmorgens auf dem Markte an einem der vielen Weißbrotstände unzählige jener frischen, kreuz-zipfeligen Brötchen, eben Timpwecken, bemerkte. Mit freundlichem Lächeln füllte die behäbige Marktfrau Lucies Tasche mit dem heimatlichen Gebäck.

Dann schlenderten sie zu viert weiter, die jungen Wandergefährten frühster Zeit, die sich nach Jahren hier wieder trafen: Hermann, der große, übermütige Mediziner, sein Freund Peter, der Theologe mit den kindlichen Zügen, und der stille kluge Hans, den sie den Mönch nannten ob seiner gewissenhaften Gelehrsamkeit. Es war ein unerwartetes und um so fröhlicheres Wiedersehen, und viele Fragen schwirrten hin und wider.

Jetzt kamen sie zu den Bäuerinnen, die rund und rosig, wie ihre Ware, hinter Bergen köstlicher Äpfel bockten. Da waren die zartgelben Klaräpfel, denen die zeitigen Fröste des nördlichen Sommers jene geheimnisvolle Durchsichtigkeit verleihen, so daß man im Innern das schwarze Kernhaus schimmern sieht, wie ein Schneewittchen im Glassarge. Und gar die roten Rosenäpfel! Konnte sich denn irgendeine Frucht reicherer, südlicher Länder damit vergleichen, mit dieser urkräftigen Würde, dieser reinen herben Süße des Rosenapfels, dessen Wohlgeruch die ganze Straße erfüllte mit der Ahnung des Sonnenüberschwangs des kurzen, hellnächtigen nordischen Sommers?!

Und heute war Markttag. Ein besonderer Markttag. Michaelismarkt.

Unter auf dem Fluß wiegten sich die breiten Kähne, vollbeladen mit Holz aus den unerschöpflichen Wäldern des Landes. An den Ufern stapelten sich die hellen seidenglänzenden Birkenscheiter zu Mauern, zwischen denen man wie in engen duftenden Schluchten umherging. Denn, nicht wahr, lang und hart ist der Winter, und die Stadt hat viele Öfen!

Und dann schlenderten sie zwischen den Buden umher, ließen sich treiben im fröhlich-geschäftigen Menschenstrom. Sie lachten über die an Schnüren aufgereihten Stiefel – aber lacht nicht! Das Schuhwerk war gut und haltbar gearbeitet und hat manche Wanderung treu überstanden, auf gebahnten und ungebahnten Wegen.

Michaelismarkt! Michaelismarkt! Da fährt der Bauer zur Stadt, die Ernte ist eingebracht, und nun wird gewogen und geprüft, gehandelt und getauscht... Eines Jahres Werk hat seine Frucht getragen, und an diesem Tag darf alle Arbeit ruhen, darf ein jeder sich frei als Mensch unter Menschen fühlen. Da gilt kein Unterschied, ob hoch oder nieder, arm oder reich. Da ist es alte Sitte, daß der Herr dem Knechte dient, der Herr den Kutscher fährt, und beide, Herr sowie Knecht, brüderlich aus einem Becher trinken, von einem Brote essen...

„Nun“, meinte Hermann, „diese Art Freiheit ist wohl heute keine andere mehr, als die aus dem Glase frischgebrannten Kornes aufsteigt und immer diese etwas fragwürdige Brüderlichkeit unter den Menschen herstellt!“

„Immerhin aber deutet doch diese Sitte darauf, daß seit je im Volke eine Ahnung davon gelebt hat, daß gerade der Michaelstag in besonderem Maße ein Fest der Menschenwürde sein soll“, erwiderte Lucie, „und es möchte wohl ein Ziel für uns Junge sein, ein solches Menschentum zu suchen und zu pflegen, das diese Tag erneut einen festlich-glanzvollen Platz im Kreis der Jahresfeste gibt!“

„Zu jedem Ziel muß man den Weg wissen“, sagte der andere, „wer kennt den Weg zu solchem Menschsein, das einen Jeden zur Entfaltung seiner höchsten Freiheit führt und ihn gerade dadurch wirkliche Brüderlichkeit finden und verwirklichen läßt?“

„Wege der Freiheit sind gefährlich“, wandte Peter vorsichtig ein. „Nur kindliche Gläubigkeit, wie sie die Väter noch besaßen, schenkt uns die Bindungen, die uns vor den Irrwegen der Freiheit bewahren können.“

„Niemals darf die Gefahr uns schrecken!“ brauste Hermann auf. Seine Augen blitzten. „Seht doch den leuchtenden Herbst: gießt er nicht Feuerflammen des Mutes in unsere Herzen, die Abenteuer der Zeit zu suchen und zu bestehen!“

Sie hatten den Markt verlassen und waren vor die Stadt gelangt. Flach dehnte sich das ebene Land vor ihnen bis dorthin, wo der Wald als dunkle Linie den Horizont begrenzte. Hell leuchteten die leeren Äcker im Weiß des ersten Schnees, flammend standen die Bäume der Ahornallee, die als Feuerstraße in den kristallenen seidenblauen Himmel zu führen schien. Leichter Frost ließ die Erde unter jedem Schritt knistern. Kein Lufthauch rührte sich. Hoch oben, verschwindend im Sonnenglast, kreiste ein verspäteter Kranichzug, dessen heisere Rufe als einziger Laut in der hellen scharfen Herbstluft standen.

„Keiner kann die Jahrhunderte rückgängig machen“, vermittelte Hans, der „Mönch“, mit bedächtiger Stimme, „und alle Menschenwege sind Wege in die Freiheit. Zurück zu alten Gültigkeiten, das gibt es nicht. In sich selbst heißt es nun, die Richtkraft zu finden, die früher von außen den Menschen geführt hat.“

Lucie, die schweigend zugehört hatte, öffnete ihre Tasche, verteilte die roten Äpfel, die goldbraunen Timpwecken.

„Es wird wohl ein jeder von uns seinen Weg suchen und gehen müssen. Wir werden auseinanderstreben, wie die vier Ecken des Brötchens, und doch zusammengehalten bleiben von der Kraft des Mittelpunktes. Wer in sich die Mitte gefunden, wird sie auch im andern zu erreichen wissen.“

„Die Richtkraft der Mitte! Ja, und wo finden wir sie anders als im Mut zur Freiheit!“ rief Hermann.

„Nur in der Demut des Glaubens“, meinte Peter.

„In treuer Erkenntnis der Dinge und Ereignisse“, sprach Hans.

Lucie lächelte, nur die Augen wurden ganz ernst, als sie auf die braunen Brötchen wies: „Da erhitzt ihr eure Köpfe, und seht gar nicht, welchen Schlüssel ihr in der Hand haltet, der euch das Rätsel der Mitte aufschließen kann. Das Kreuz. Hier hat´s der Bäcker zu Brot gebacken. Lassen wir uns die Timpwecken schmecken, und wenn wir uns nach zwanzig Jahren wieder begegnen, möge sich´s erweisen, wie weit ein jeder seine Mitte gefunden hat!“

Sie konnten sich nicht entschließen, das vierzipflige Brötchen zu brechen. Sinnend wog sie es in ihrer Hand.

„Weltkreuz und Menschenmitte, keiner wird dir entgehen. Wann wird in uns das Auge erwachen, das uns IHN erkennen läßt, der uns Lebensbrot und helfende Mitte sein will? Michael ist wohl sein leuchtender Bote im Jahr, wann aber naht Er uns selbst?“

Sie schreckte aus ihrem Sinnen auf: merkwürdig, da stand, wie aus dem Boden gewachsen, ein Fremder, ein Bettler offenbar. In zerschlissenem Anzug, ohne Mütze, schäbige Schuhe an den Füßen, an denen die Erde klebte – so schien er einen weiten Weg hinter sich zu haben. An einem Bindfaden hing ihm ein leinener Beutel über die Schulter. Seltsam hell erschien das blasse, eigentlich noch junge Gesicht, doch geprägt von schwerer Erfahrung. Die Farbe der Augen glich am ehesten fließendem Gold, und in der gütigen Eindringlichkeit des Blickes lag so gar nichts von üblichen Bettlerblick, jenem Gemisch aus berechnendem Jammer und aufdringlicher Gier. Ein Blick – duchfuhr es das Mädchen –, der nicht nehmen will, sondern geben! Was aber waren dies für Hände? Was wollten sie von ihr? Hände, die alle Härten der Arbeit zu kennen schienen und doch seltsam hell und leuchtend. Was konnte sie diesen Händen zu geben haben?

Rasch entschlossen legte sie den Apfel, das Brötchen in die ausgestreckten Hände des Bettlers. Und eilte, die Gefährten einzuholen. Die schienen den Fremden nicht gesehen zu haben. Und als sie sich noch einmal nach ihm umwandte, war er verschwunden. Wie sonderbar! Wo konnte er geblieben sein? Gab es doch rechts und links nichts, das einen Menschen hätte verbergen können!

Zwei Jahrzehnte waren vergangen seit jenem hell-leuchtenden Michaelis-Markttag. Welche Stürme waren seither über die Erde gezogen! Menschen- und Völkerschicksale waren durcheinandergewirbelt worden, wie die bunten Blätter, die der Herbststurm vor sich hertreibt. Ströme von Blut und Tränen hatten die Erde getränkt. Millionen waren zu herd- und heimatlosen Wanderern geworden.

Auch die Frau, die über den braunen Ackerhügel ging, schien dazu zu gehören, zu den Wanderern der Zeit. Müde genug steckten die Füße in den festen, schweren Stiefeln. „Das einzige, das mir von der Heimat geblieben“, dachte sie, und lächelnd erinnerte sie sich an jenen hellen Herbsttag in der Heimat, mit goldenen Brötchen und duftenden Äpfeln, als sie die Stiefel auf dem Markte erstanden, unter Lachen und Scherzen der Gefährten.

Die Gefährten! In welche Winde mögen sie verschlagen worden sein! Und ob wohl ein jeder seine Weite gefunden haben mag und die – Mitte? ... Plötzlich stand das Erinnern an jenen Tag hell vor ihr.

„Und ich?“ sann sie, „habe ich sie gefunden? Damals – verschenkte ich das Brot.“

Und nun ging sie mit müdem Rücken über die Felder. Im Rucksack trug sie Kartoffeln, gute braune Knollen nach Hause. Nach Hause? Ja, dort, wo die Kinder warteten, da war zu Hause, und wie würden sich die Kinder freuen über die Kartoffeln! Und wie wird ihnen das Brot schmecken, die große braune Doppelschnitte, von der Bäuerin mit richtiger Butter bestrichen – denkt nur: Butter! Sie werden das Brot teilen, und es wird für alle reichen. Es muß immer reichen. Und für Alle...

Auch heute war ja Michaelistag, die Bäume leuchteten gelb und golden, ein roter Sonnenball versank hinter den Hügeln. Lange violette Schatten lagen zwischen den Furchen des Sturzackers, nebliger Dunst wob aus dem feuchten Grund. Vereinzelte Sterne blinkten schon am grünlichen Himmel.

„Nur jetzt ein wenig geeilt“, dachte Lucie, „daß ich daheim bin, ehe es vollends dunkel wird!“

Als sie vom Feldweg auf die Landstraße trat, die sich hier gabelte, kam ein großer Lastwagen um die Ecke gebogen. Er stand voller Soldaten, die allerlei Lieder in ihrer Sprache johlten. „Betrunken“, stellte sie fest und sah sich unwillkürlich nach Deckung um. Aber zu spät! Schon war sie entdeckt worden, die Soldaten riefen ihr etwas zu, sie unterschied nur den Namen einer benachbarten Ortschaft und winkte mit dem Arm in der betreffenden Richtung. Aber sie schrien und lachten nur, der Fahrer heilt, einige von den Kerlen sprangen vom Wagen, und im Nu sah sich Lucie von den wüsten Gestalten umgeben, die sie gestikulierend aufforderten, den Wagen zu besteigen.

Die Frau stand wie erstarrt. Das Herz pochte ihr im Halse. „Eisern ruhig jetzt“, zwang sie sich, und indem sie harmlos tat, als begriffe sie nicht, und den Kopf schüttelte, die Achseln zuckte, hämmerten ihre Gedanken: „Nur jetzt keine Furcht! Kei–ne Furcht! In mir die – Mitte – – !“

Seltsamerweise jagten Bilder der Vergangenheit an ihrem Auge vorüber, für einen Augenblick aber leuchtete ganz deutlich das Bild eines schwarzen Kreuzes, das sich von innen her erhellend verwandelte zum goldenen Brote, zum Timpwecken der Jugend...

Gröhlend und lachend drangen die Soldaten auf sie ein.

„Los, schnell!“, und da sie sich nicht rührte, trat einer von ihnen, ein dunkelhäutiger Riese, dicht vor sie hin, griff nach ihrem Arm. –

„Los, vorwärts!“ ermunterten ihn die anderen, „heb sie doch einfach hinauf, diese Fliege!“

In demselben Augenblick sah sie am dunklen Himmel vor sich einen Sternfunken aufblitzen, langsam seine glühende Bahn ziehen, verlöschen. Aber als sei der Stern in ihr Herz gefallen, so fühlte sie sich von einer warmen Ruhe durchströmt.

Da trat Einer aus dem Schatten des Wagens heran. Sie hatte ihn vorher gar nicht bemerkt im beängstigenden Tumult. Er mochte Dolmetscher sein, denn er trug zerschlissenes Zivil, ein Leinenbeutel hing ihm an einem Bindfaden über der Schulter. Seltsam hell stach sein Antlitz von den geröteten, verzerrten Fratzen der Soldaten ab, die auf einmal zurückwichen und für einen Augenblick verstummten.

„Komm“, flüsterte der Mann, und führte, nein, schob sie, die Hand an ihrem Rücken, ganz schnell aus dem Blickfeld. Mit wenig Schritten waren sie um die Straßenbeuge, ein Hoftor stand offen. Lucie wollte dem Retter danken, aber kein Wort brachten ihre Lippen hervor. Was nur konnte sie ihm geben! Nicht einmal eine Zigarette hatte sie in der Tasche! Nur das Brot – und während ihre Hand zitternd danach tastete, bohrten ihre Gedanken: „Wo nur, wann habe ich dieses Gesicht schon einmal gesehen?“

In demselben Augenblick hörte man das Brummen des anspringenden Motors, die Soldaten fuhren davon. Ihre Füße versagten, sie sank auf einen Stein. Da lächelte der Unbekannte und ließ etwas in ihre Schürze gleiten, aus einer merkwürdig weißen Hand. Leuchtete nicht ein Mal in der Mitte dieser Hand? Wie ein Blitz durchzuckte es die Frau:

„ER – der Bettler – –.“

Sie sprang auf, wollte ihm nacheilen – aber wie von der Erde verschluckt war er im Dunkel verschwunden.

Ehe Lucie heimging, bückte sie sich, um die Gabe des Fremden aufzuheben, die ihr beim hastigen Aufspringen aus der Schürze geglitten war. Sie tastete im Grase und fand einen rosaroten Apfel und ein goldgelbes, vierzipfeliges Brötchen: einen Timpwecken.