Die Frau des Pilatus

von Gertrud von le Fort, aus: Rolf Grunow (Hg.): Mein Freund Jan. Erzählungen - nicht nur für Ostern. Evangelische Verlagsanstalt, 1973.


Die freigelassene Griechin Praxedis zu Rom an Julia, die Gat­tin des Decius Gallicus zu Vienna:

Verehrungswürdige Herrin, ich erfahre soeben, daß in den näch­sten Tagen die Legion des Quintus Crassus von Rom nach Gal­lien verlegt werden soll, und eile daher, einem ihrer Tribunen jenen ausführlichen Bericht anzuvertrauen, um den mich Deine schwesterliche Liebe zu meiner teuren Herrin gebeten hat. Denn anscheinend vermochte ich Dir in meinem ersten Bericht die Dinge nicht klar genug darzulegen. Ich bitte Dich, verzeih mir meine Verworrenheit - ich war, als ich Dir schrieb, über die er­schütternden Vorgänge noch allzu tief erregt. Außerdem bestan­den über die Zuverlässigkeit meines damaligen Boten einige Zweifel, und die Dir bekannte Verfolgungswelle war noch nicht völlig abgeklungen.

Inzwischen hat sich die gefahrvolle Lage ge­bessert. Der Bote, den ich wählte, ist zwar keiner Deiner Glau­bensgenossen, aber verschwiegen und vorurteilsfrei, ein nüchter­ner Römer, der jene Verfolgung mit kühler Besonnenheit ab­lehnt, und so darf ich mich Dir denn heute freimütig anvertrauen. Wie Du mir mitteilst, erzählt man sich gegenwärtig immer noch in Gallien, der Prokurator, nachdem er in Verzweiflung von Ort zu Ort geirrt sei, habe durch einen Sturz in den helveti­schen Bergen den Tod gesucht und gefunden. Ich brauche diese Legende nicht richtigzustellen, Du weißt, daß sie auf einer Er­findung beruht: nicht der Prokurator, sondern seine Gattin, mei­ne geliebte Herrin Claudia Procula, ist gleichsam durch alle Räu­me dieser Welt geirrt - ich sage „gleichsam“, denn es gibt auch geistige Räume, welche die Welt nicht nur bedeuten, sondern in einem höheren Sinne diese wirkliche Welt sind.

Ich beginne also mit jenem erstaunlichen Traum meiner Herrin, in dem Du zu Recht die Wurzel ihres Schicksals vermutest. Auch stimme ich Dir vollkommen bei, wenn Du zwischen Träumen und Träumen un­terscheidest: es gibt in der Tat solche, die von vornherein das Antlitz einer gebieterischen Wahrheit tragen, auch wenn kein deutungskundiger Priester uns dessen versichert. Und während die gewöhnlichen Träume leichtfüßig und schnell wie Verstecken spielende Kinder an uns vorüberhuschen, stehen jene, die Du meinst, von vornherein so deutlich vor uns wie etwa die ehr­furchtgebietenden Bildsäulen auf dem römischen Forum, bei de­ren Anblick es ist, als riefen sie dem Beschauer zu: „Vergiß uns niemals!“ Und zu diesen letzten Träumen gehört auch der, von welchem wir sprechen.

Ich erinnere mich aller Umstände, die ihn begleiteten, noch sehr genau, obwohl seither mehrere Jahrzehnte vergangen sind. Meine damals noch blutjunge Herrin war zu jener Zeit oft schwer­mütig, weil sie sich von ihrem Gatten vernachlässigt glaubte - Du weißt, sie hatte als ein verwöhntes Kind eine sehr anspruchs­volle Vorstellung von der ehelichen Liebe eines Mannes. Und es ist wahr, der Prokurator ließ sie damals viel allein, aber doch wohl nur infolge der Bürde seines mit tausend Ärgerlichkeiten verbundenen Amtes, das er bei jenem kleinen, aber äußerst schwierigen Volk zu bekleiden hatte und das ihm seiner ganzen herrscherlichen Art nach überaus lästig war. An jenem Morgen aber, von dem ich spreche, glühte meine Herrin vor Glück und Wonne, denn der Prokurator war die ganze Nacht bei ihr gewe­sen.

„O meine Praxedis“, rief sie mir entgegen, „nun war mir Eros dennoch gnädig! In dieser Nacht bin ich für mein ganzes Leben geliebt worden.“ Sie richtete den zärtlichen Blick auf die kleine Statue jenes holden Liebesgottes, mit dem der Prokurator ihr Gemach geschmückt hatte. „Nein, ich will noch nicht aufstehn“, wehrte sie ab, als ich mich anschickte, ihr beim Ankleiden behilf­lich zu sein, „laß mich noch ein wenig ruhen und träumen - ich liege ja im Geist noch immer in meines Gatten Armen.“ Sie ließ sich von mir die Kissen zurechtrücken und schmiegte sich wie ein erschöpftes Kind wohlig lächelnd hinein.

Während ich dann im Atrium die Blumen und Früchte für die Tafel ordnete - ich hatte die schwatzenden Sklavinnen hinausge­schickt, damit niemand meiner Herrin Schlummer störe -, ver­nahm ich plötzlich aus dem Schlafgemach deren angstvollen Ruf. Als ich bei ihr eintrat, starrte sie mir auf ihrem Lager sitzend mit großen verstörten Augen entgegen. Die süße Sättigung des Glückes war von ihrem kindlich schönen Antlitz wie fortge­wischt, so als seien über dessen Jugend die Schatten vieler erst noch kommender Jahre gefallen oder als sei ihr das von den Göttern verhängte unerbittliche Fatum in leibhaftiger Gestalt begegnet. Sie streckte die Arme nach mir aus, ließ sie aber gleich darauf wie gelähmt sinken: „Nun ist alles Glück für mich zu Ende“, stammelte sie. „Ich habe einen so bösen Traum gehabt, und du weißt doch, meine Praxedis, die Träume der Morgenfrühe sind Wahrträume!“

Ich bat sie, mir ihr Traumgesicht zu erzählen, vielleicht daß ich ihm doch noch eine gute Deutung zu geben vermöchte. Sie ge­wann nur langsam die flüssige Rede zurück.

„Ich befand mich“, begann sie, „in einem dämmrigen Raum, in dem eine Anzahl Menschen versammelt war, welche zu beten schienen, aber ihre Worte gingen nur wie murmelndes Wasser an mir vorüber. Plötz­lich indessen war es, als würden meine Ohren weit auf getan oder als steige aus dumpfem Gewässer jählings der Strahl einer hochaufrauschenden Fontäne - ich vernahm mit übergroßer Deut­lichkeit die Worte: ,Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben,' Ich konnte mir nicht erklären, wie der Name meines Gatten in den Mund dieser Menschen gekommen war, noch was er zu bedeuten hatte, trotzdem fühlte ich ein un­bestimmtes Grauen vor den vernommenen Worten, so als könn­ten sie nur eine geheimnisvoll düstere Bedeutung haben.

Ver­wirrt wollte ich den Raum verlassen, aber schon befand ich mich in einem anderen noch dunkleren, der an die Coemeterien vor den Toren Roms erinnerte und dichter noch als der vorige mit Betern gefüllt war - auch hier fielen die bestürzenden Worte: ,Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und be­graben -' Ich suchte das Freie zu gewinnen, aber ich geriet aufs neue in einen geschlossenen Raum, der diesmal etwas Sakrales hatte, und wiederum vernahm ich aus dem Munde der auch hier versammelten Beter den Namen meines Gemahls. Ich hastete weiter: Raum um Raum tat sich vor mir auf - zuweilen glaubte ich einen der mir wohlbekannten Tempel Roms zu erkennen, wiewohl eigentümlich verändert: Ich sah marmorne Ambonen mit goldenen und roten Steineinlagen, aber kein einziges der mir bekannten Götterbilder. Manchmal tauchten in den Apsiden große fremde Mosaiken auf, die einen unbekannten richterlichen Gott darzustellen schienen. Aber noch bevor ich sein Antlitz recht zu erfassen vermocht, durchschauerten mich wieder von den Lippen einer dichtgedrängten Menge die erschütternden Worte: ,Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben - -'

Ich lief weiter und weiter - kastellartige Portale nahmen mich auf, Basiliken von ungeheurem feierlichem Ernst durchhastete mein Fuß. Immer größer erschien die Zahl der darin Versammel­ten, immer fremdartiger wurde die Architektur - dann plötz­lich begannen die wuchtigen Hallen sich aufzurichten, so als schwebten sie, von allen Gesetzen des Steines entbunden, schwere­los gen Himmel. Hier schwiegen die versammelten Beter, aber unsichtbare Chöre sangen, und auch aus diesen tönte mir der Name meines Gemahls entgegen: 'Crucifixus etiam pro nobis sub Pontio Pilato, passus et sepultus est -' Dann schwanden auch die schwerelosen Hallen dahin, wohlbekannte Säulen tauchten auf, aber mit seltsamen Draperien geschmückt, deren pathetische Pracht sie fast erdrückte. Auch den Raum, den diese Säulen trugen, durchströmte rauschende Musik: fremdartige Chöre, deren viel­fältige Stimmen sich umschlangen und wieder lösten, so daß die Worte unverständlich ineinander verströmten. Plötzlich aber er­hob sich aus dem schwelgerischen Wogen der Stimmen eine ein­zige: steil, streng, makellos-deutlich, anklagend, ja fast drohend erklangen wieder die Worte: ,Crucifixus etiam pro nobis sub Pontio Pilato -'

Ich lief, ich lief wie von Furien gejagt weiter und immer weiter, es war mir, als ob ich Jahrhunderte durcheilt hät­te und abermals Jahrhunderte durcheilen müßte, ja, als ob ich bis ans Ende aller Zeiten gehetzt werde, verfolgt von dem ge­liebtesten Namen, so als verbürge dieser ein Geschick von uner­meßlicher Schwere, das nicht nur sein teures Leben, sondern das der ganzen Menschheit zu verschatten drohe -“

Sie hielt inne, denn von draußen her vernahm man schon seit einer ganzen Weile aufgeregtes Stimmengewirr. Jetzt schlug auch der Name des Pro­kurators an unser Ohr, und gleich darauf, wie in geheimnisvol­ler Abwandlung der eben vernommenen Traumstimme, erklang der vielstimmige Ruf:

„Ans Kreuz, ans Kreuz mit ihm!“

Nun, wir kannten die Gewohnheiten dieses kleinen fanatischen Volkes, unter dem zu leben wir verdammt waren, wir hatten uns daran gewöhnt, daß man uns von Zeit zu Zeit einen jener lächerlichen Straßenaufstände lieferte, sobald es nämlich der herrschsüchtigen Priesterkaste darauf ankam, ihre eigensinnigen Wünsche bei dem Prokurator durchzusetzen. Wir pflegten diese Unternehmungen sonst wenig zu beachten. Heute aber war es uns wirklich, als stimme da draußen etwas in den eben vernom­menen Traum meiner Herrin ein - die fernen Jahrhunderte, die sie durcheilt zu haben glaubte, schreckten in die Gegenwart zu­rück, und diese schickte sich an, das Gesicht der Herrin zu be­stätigen. Ein Blick auf deren totenblaß gewordenes Antlitz sagte mir, daß sie dasselbe dachte.

Um sie zu beruhigen, rief ich eine der im Atrium bereitstehen­den Sklavinnen, die ja bekanntlich immer alle Neuigkeiten der Stadt wissen, und fragte sie, was es gebe. Sie erwiderte, die Ju­den hätten einen Mann vor das Gerichtsgebäude geschleppt, von dem sie behaupteten, er wolle sich zum König machen, und der Prokurator müsse ihn kreuzigen lassen. Es sei eben ein böses und undankbares Volk, denn dieser Jesus von Nazareth - so heiße der Gefangene - habe ihm viel Gutes getan, er sei ein großer Wundertäter und Krankenheiler. Sie wollte noch mehr erzählen, aber ich winkte ihr zu schweigen, denn ich merkte, daß die Her­rin sich bei ihrer Rede immer mehr erregte.

„Oh, ich wußte, daß die Morgenträume Wahrträume sind“, rief sie, als wir wieder allein waren. „Durch diesen Gefangenen wird sich mein Traum erfüllen, der Prokurator darf ihn nicht verur­teilen! Gute Praxedis, geh zu ihm und bitte ihn im Namen mei­ner ganzen Zärtlichkeit, daß er den Angeklagten freigibt. Beeile dich, um aller Götter willen beeile dich!“

Ich zögerte, nicht daß ich mich vor meinem Auftrag fürchtete - unser Herr war ein höflicher Mann, nie vergesse ich die lässige Selbstverständlichkeit, mit der er mich augenblicklich zur Frei­gelassenen erklärte, als er erfuhr, daß ich eine Griechin sei, allein er hörte in Geschäften seines Amtes nicht auf Frauenstimmen - dies gab ich der Herrin zu bedenken. Sie beharrte: „Aber heute wird er auf die meine hören, denn er hat mich diese Nacht geliebt.“

Ich ließ also meine Bedenken fallen und ging in jenen Teil des Palastes hinüber, den man das Gerichtshaus nennt. Der dienst­tuende Centurio führte mich vor den Prokurator. Er sah, ob­wohl viel älter als seine Gemahlin, an diesem Morgen sehr ju­gendlich aus mit seiner imponierenden Gestalt, dem kräftigen Kinn und dem schmalen, beherrschten Mund, wie er, eben aus dem Bade kommend und in eine frische Toga gehüllt, sich an­schickte, zu dem tobenden Volk hinauszugehen - es ist ja eine der unzähligen Wunderlichkeiten der Juden, daß sie sich zu ver­unreinigen glauben, wenn sie unsere Häuser betreten.

Ich brachte meine Botschaft vor - er hörte mich gelassen an, keine Miene in seinem verhaltenen Gesicht deutete darauf hin, daß er es eilig habe. Ich glaube, wenn ich eine halbe Stunde gesprochen hätte, würde er mich auch nicht unterbrochen haben, ja, es kam mir geradezu so vor, als sei es ihm ganz recht, das ungebärdige Volk draußen warten zu lassen - Du weißt, Herrin, er konnte gegen dieses manchmal auf verschwiegene „weise boshaft sein.

„Es ist gut, Praxedis, ich danke deiner Herrin, grüße sie von mir“, sagte er endlich, und obwohl mir sein Gesicht - ach diese undurchdringlichen Römergesichter - nichts von dem verriet, was er über meine Botschaft dachte, hatte ich den bestimmten Ein­druck, daß sie ihm nicht unwillkommen sei, fast als bestätige sie seine eigene Meinung dem Gefangenen gegenüber.

Ich eilte nun zu meiner Herrin zurück und meldete ihr, daß der Prokurator mich wohlwollend angehört habe. Es schien sie et­was zu beruhigen. Sie ließ sich von mir ankleiden, benutzte auch ausgiebig ihre vielen Schmink- und Schönheitssalben, auf die sie, ihrer frischen Jugend ungeachtet, überaus viel hielt. Dann gin­gen wir in das Triklinium hinüber, wo man das noch immer an­haltende Volksgetöse nicht vernehmen konnte. Ich las ihr einige griechische Liebesgedichte vor, die sie besonders gern hörte, weil sie die Gefühle spiegelten, die sie von ihrem Gemahl zu fordern gewohnt war.

Plötzlich stürzte die Sklavin herein, die ich vorhin wegen des Volksauflaufs befragt hatte. „O Herrin, dein Gemahl läßt den Gefangenen dennoch kreuzigen“, rief sie „und seine Freunde glaubten fest, die Engel Gottes würden ihm zur Seite treten.“

Die Herrin flog förmlich empor und aus dem Gemach. Ich folgte ihr, vermochte sie aber nicht einzuholen. Dann standen wir beide auf jenem flachen Dach über dem niedrigen Vorbau des Pa­lastes, von wo aus man den ganzen Platz zu Füßen des Gerichts­gebäudes überblickt, und beugten uns über die Mauer.

Der Prokurator saß jetzt mit finsterem Gesicht auf dem Richter­stuhl, er hatte offenbar das Urteil schon gesprochen, denn die Legionäre legten eben Hand an den Verurteilten, der vor ihm stand. Er war mit den Fetzen eines roten Soldatenmantels be­kleidet und trug ein Geflecht von Dornen um das blutende Haupt. Aber das eigentlich Erschütternde seines Anblicks war, daß dieser Erbarmungswürdige aussah, als ob er mit der ganzen Welt Erbarmen habe, sogar mit dem Prokurator, seinem Rich­ter - ja sogar mit ihm! Dieses Erbarmen verschlang das ganze Antlitz des Verurteilten - und wenn mein Leben davon abhinge, ich vermöchte nicht das Geringste davon auszusagen, als eben, daß es diesen Ausdruck eines unbegrenzten, geradezu unfaßli­chen Erbarmens trug, bei dessen Anblick mich ein eigentümlicher Schwindel erfaßte. Es war mir, als müsse dieses Erbarmen, wie es das Antlitz des Gefangenen bis zur Unkenntlichkeit verschlun­gen hatte, auch die gesamte mir bekannte Welt verschlingen. Ja, der Eindruck, als sei die ganze mir bekannte Welt irgendwie ins Wanken geraten, war so übermächtig, daß seiner Allgewalt zum Trotz mein Widerstand erwachte. Ich fühlte, wie sich eine hoff­nungslose Abwehr steil in mir aufrichtete, sich an meine verur­teilte Welt anklammerte und regungslos, wenngleich ohnmächtig, in dieser Haltung verharrte.

Alles dies fand in einem einzigen Augenblick statt, im nächsten schon rissen die Legionäre den Ver­urteilten hinweg, um ihn zur Kreuzigung zu führen. Der Pro­kurator erhob sich von seinem Richterstuhl und kehrte mit im­mer gleich finsterem Gesicht ins Innere des Palastes zurück. Was war geschehen? Woher kam diese veränderte Haltung? Wir haben später erfahren, die blutdürstige Menge habe ihm vorge­worfen, er schädige die Angelegenheiten des Kaisers, wenn er ihr nicht willfahre. Ich weiß, edle Julia, daß Deine Glaubensge­nossen ihn deshalb des selbstsüchtigen Ehrgeizes zeihen, allein dies ist doch wohl etwas vordergründig geurteilt. Gewiß, der Prokurator gab einen Unschuldigen preis, und er wußte dies. Aber hat Rom jemals gezögert, Unschuldige preiszugeben, wenn irgendwo die Ruhe des Imperiums auf dem Spiel stand? Die ganze Lage im Osten war damals überaus gespannt - wahrschein­lich hätte jeder Römer gehandelt wie der Prokurator. Noch ein­mal: Was gilt denn einem Römer das Leben eines einzelnen Men­schen? Und unser Herr war ein Römer vom Scheitel bis zur Soh­le. Auch gehörte er schon zu jener späten Generation, die den Göttern nur noch aus einer gewissen Höflichkeit den Ahnen ge­genüber opferte - es gab für ihn im Grunde nur ein Heiligtum und eine einzige Opferstätte: das Römische Imperium des vergöttlichten Kaisers.

Ich bat nun die Herrin, sie in ihre Gemächer zurückführen zu dürfen. Sie stand wie vom Blitz getroffen, vernichtet, als sei sie selbst und nicht jener jüdische Mann zum Tode verurteilt wor­den. Bei meiner Anrede schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte lange, inbrünstig und hoffnungslos, aber vollkommen stumm. Sie blieb auch stumm, als sich im Laufe des Tages eine merkwürdige, völlig unerklärliche Finsternis über das Land ver­breitete, und während alle ändern im Palast angstvoll durchein­anderliefen, schien sie sich in diese Dunkelheit hinemzuschmiegen wie in etwas ihrem eigenen Fühlen tief Entsprechendes.

Auch später äußerte sie sich niemals über das Geschehen dieses Tages, was mich doch allmählich zu erstaunen begann, denn sie hatte mich daran gewöhnt, daß sie all ihr Fühlen und Erleben kind­lich bei mir niederlegte. Zum erstenmal stand ich ihrer Verschlos­senheit gegenüber, und so begriff ich denn lange nicht, daß der Blick jenes unschuldig Verurteilten sie für immer verwundet und verwandelt hatte. Und doch war dieser Blick nicht auf sie selbst gefallen, er war ausschließlich auf ihren Gemahl gerichtet gewe­sen, aber eben dadurch hatte er sie getroffen, und es zeigte sich nun, wessen ihre bisher so kindlich eigensüchtige Liebe fähig wurde.

Heute weiß ich, daß sie damals seine Schuld auf sich nahm, keineswegs bewußt oder willentlich beschlossen, sondern einfach als das Ausströmen einer Liebe, die ihre bisherigen Gren­zen gesprengt hatte. Hinfort war sie traurig, während er das Leben genoß, sie litt, während er sich offenbar befriedigt fühlte, und sie ertrug schließlich sogar, daß er sich ihr entfremdete, weil er sie nicht mehr verstand. Ich begann, die Verwandlung ihres ganzen Wesens zu ahnen, als das Kind, das sie in jener Liebes­nacht empfangen hatte, tot zur Welt kam, ohne daß sie darüber in Klagen ausgebrochen wäre. Ja, es war geradezu, als sei sie innerlich auf diesen Schlag vorbereitet gewesen, wie ehedem auf die Verfinsterung der Natur, und nehme ihn geduldig, wenn auch trauernd hin. Meinen Trost, sie könne doch bei ihrer Jugend noch auf viele Kinder hoffen, schien sie nicht zu hören, und in der Tat, sie hat nie ein zweites Kind erwarten dürfen, obwohl sie ihren Gemahl nach wie vor mit großer Zärtlichkeit empfing. Aber sie wartete jetzt ohne Ungeduld, wenn er nicht kam, es war eine zarte, sehr stille Hingebung in ihrer Umarmung, manchmal etwas wie Schmerz. Wenn sie ihn mit ihren großen unschuldigen Augen ansah, mußte ich zuweilen unvermutet an seinen ungerechten Richterspruch denken, und ich fand mich ei­nen Augenblick versucht zu glauben, das Bild jenes Verurteilten wolle sich zwischen diese beiden Menschen drängen. Dem war aber nicht so, schon deshalb, weil der Prokurator offenbar gar nicht mehr an jenen Vorfall dachte.

Als er dann bald darauf nach Rom zurückgerufen wurde, schie­nen seine Erinnerungen an Judäa vollends zu versinken. Der damalige Kaiser überhäufte ihn mit ehrenvollen Aufträgen, und er genoß diese Auszeichnungen mit Befriedigung. Auch die Her­rin wurde in Rom aufgenommen, wie es ihrem Rang und der Stellung ihres Gemahls zukam, aber merkwürdigerweise wurde Rom von ihr nicht mehr aufgenommen. Hatte sie sich in Jerusa­lem ständig dorthin zurückgesehnt, so sah es jetzt fast aus, als sehne sie sich nach Jerusalem zurück. Die rauschenden Feste der Weltstadt, die sie einst bezaubert hatten, stießen sie ab. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, wenn sie von der Mißhandlung eines Sklaven hörte. Während der Triumphzüge der siegreichen Feldherrn, an denen das ganze Volk jubelnd teilnahm, bebte sie um das Schicksal der gefangenen Barbarenfürsten, die man nach beendetem Triumph auf dem Kapitol zu töten pflegte. Beson­deres Grauen aber empfand sie angesichts der öffentlichen Spiele: Die sterbenden Gladiatoren, ja sogar die wilden Tiere, die man zur Belustigung des Volkes aufeinanderhetzte, bereiteten ihr Schmerz und Qual. Sie zitterte, sooft sie ihren Gemahl in den Zirkus begleiten mußte.

Dieser hatte damals eine besondere Vorliebe für das prächtige Schauspiel der Wagenrennen gefaßt. Er besaß den Ehrgeiz, selbst eine Quadriga zu lenken, und opferte diesem Ehrgeiz durch tage­langen Aufenthalt in den heißen Bädern und durch allerlei Übungen, die seinen zur Schwere neigenden Körper entlasten sollten. Ja, er ging in seinem Ehrgeiz so weit, daß er seinen Lieb­lingssklaven in den unheimlichen Zauberkünsten eines jener Ma­gier unterweisen ließ, von denen man sagt, daß sie durch gewisse, unerhört grausame Opfer an die Dämonen Siege im Zirkus ver­leihen könnten. Nun war dies gewiß ein für den aufgeklärten Geist unseres Herrn befremdendes Zugeständnis - ich selbst konn­te mich eines Lächelns über diesen „Widerspruch nicht erwehren, und ich glaubte auch ein solches auf dem Gesicht des schlauen Sklaven zu erblicken - allein Claudia lächelte nicht, als sie davon hörte, es vermehrte nur ihr Grauen vor den Spielen.

Der Prokurator schüttelte den Kopf über ihr Entsetzen. „Du wirst dich trotzdem über meinen Sieg freuen“, sagte er zuver­sichtlich, „und man wird sich über dich freuen - das Volk wird die schöne Gemahlin des Siegers umjubeln, meine Claudia wird Triumphe feiern, die meinen eigenen weit übertreffen -“ Er hielt inne, erstaunt, daß diese Huldigung bei ihr nicht mehr verfing. „Solltest du wirklich vergessen haben, wie schön du bist?“ fragte er befremdet. Aber auch dieser Anruf verhallte ohne Wirkung.

„Ich habe Angst um dich“, sagte sie leise.
Er fuhr entrüstet auf: „Angst, wenn ich die Quadriga lenke?“
Sie erwiderte: „Nicht nur wenn du die Quadriga lenkst -“

Nun sah er sie eigentümlich gespannt an. Einige Sekunden lang war es, als wolle sich ein Gespräch zwischen beiden anspinnen, das lange fällig gewesen, aber nie zustande gekommen war. Doch schon wandte sich der Prokurator mit einer sonderbar heftigen Bewegung ab, so als könne er ihren Blick nicht ertragen.

Auch in der Folgezeit hatte ich immer wieder den Eindruck, daß er ungeduldig wurde, gereizt durch ihre Sorge um ihn - kein Zweifel, er hatte die kleine gefallsüchtige Egoistin von einst viel reizender gefunden. Und doch war Claudias Schönheit damals erst voll entfaltet. Aber seltsamerweise wirkte sie auf ihn nicht mehr, besonders ihre Augen, die er früher so bewundert hatte, ließen ihn kalt, nein mehr noch, es war manchmal fast, als ver­ursachten sie ihm Unbehagen. Auch auf die Gesellschaft wirkte Claudias Schönheit nicht mehr. Vielleicht lag es daran, daß sie jetzt die modischen Künste versäumte, durch die sich damals alle Welt bezaubern ließ. Ich trug ihr zwar die Schminktöpfchen und Schönheitssalben gewissenhaft nach, und sie war auch durchaus willig, diese zu benutzen, aber sie vergaß es immer wieder, wenn ich sie nicht daran erinnerte.

„Sie richtet sich nach der strengen Sitte unserer Ahnen, sie hat kein Verhältnis zum lebendigen Rom“, murrte die Gesellschaft, wenn sie mit ihrem immer durchseelteren Antlitz blaß und be­bend neben ihrem Gemahl im Zirkus erschien.

Nun war es allerdings nicht zu leugnen, dieses lebendige Rom war eine neue Wirklichkeit, mit der man sich zu befreunden oder abzufinden hatte. Als wir seinerzeit nach Judäa aufbrachen, re­gierte noch der Nachfolger des großen Augustus, und der Glanz seines Namens erfüllte jedermann mit Stolz und Zuversicht. Die­ser Glanz war nun freilich erloschen: furchtbare Blutgerichte hatten die letzte Zeit des Tiberius verfinstert. Vergebens suchte man im Senat nach den Trägern vieler vertrauter Namen. Die römische Aristokratie hatte zu sterben gelernt, aber die Verschontgebliebenen wußten zu leben. Es war fast, als hätte das Grauen, durch das sie hindurchgegangen, ihnen zu einem leich­teren und unbekümmerteren Dasein verholfen. Tatsächlich sprach niemand mehr in Rom von jenen finsteren Ereignissen; die ehr­würdigen Toten, diese Opfer der verbrecherischen Macht, schienen vergessen. Amüsante Skandalgeschichten, fragwürdige Lie­besabenteuer und vor allem die Erfolge in der Arena erfüllten die Gemüter, und jedermann schien sich dabei wohl zu fühlen.

Auch der Prokurator bildete keine Ausnahme. „Die Menschen sind eben vergänglich, das Imperium aber ist ewig“, pflegte er zu sagen, wenn von diesen Toten gelegentlich doch die Rede war. Nur einmal habe ich ihn flüchtig erschrecken sehen, als nämlich einer seiner Freigelassenen ihm mit höhnischem Lächeln erzählte, wie man in den letzten Tagen des verstorbenen Kaisers überall in Rom den Ruf vernommen habe: „In den Tiber mit Tiberius!“ Nun, es war ein sehr ähnlicher Ruf, wie wir ihn einst in Jeru­salem vernommen hatten, aber ich glaube kaum, daß der Pro­kurator diesem Vergleich - wenn er ihm überhaupt kam - Raum gestattete. Wie konnte er auch das Römische Imperium, das ihm doch das Höchste bedeutete, solchem Vergleich aussetzen? Und doch lag dieser Vergleich nur allzu nahe. Man hörte damals schon wieder von entsetzenerregenden Morden im kaiserlichen Hause und in der Stadt. Aber hatte der Prokurator vor den Verbre­chen des alten Tiberius die Augen geschlossen, so schien er es jetzt für seine Pflicht zu halten, die Wahnsinnstaten des jungen Caligula geradezu zu verteidigen.

„Das Wohl des Imperiums fordert eben manchmal ungerechte Opfer“, sagte er zu seiner Gemahlin - es klang fast, ich konnte mir nicht helfen, als verteidige er sich selbst.
„Das Wohl des Imperiums fordert ungerechte Opfer -“, wieder­holte sie tonlos - wieder einmal schien jenes nie zustande ge­kommene Gespräch in der Luft zu schweben.
„Was meinst du? Du wolltest etwas sagen -“, fragte er unsicher. Sie kreuzte flüchtig die Arme über der Brust, dann wie mit plötz­lichem Entschluß nahm sie seine Rechte und streichelte sie sanft.
„Weißt du noch, damals -“, begann sie, den Blick groß zu ihm aufschlagend.
„Nein, ich weiß nichts mehr“, unterbrach er sie, sich heftig ab­wendend, „den Göttern sei gedankt, ich brauche nichts mehr von Jerusalem zu wissen!“ - Wie kam er auf Jerusalem? Die Herrin hatte doch die Stadt mit keinem Wort erwähnt - oder war de­ren Name von mir überhört worden?

In solchen Augenblicken, ich kannte sie nun bereits, hatte ich immer das zwingende Gefühl, daß ihre Liebe ihn beschwören wollte, sich auf etwas zu besinnen, von dem es doch ungewiß war, ob er sich noch darauf besinnen konnte. Sie glich dann einem Menschen, der sich gehalten fühlt, einen Schlummernden zu wecken, und doch davor zurückbebt, seine Ruhe zu stören. Er spürte etwas von diesem Vorgang. Einen Augenblick war es dann, als gehe er schnell und arglos auf eine Tür zu, die es zu öffnen galt, aber noch ehe er sie erreicht hatte, kehrte er ent­schlossen und verwirrt um. Dieser Vorgang wiederholte sich zu vielen Malen. Ich hatte damals das Gefühl, daß er sich innerlich langsam von seiner Gemahlin abwandte.

Die Jahre gingen nun dahin, ohne daß sich in dem Verhältnis der beiden Ehegatten etwas augenfällig änderte. Ich weiß nicht, ob ich mich an die Spannung zwischen beiden gewöhnt hatte oder ob diese mit der Zeit zurücktrat - von Jerusalem war je­denfalls nicht mehr die Rede. Jenes so oft aufgeschobene Ge­spräch hatte noch immer nicht stattgefunden, aber es wartete auch niemand mehr darauf. Der Prokurator war jetzt schon ein alternder Mann. Unter seinem starkgeprägten Kinn hatte sich ein kleines Fettpolster gebildet, und die täglichen heißen Bäder vermochten ihm seine wachsende Körperschwere nicht mehr ab­zunehmen. Wie die meisten Römer war er frühzeitig kahl gewor­den, weshalb er sich, dem Vorbild des großen Cäsar folgend, in der Öffentlichkeit gern mit einem Kranz aus Efeu oder Wein­laub zeigte.

Auch Claudia, die um viele Jahre Jüngere, war ver­blüht, aber ein zarter Ausdruck suchender Erwartung gab ihrem beseelten Antlitz immer noch einen Hauch von Jugendlichkeit. Der Prokurator hatte sich mit den Jahren mehr und mehr von ihr zurückgezogen, man nannte seinen Namen manchmal in Be­ziehung zu anderen Frauen, sie wußte es und ertrug es, wie sie einst den Tod ihres Kindes ertragen hatte, ich glaube aber nicht, daß er je aufhörte, sie zu lieben. Ja, ich hatte manchmal die selt­same Vorstellung, daß etwas scheinbar Trennendes sie in der Tiefe verband.

Manche Menschen wunderten sich, daß er seine Ehe mit Claudia nicht löste, da sie nach wie vor kinderlos geblieben war; manche wunderten sich sogar, daß nicht Claudia selbst auf die Scheidung und Wiedervermählung ihres Gemahls drang, um ihm noch das späte Glück der Nachkommenschaft zu gewähren. Aber soviel ich weiß, ist dieser Gedanke nie erwogen worden, ohne Zweifel eine überraschende Tatsache, selbst wenn man sich erinnert, daß die Ehe dieser beiden Menschen eine jener letzten war, die noch in der alten sakralen Form in Gegenwart des Pontifex maximus mit dem gemeinsamen Opfer vor dem Jupiter Capitolinus geschlossen worden war. Aber schon in der letzten Zeit des Tiberius waren selbst solche Ehen nicht mehr unauflösbar, und wer fühlte sich unter Caligula und Nero noch durch die al­ten Götter gebunden? Auch Claudia hatte sich mit fortschreiten­den Jahren mehr und mehr von diesen abgewandt, denen sie frü­her in kindlichem Vertrauen angehangen. Man hätte meinen kön­nen, sie sei von der Skepsis ihres Gemahls angesteckt, und doch war da ein weltweiter Unterschied: den Prokurator beschwerte seine Götterlosigkeit nicht im geringsten, während Claudia sich dadurch in eine tiefe Unruhe versetzt fand, wie sie zuweilen Menschen befällt, die ihre Jahre entgleiten sehen, ohne daß die eigentliche Erwartung ihres Lebens sich erfüllt hat.

Ich erinnere mich noch, wie ich sie einmal in ihrer Sänfte über das Forum begleitete. Es war ein strahlender Frühlingsmorgen, die Tempel und Paläste badeten sich förmlich im Licht, nie hatte die uralte Sonne etwas so Stolzes und Herrscherliches beschienen. Du weißt, edle Julia, daß ich sonst den römischen Bauten gegen­über etwas zurückhaltend bin - in meiner Heimat baute man schlichter und darum, wie mir scheinen will, edler -, aber an je­nem Morgen mußte ich bei dem Anblick dieser weißen Marmor­pracht unwillkürlich an den Schaum des Meeres denken: so wie die Göttin Aphrodite diesem, so schien mir die Göttin Roma je­nem entstiegen. Ich sagte das der Herrin, sie schüttelte abweisend den Kopf. Dabei war es mir, als lege sich ein eigentümlich un­durchsichtiger Schleier über ihre Augen - war die mir deutliche Veränderung Roms für sie nicht die einzige, die vorgegangen? Gab es in dieser Stadt noch eine unbekannte Zelle, aus der eine geheimnisvolle Witterung aufstieg, etwas Stilles, Mächtiges, das früher nicht gewesen war?

Damals begann sich meine Herrin jenen neuen Kulten zuzu­wenden, welche die fremden Kaufleute und Legionäre mit in die Weltstadt brachten. Wir suchten die Tempel der Kybele auf, ich mußte sie zu den Mysterien der ägyptischen Isis begleiten und zu denen der Syrischen Göttin, des Adonis und der großen Mut­ter. Aber obwohl sie sich jeder dieser Gottheiten anfangs mit großer Innigkeit hingab, war es doch bald immer wieder, als habe sie eine ganz andere zu finden gemeint und wende sich enttäuscht und aufs neue suchend ab. Schließlich verlangte sie zu der berühmten Sibylle von Tibur geführt zu werden, um den Namen jener Gottheit zu erfahren, den diese bekanntlich dem großen Augustus geweissagt hat - Du erinnerst Dich, edle Julia, sicher noch ihres vor Jahren überall im Volk umlaufenden Spru­ches: „Vom Himmel kommt der König der Jahrhunderte.“

Wir begaben uns also nach Tibur. Die Sibylle war ein uraltes Weib, das uns überhaupt nicht wahrzunehmen schien, als wir die berühmte Grotte betraten. Sie saß mit geschlossenen Augen vor ihrer Herdstatt, auf der das Feuer scheinbar erloschen war wie das Leben in dem Antlitz der Greisin. Es dunkelte in der Grotte, als sei sie der Eingang zu den Gefilden der Unterirdi­schen. Als ich die Sibylle ansprach, gab sie keine Antwort - wahr­scheinlich hörte sie mich nicht, denn das Brausen der nahen Was­serfälle erfüllte den Raum, als wolle die Natur die menschliche Stimme verschlingen. Dann aber berührte die Herrin stumm die Schulter der in sich Versunkenen, diese hob das schwere Haupt, die verkohlte Feuerstatt flammte jählings wieder auf, und nun war es, als erkennten sich zwei schwesterliche Wesen. Großäugig richtete sich die Uralte empor und' strich der Herrin mit der gei­sterhaften Hand bebend über Stirn und Augen.

„Ja, ich weiß, du hast ihn auch gesehen“, murmelte sie, „was willst du noch von mir - meine Zeit ist um.“ Dann aber plötzlich wurden ihre Augen wie von einem jäh einfallenden fremden Licht bleich: Es war, als werde ihr das eigene Gesicht genommen. Der Schaum trat ihr vor den Mund, wie ihr geschieht, wenn sie weissagt. Sie rief fast schmerzlich laut: „Geh in die Subura, in das ärmste Haus, das du findest - dort ist einer, der mehr weiß als ich -“ und dann nochmals, tief und wohlig aufseufzend, „mei­ne Zeit ist um - meine „Welt ist hin -“

Nun, Du kannst Dir denken, edle Julia, daß ich mich nicht leicht zu einem abendlichen Gang in die Subura bereit fand, diesem et­was verrufenen Stadtteil, wo die kleinen Leute ihre Einkäufe machen und in den hohen Mietskasernen die scheue Armut wie zuweilen auch das freche Laster haust. Allein die Herrin ließ sich die Subura nicht mehr ausreden, zumal sie durch eine unserer Sklavinnen von einem neuen Kult erfahren hatte, der zu abendlicher Stunde in einem Hause jenes düsteren Quartiers stattfin­den sollte.

Wir betraten einen ärmlichen Raum, der bei Tage irgendeinem kleinen Handwerker zur Werkstatt dienen mochte und jetzt eine Anzahl Menschen in sich versammelte. Die Sklavin, die uns her­gewiesen, hatte uns das Erkennungswort genannt, auf das hin man uns vertrauensvoll einließ, doch bewog ich die Herrin, sich im Hintergrund zu halten, denn der Charakter der kleinen Ver­sammlung schien mir etwas unheimlich. Es waren die Ärmsten der Armen, darunter viele Sklaven und auch unverkennbar ei­nige Dirnen; diese Art von Menschen aber bricht leicht gegen Höhergestellte aus, wenn sie sich in der Überzahl weiß. Nach einer Weile trat ein alter Mann in abgetragener Wanderkleidung ein und kniete vor einem schlichten Tisch nieder, den man in feier­licher Weise hergerichtet hatte: Es war ein Altar, jedoch konn­ten wir keinerlei Vorbereitungen zur Darbringung eines Opfer­tieres bemerken. Der alte Mann sprach ein Gebet, von dem wir aber, seines fremdartigen Akzentes wegen, nicht allzuviel ver­standen. Dann erhob er sich und forderte die Anwesenden auf, gemeinsam das Bekenntnis ihres Glaubens zu sprechen.

Und nun begab sich etwas völlig Unerwartetes. Die Anwesenden hatten sich auf das Geheiß des alten Mannes - offenbar des Priesters dieser Kultgemeinde - erhoben. Schüchtern, sichtlich ungeübt, im Chor zu sprechen, kamen sie der Aufforderung nach. Auch sie bedienten sich unserer Sprache mit vielfach barbarischem Tonfall, so daß wir zunächst wieder nichts Zusammenhängendes erfaßten. Plötzlich spürte ich, daß Claudia Procula neben mir heftig zu zittern begann - ein dumpfes Gefühl durchschauerte mich, als stelle dieser ärmliche, matt erleuchtete Raum mit seiner mur­melnden Versammlung die unheimliche Wiederholung eines mir längst entfallenen Vorgangs dar. Gleich darauf, wie atemlos aus der Vergessenheit emporgeschleudert, überstürzte mich die Er­innerung an jenen seltsamen Traum meiner Herrin damals zu Jerusalem. Und schon vernahm ich auch, mit plötzlich wunder­bar geschärftem Ohr, die Worte: „Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben -“

Erlasse mir, edle Julia, die Wirkung zu beschreiben, die diese Worte auf meine Herrin ausübten. Sie stand, wie damals auf dem Altan des Richthauses zu Jerusalem, als sei sie vom Blitz getroffen. Aber als ich sie umschlang und sanft versuchte, sie hin­auszuführen, riß sie sich heftig von mir los und drängte stür­misch nach vorne. Der Chor der Beter war jetzt verstummt, und der alte Wanderprediger begann zu reden: „Ich fahre fort, euch die Leidensgeschichte unseres Herrn zu verkünden, deren Höhe­punkt wir uns nähern. Das Verhör vor dem römischen Prokura­tor ist beendet. Ich folge nun dem Bericht unseres Mitbruders zu Jerusalem, der Augenzeuge war, und bezeuge vor euch das Ge­schehen mit dessen Worten: ... und Pilatus setzte sich auf den Richterstuhl an dem Platz, der Lithostratos heißt, auf hebräisch Gabbatha. Es war Rüsttag auf das Osterfest um die sechste Stunde...“

Du weißt, verehrungswürdige Julia, daß wir nun häufig, ja sehr bald regelmäßig an den Versammlungen der Nazarener teilnah­men - so nannten sich die Glieder jener kleinen Gemeinde in der Subura - und daß meine Herrin sich sehr bald und sehr innig ih­rer Botschaft öffnete, während ich mich bei der Verkündigung des Gekreuzigten nach den schönen, heiteren Göttern meiner griechischen Heimat sehnte. Ich versuchte auch, auf meine Her­rin einzuwirken, indem ich ihr zu bedenken gab: Der Verurteilte, wäre er wirklich einer von den Himmlischen gewesen, so hätte er sich aus der Schlinge seiner Feinde retten können. Sie erwi­derte leise, aber fest: „Doch, er war einer der Himmlischen, denn er hat seinen ungerechten Richter mit Erbarmen angeblickt.“ Ich konnte ihr dann nicht widersprechen, hatte sich doch auch mir dieser Blick des Erbarmens wie der Gruß aus einer ganz anderen Welt eingeprägt, und ich fühlte, daß es dieses ganz andere war, was die Herrin bisher vergeblich gesucht und nun endlich gefun­den hatte.

Und doch war dieses Finden für sie mit neuem tiefem Schmerz verbunden. Sie hatte sich eine eigene kultische Haltung ange­wöhnt, die diesen Schmerz zum Ausdruck brachte: Nie ver­mochte sie das Bekenntnis der Nazarener anzuhören, ohne bei dem Namen Pontius Pilatus das Haupt zu verhüllen, wie sie denn auch bei aller Hingabe an ihren neuen Glauben nicht um die Taufe, die eigentliche Aufnahme in die Gemeinde, zu bitten wagte. Sie fürchtete deren Abscheu zu erregen, wenn sie sich als Gattin des Pontius Pilatus zu erkennen gäbe, und ich wagte nicht, ihr diese, wie mir schien, berechtigte Furcht zu nehmen. So wohnten wir denn beide als Namenlose diesen Versammlungen bei, was aber niemand zu beunruhigen schien. Der Gruß „Maran atha, der Herr kommt“ genügte dieser freundlichen und arg­losen Gemeinde, uns in ihrer Mitte zu dulden.

Immerhin fiel auch diesen schlichten Menschen die Zurückhaltung und Trauer meiner Herrin auf. Sooft der junge Gehilfe des alten Wanderpredigers, der nach dessen Fortgang die Gemeinde leitete, die Neuhinzugekommenen zur Vorbereitung; auf die Taufe ein­lud, blickte er erwartungsvoll zu meiner Herrin hinüber, aber schon hatte sie ihr Haupt mit schmerzlicher Gebärde verschleiert. Manchmal schlössen sich uns auf dem Heimweg einige Teilneh­mer der Versammlung an - zutraulich schütteten sie uns ihre Herzen aus, in denen zu unserm Staunen nicht nur eine jenseitige, sondern auch eine große diesseitige Erwartung brannte.

Da war eine alte Syrierin mit einst schönen, aber nun völlig ver­wüsteten Zügen. Sie wollte wissen, daß der Sturz der ungläu­bigen Welt schon in allernächster Zeit stattfinden werde. Dann würden die grausamen Zirkusspiele ihr Ende finden, die wilden Tiere aus den Zwingern sich zu den Füßen der Menschen schmie­gen, die Gladiatoren ihre Schwerter fortwerfen. Die Reichen würden ihre Güter verteilen, die Herren ihre Sklaven entlassen, und über dem Palatin der grausamen Cäsaren würde die Taube des Heiligen Geistes erscheinen. „Maran atha, Maran atha, un­ser Herr kommt!“ rief sie. „Glaubt es doch alle, freut euch doch alle!“ Dann zu der still neben ihr gehenden Herrin: „Und du, arme traurige Schwester, du wirst dann so glücklich sein wie eine junge strahlende Braut! Maran atha, unser Herr kommt!“

Allein der Herr kam nicht, sondern es kam die blutige Verfol­gung. Du weißt, edle Julia, um jenen unseligen Brand, der da­mals einige Quartiere der ärmeren Bevölkerung Roms in Schutt und Asche legte und für den man dann Unschuldige verantwort­lich machte, um das erbitterte Volk zu beruhigen. Als wir eines Abends wieder das alte düstere Mietshaus in der Subura betreten wollten, wurden wir zum erstenmal vor der Türe angehalten;: und nach unserem Namen gefragt. Die Herrin zögerte auch jetzt, ihn zu nennen. Aber nun zeigte sich, daß plötzlich eine ganz andere Stimmung in der Gemeinde herrschte als bisher. Im Umsehen waren wir von angsterfüllten Menschen umringt und miß­trauisch angestarrt.

„Wie heißt du? Warum sagst du uns nicht, wer du bist?“ hieß es von allen Seiten. Und dann, wie in wühlender Angst: „Du be­mühst dich nicht um die Vorbereitung zur Taufe - was suchst du eigentlich bei uns?“ Nun drängte sich die alte Syrierin durch: „Gebt doch Ruhe, gebt doch Ruhe, liebe Freunde“, rief sie be­schwörend, „der Herr wird kommen und uns schützen - sorgt euch doch nicht, alle Haare auf unserm Haupt sind gezählt - der das gesagt hat, wird uns nicht verlassen - Maran atha, unser Herr kommt!“

Doch schon fuhr eine rohe Männerstimme sie an: „Sei still, alte Hexe, der Herr kommt noch lange nicht, aber Gefahr kommt!“ Dann zu Claudia gewandt: „Keinen Schritt weiter, bevor wir wissen, wer du bist und was du hier zu suchen hast!“ Der Sprecher, ein hünenhafter äthiopischer Sklave, stellte sich breitbeinig vor die Herrin hin und versperrte uns den Eingang des Hauses. Die Herrin war totenblaß geworden, aber sie schwieg - die vor­nehme Römerin ließ sich nicht erpressen.

Inzwischen wurde der Tumult immer größer. Der Äthiopier hatte die Herrin an den Schultern gepackt und schüttelte sie: „Dei­nen Namen will ich wissen, deinen Namen - du hochmütige Kreatur!“

In diesem Augenblick größter Bedrängnis erschien der junge Ge­hilfe des Apostels. „Was geht hier vor?“ rief er gebieterisch.
Der Äthiopier entgegnete trotzig: „Hier geht das vor, was du geboten hast. Wir haben eine Unbekannte nach ihrem Namen ge­fragt, aber sie will ihn nicht nennen!“ Der Gehilfe, ein ernster, noch junger Römer, gebot der Menge Ruhe. Dann zu dem Äthio­pier gewandt: „Laß die Frau los!“ und zu dieser: „Wie heißt du? Sage deinen Namen!“
Sie erwiderte: „Ich will ihn gerne nennen, aber nur dir allein.“

Er ließ uns schweigend in einen kleinen Nebenraum eintreten. „Vergib den Tumult“, sagte er freundlich, „es laufen Gerüchte in der Stadt um, die sich hoffentlich nicht bestätigen, aber diese Menschen fühlen sich bedroht - ihre Schwachheit ist groß, und du hast nie um die Taufe gebeten. Wir haben dich bisher nicht gefragt warum, aber heute wird es unerläßlich - wir fürchten, daß man uns bespitzelt.“

„Herr, ich hätte gern um die Taufe gebeten“, sagte sie einfach, „aber ich wagte ineinen Namen nicht zu nennen, denn ich fürch­tete, er würde euch erschrecken - ich bin Claudia Procula - die Gattin des Pontius Pilatus.“

Bei dem Namen des Prokurators zuckte der Gehilfe überrascht auf, gleich danach erschien in seinem Antlitz etwas wie Freude. „Dein Name erschreckt uns nicht, Claudia Procula“, erwiderte er, „der Jünger des Herrn, den du predigen hörtest, hat uns ver­sichert, daß du deinen Gemahl vor einem ungerechten Urteil warntest - du hast keinen Teil an seiner Schuld und darfst un­verhüllt das Haupt erheben, wenn wir das Bekenntnis sprechen –“

Sie erwiderte: „Herr, laß mich mein Haupt weiterhin verhüllen, es ist hart für mich, dieses Bekenntnis zu hören, denn ich bin meinem Gemahl zutiefst verbunden. Kann ich denn nicht Buße für ihn tun, damit sein Name aus dem Bekenntnis getilgt wer­de?“

Der junge Römer sah sie ernsten Blickes an. „Nein, Claudia Pro­cula“, sagte er gemessen, „das kannst du nicht. Wann immer die­ses Bekenntnis gesprochen wird, wird auch der Name Pontius Pilatus genannt werden. Mit diesem Namen stand dein Gatte einst zu Jerusalem für das Römische Imperium, und darum steht er nun für alle Zeit, um Ort und Stunde des Geschehens zu be­zeugen.“

In ihrem Antlitz erschien jetzt wieder einmal der Ausdruck schmerzlicher Beseelung. „Und doch“, sagte sie innig, „hat unser Herr auch ihn gemeint, als er betete: ,Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.'“
„Allein dein Gatte wußte, was er tat - du hast es ihm doch selbst gesagt“, erwiderte der Gehilfe nicht ohne Strenge.
„Aber er hat mich nicht verstanden“, flehte sie, „er hat das Er­barmen Gottes in dem Angeklagten nicht erkannt - wie sollte er es auch erkennen -, es gibt ja kein Erbarmen in seiner Welt!“
„Immerhin wußte er, daß er einen Unschuldigen dem Tode über­antwortete“, beharrte der Gehilfe. „Arme Frau, ich kann dir keinen tröstlichen Bescheid geben: Dein Gatte ist verurteilt, da er den Herrn verurteilte - und du bist nicht rechtgläubig, wenn du die Gerechtigkeit Gottes bestreitest. Laß dich im Glauben un­terweisen, und du wirst sie verstehen.“

Sie war eine Weile still, dabei nahm ihr sanftes Antlitz langsam einen unbeugsamen Ausdruck an. Endlich sagt sie leise und feier­lich: „Lebt wohl, ich habe hier nicht die Gerechtigkeit Gottes, ich habe das Erbarmen Christi gesucht - das, was nicht von die­ser Welt ist - das ganz andere - aber ihr erkennt es ebensowe­nig, wie mein Gatte es erkannte - nicht er allein, auch ihr habt den Tod des Herrn verschuldet - und in diesem Augenblick ver­schuldet ihr ihn wieder, denn ihr gebt sein göttliches Erbarmen preis!“

Der junge Gehilfe schien einen Augenblick betroffen. Gleich dar­auf prägte sich eine erschreckende Richterlichkeit in seinem Ge­sicht aus. „Was weißt du, Frau, von der Gerechtigkeit Gottes? Willst du uns etwa belehren, obgleich du nicht einmal getauft bist und nie getauft werden kannst, wenn du auf deinem Irrtum beharrst? Geh jetzt und denke über meine Worte nach.“ Er öff­nete abermals eine Seitentür und ließ uns, von der Menge un­bemerkt, hinaustreten.

Die Nacht war sehr dunkel, der Mond von unruhigem Gewölk überhastet, durch die finsteren Straßen irrte von Zeit zu Zeit der Schein einer Fackel, die der Vorreiter einer nächtlichen Ka­valkade vorantrug. Sie warf ihr flackerndes Licht auf die düste­ren Häuser der Subura, diese uralten, längst zum Abbruch rei­fen, in denen sich die Menschen zusammendrängten, nach den Gewohnheiten der Jahrhunderte lebend, sündigend und endlich sterbend, um anderen Platz zu machen, die wieder nach densel­ben dumpfen eintönigen Gewohnheiten lebten, sündigten und starben. Ab und zu vernahm man aus einem fernen Amphi­theater das Brüllen der wilden Tiere oder aus einer Kaserne die Signale der Prätorianer. Dirnen huschten mit frechem Gelächter an uns vorüber.

Die Herrin ging überaus schnell - es war, als könne sie nicht ei­lend genug die Subura verlassen. Ich wußte, daß sie trostlos war, aber ich wagte sie mit keinem Wort zu trösten - ich fühlte ihre Enttäuschung, als sei sie meine eigene. So erreichten wir die Re­gion der Kaiserfora. Der Mond war jetzt aus dem Gewölk her­vorgetreten - marmorweiß stieg der Palatin vor unseren Augen auf.

An der Straße, die wir gingen, reihte sich Tempel an Tempel - die Hochburgen der alten Götter. Einmal überholte uns die Abteilung einer marschierenden Legion: Der Gleichschritt ihrer Füße erschütterte die Nacht wie der eherne Rhythmus Roms. -Wir gingen jetzt an der hohen Tempelmauer des Mars Ultor ent­lang. Plötzlich blieb die Herrin stehen, ihre Hand tastete an der kalten Wand empor.

„Mars Ultor“, sagte sie leise, „Mars, der Rächer! Oh, wie fest steht sein Haus - und ich war töricht genug zu glauben, daß es fallen werde! Aber es wird niemals fallen - auch die Nazarener werden es nicht stürzen - Cäsar wird immer wieder über Chri­stus siegen, wie er einst in Jerusalem über Christus gesiegt hat. Immer wieder wird man auf dem Kapitol die gefangenen Bar­barenfürsten töten und den Göttern die blutigen Opfer unschul­diger Tiere darbringen - immer wieder werden unsere Legionen friedliche Völker niederwerfen - immer wieder wird es heißen: Wehe den Besiegten! Immer wieder wird man rufen: Auge um Auge, Zahn um Zahn! Und wenn Christus heute wiederkäme, wie die Syrierin es erwartete, auch dann würde sich nichts än­dern - man würde ihn abermals ans Kreuz schlagen, und alles würde bleiben, wie es ist - nicht das ganz andere, sondern immer das Gleiche kommt und wird auf dieser Welt ewig kommen. Und wenn die Nazarener wirklich diese Stadt gewönnen und jeder Tempel der alten Götter Christus geweiht würde - diese Stadt bliebe dennoch, was sie ist, nicht die Stadt Christi, sondern die Stadt des Cäsar -“

„Aber vielleicht“, wagte ich einzuwenden, „würde Christus diese Stadt so anblicken, wie er einst seinen Richter anblickte -“

Sie gab keine Antwort - ich wußte nicht, ob sie mich nicht gehört hatte oder ob sie mich nicht hören wollte.

Von nun an gingen wir nicht mehr in die Versammlung der Nazarener, und obgleich ich sah, wie schwer die Herrin unter diesem Bruch litt, war ich dennoch froh darüber, denn jene in Rom umlaufenden Beschuldigungen gegen die kleine Gemeinde zogen immer weitere Kreise. Auch der Prokurator fand sich da­mals zum erstenmal gezwungen, von dieser Gemeinde Kenntnis zu nehmen. Er war seit kurzem leidend infolge einer Verletzung der Schulter, die er sich durch einen Sturz bei einem jener Wa­genrennen zugezogen hatte, denen der Gealterte schon längst nicht mehr gewachsen war. Aber Du weißt ja, edle Julia, es ge­hörte zu den vielen boshaften Vergnügungen des jungen Kaisers Nero, sogar die weißhaarigen Senatoren in die Arena zu zwin­gen und sich über ihre Ungelenkigkeit zu belustigen. Der Pro­kurator war über seine Niederlage um so unglücklicher, als er bereits fürchtete, auf dem Palatin in Ungnade gefallen zu sein - man hat sich dort seiner schon seit geraumer Zeit mit keinem Auftrag mehr bedient.

Der Arzt kam damals täglich zu ihm, um ihn zu verbinden, wo­bei der von Haus zu Haus Eilende ihn stets mit einer Menge Neuigkeiten versorgte, die ihn von seinem Zustand ablenken sollten. So erfuhr er denn auch eines Tages, daß man eine ge­wisse Sekte, die sich „Nazarener“ nannte, für den Brand von Rom verantwortlich machte.

„Ich halte sie natürlich für gänzlich harmlos“, sagte der Arzt. „Stelle dir vor, Pontius Pilatus, sie glauben an einen gewissen Jesus von Näzareth, den sie nach dem Vorbild unserer Kaiser­kulte vergöttlicht haben. Dabei handelt es sich um einen jungen Schwärmer, der vor etwa dreißig Jahren zu Jerusalem gekreu­zigt wurde, weil er sich für den Messias der Juden ausgab. Du solltest eigentlich Näheres über ihn wissen, denn das muß doch damals gewesen sein, als du in Judäa Prokurator warst -“

Der Prokurator zuckte gelangweilt die Achseln - die Zeit, da ihn die Erinnerung an Judäa noch aufregte, war vorüber. Sein vornehmes Römergesicht bewegte sich mit keinem Muskel - nur das kleine Fettpolster unter seinem Kinn, über das er so unglücklich war, hob und senkte sich ein wenig infolge seiner Kurzat­migkeit.

„Ich erinnere mich wirklich nicht mehr, mein Freund“, erwiderte er zerstreut, „diese jüdischen Angelegenheiten waren stets sehr unerfreulich, ich pflege ihnen nicht mehr nachzuhängen.“

„Schade“ - der redselige Arzt, der wohl gehofft hatte, durch den Prokurator Näheres über den Ursprung der Nazarener zu er­fahren, wandte sich an Claudia. „Erinnert sich die Herrin auch nicht mehr?“ Sie und ich hatten uns wie gewöhnlich gerichtet, dem Arzt beim Verbinden der Wunde behilflich zu sein - der Prokurator legte großen Wert auf Claudias Gegenwart, wie er denn überhaupt, seit er leidend war, ihre Nähe wie eine stille Wohltat zu fühlen schien.

Bei der Anrede des Arztes fiel ihr plötzlich das Instrument aus der Hand. Ich hob es auf und wollte es ihr reichen, aber sie be­merkte es nicht, sie war fassungslos.

„O ja“, stammelte sie, „o ja, ich erinnere mich, das war damals, als mir träumte -“ Sie stockte. Auch ich hielt den Atem an: Das nie zu seinem Recht gekommene und nun längst zur Ruhe geschwiegene Gespräch stand plötzlich unabwendbar nah im Raum. Aber sonderbarerweise bemerkte der Prokurator es nicht - oder muß ich sagen: nicht mehr? War es tatsächlich zu spät geworden für sein Erinnern?

„Was war denn das für ein Traum?“ fragte er arglos.
„Es war ein Warntraum“, stammelte sie.
„Und ich habe mich natürlich von dir warnen lassen?“ sagte er gut gelaunt -
„Nein, du hast das Urteil doch gesprochen -“ Sie brach ab. Offen­bar fühlte sie sich durch die Anwesenheit des Arztes gehemmt. Aber nun mischte sich dieser wieder ein:

„Galt der Warntraum der Herrin nicht vielleicht jenem Gekreu­zigten?“ fragte er. „Dann wärest du es tatsächlich gewesen, der ihn verurteilt hat, Pontius Pilatus. Ich dachte es mir gleich - die Zeitbestimmung weist zu deutlich darauf hin - erinnerst du dich denn noch immer nicht -?“

Der Prokurator sah zerstreut auf seine Hände nieder - vom Ver­binden seiner Schulterwunde waren einige Tropfen Blut darauf gefallen. Ich reichte ihm eine Schale mit wohlriechendem Wasser, und er tauchte die Hände hinein. Plötzlich zuckte er zusammen: „Ach ja, ich erinnere mich dunkel“, sagte er, „die Juden brachten mir da einmal einen, der sich für ihren Messias hielt - und beim Jupiter Capitolinus, dieser Mensch hatte einen sonderbaren Blick! So hat mich weder vor- noch nachher jemand angesehen –“ Er stockte plötzlich, dem Blick seiner Gattin ausweichend. Es trat ein kurzes, völlig undurchsichtiges Schweigen ein - dann lief das Gespräch scheinbar ungebrochen weiter.

„Also diese Nazarener will man für die römische Brandkata­strophe verantwortlich machen?“ wandte sich der Prokurator wieder an den Arzt. „Welch abwegige Idee! Aber irgend etwas muß natürlich zur Beruhigung des Volkes unternommen wer­den.“
„Ja natürlich“, stimmte der Arzt zu, „man hat ja auch bereits einige dieser Nazarener gerichtet. Sie sollen sehr standhaft ge­storben sein, bis zuletzt ihren Glauben bekennend und sogar ih­ren Henkern verzeihend. Aber was ist mit der Herrin?“ unter­brach er sich aufspringend. „Kann ich dir behilflich sein, Claudia Procula?“

Sie gab keine Antwort, sondern eilte schwankenden Schrittes hin­aus. Ich folgte ihr. Draußen warf sie sich schluchzend in meine Arme.

„Und ich habe diese Menschen verurteilt, genauso wie sie mei­nen Gemahl verurteilt haben - und wie mein Gemahl einst den Herrn verurteilt hat! Genauso! Aber Christus hat sein Zeichen über ihnen aufgerichtet - er hat sie zu seinen Blutzeugen ange­nommen! Ja wahrhaftig, Christus wird immer und überall be­siegt, auch in mir ist er besiegt worden - sie hatten recht, mir die Taufe zu verweigern, o sie hatten recht!“

Indessen warf der Prokurator voll Ungeduld die metallene Ku­gel in das Schallbecken. Ich ging zu ihm hinein, um ihn über den Schwächeanfall seiner Gemahlin zu beruhigen. Nun, er war an deren empfindsame Regungen gewöhnt und schien dem Ausgang des Gesprächs nicht weiter nachzuhängen.

Allein er wurde schon nach wenigen Tagen wieder daran gemahnt. Es traf ein kaiser­licher Befehl ein, welcher ihn unter dem Vorwand, die Ursachen der römischen Brandkatastrophe aufzudecken, mit der Durch­führung des Schlages gegen die Nazarener betraute. Ich glaubte, Claudia werde entsetzt sein, aber das Gegenteil war der Fall.

„Gott ist sehr gnädig - Gott ist sehr gnädig“, sagte sie bewegt, als sie von dem kaiserlichen Auftrag erfuhr, „er stellt meinen Gemahl noch einmal vor die einst verfehlte Entscheidung.“ Sie sandte mich dann zu ihm und ließ ihn in ihr Gemach bitten. Ich fand ihn in bester Verfassung: Der Arzt hatte ihm am Tag zu­vor den Verband abgenommen, er fühlte sich hergestellt und durch den Auftrag des Kaisers der Furcht enthoben, in Ungnade gefallen zu sein. Der Sklave, welchen er einst in der Magie hatte unterweisen lassen, war bei ihm. Nach seinem Sturz beim Wagenrennen hatte ihn der Prokurator aus seiner Umgebung ver­bannt. Ich war überrascht, ihn wieder vorzufinden, diesen dunk­len Menschen, dessen schlaues Gesicht in seiner Hintergründig­keit mir heute merkwürdig unheimlich erschien.

Der Prokurator hörte mich, wie immer, höflich an. Dann aber erwiderte er, seine Gattin möge ihn, statt in ihrem Gemach, im Atrium erwarten. Mir war sofort klar, daß ihn der entgegen­gesetzte Wunsch leitete wie sie. Claudia ging es um ein Allein­sein mit ihm, während er seit dem Gespräch in Gegenwart des Arztes ein solches vermied.

Ich kehrte dann zu meiner Herrin zurück, und wir gingen ge­meinsam ins Atrium hinüber. Die Morgensonne fiel in den offe­nen Raum, der Säulenumgang lag im Schatten, ebenso das Tem­pelchen mit den uralten Hausgöttern, aber die Marmorbank zur Seite der Brunnenschale, wo sich die Herrin niederließ, lag in warmem Glanz. In diese Stille klang gedämpft, aber stärker als an anderen Tagen, das Getümmel des Volkes von entfernten Straßen her.

Es dauerte ziemlich lange, bis der Prokurator erschien. Die Sänf­te, die ihn zum Palatin bringen sollte, wurde jeden Augenblick erwartet. Der Sklave, welcher zu seiner Bedienung bestimmt war, stand bereits mit dem Gepäck unter den Säulen, nicht ohne Möglichkeit, zu unserem Gespräch herüberzulauschen. Auch an­dere Bedienstete huschten dort alle Augenblicke geschäftig vor­bei. Aber der Prokurator hatte mit dieser halben Öffentlichkeit gerechnet, hielt er doch sogar mich fest, als ich mich entfernen wollte. Allein er fand sich enttäuscht: Für Claudia fiel dies alles nicht ins Gewicht, sie bemerkte es nicht einmal, sie war viel zu tief erfüllt von der Bedeutung dieser Stunde, auf die sie jahre­lang gehofft und gewartet hatte. Diese zarte, grenzenlos ver­schwiegene Frau - jetzt kam ihr überhaupt nicht zum Bewußt­sein, daß sie mit ihrem Gatten nicht allein war.

Ruhig nahm sie seine Abschiedsworte entgegen, dann aber ging sie gerade auf ihr Ziel los. Sehr leise, aber sehr fest sagte sie: „Ich bitte dich inständig, mein Gemahl, gib dem Kaiser seinen Auf­trag zurück. Habe nichts zu schaffen mit der Verfolgung dieser Nazarener, laß dich nicht noch einmal auf die Verurteilung der Unschuld ein.“ In einem einzigen Augenblick war nun die ganze Lage klar in ihrer erschütternden Wiederholung. Der Prokurator schien von Claudias sonderbarem Ansuchen nicht überrascht.

„Ich habe wahrhaftig nichts gegen diese kleinen Sekten“, sagte er ruhig, „was gehen mich die Nazarener an? Für den Römer handelt es sich immer nur um Rom, und Rom, das ist der kaiser­liche Wille. Der Palatin hat mich darin unterrichtet, daß diese Leute Brandstifter sind. Auch sollen sie dem Kaiser das schuldige Opfer versagen, mithin sind sie als Empörer zu betrachten.“

„Sie sind sowenig Empörer, wie jener es war, nach dem sie ihren Namen tragen“, erwiderte sie immer mit der gleichen sanften Unbeirrbarkeit.

Er begriff sofort, wen sie meinte. „Immerhin“, sagte er, „lag auf jenem der Verdacht, er wolle sich zum König machen. Er hat es mir ja selber zugestanden.“
„Aber sein Königreich ist nicht von dieser „Welt“, entgegnete sie. „Auch das hat er damals gesagt, aber was sollte ich mir dabei denken? Ein Reich, das nicht von dieser „Welt ist, wer kennt ein solches Reich?“
„Wer aus der Wahrheit ist.“ Sprach dies Claudias Stimme? - Wie sonderbar war diese fast wörtliche Wiederholung!
Der Prokurator zuckte die Achseln. „Was ist Wahrheit? Unsere Philosophen wären glücklich, wenn sie es uns sagen könnten. Weißt du vielleicht mehr als sie?“
„Ich weiß, daß du nicht wußtest, wer der war, dem du das Urteil sprachst“ - ihre Stimme war jetzt von höchster Innigkeit -, „ja, er war und ist ein König: der König der Jahrhunderte, den die Sibylle von Tibur dem Augustus geweissagt hat.“

Nun war es, als befiele ihn jählings ein Grauen - der letzte Damm brach: das Nievergessene, Unvergeßliche, stürzte mit Gewalt aus der Tiefe hervor.

„Wie kannst du sagen“, rief er, „daß ich ihn verurteilt habe? Die Juden zwangen mich, ihn auf­zugeben - ich habe seine Unschuld bis zuletzt verteidigt - nichts ließ ich unversucht, um ihn zu retten. Habe ich nicht um seinet­willen mit diesem elenden Fuchs von Herodes Freundschaft ge­schlossen in der Hoffnung, daß er als sein Landesfürst ihn zu befreien wisse? Habe ich nicht versucht, den jüdischen Hyänen mit der Geißelung ihres Opfers Genüge zu tun? Habe ich nicht den Mörder Barabbas zur Wahl gestellt, um sie zu zwingen, die­sen Jesus freizubitten? Bis zuletzt habe ich bekundet, daß ich ihn für schuldlos hielt, die Hände habe ich mir vor aller Welt ge­waschen, daß dieses Blut nicht über mich komme! Geh doch zu den Juden, die haben es auf sich genommen - was willst du ei­gentlich von mir? Was wirfst du mir vor? Was hast du mir all diese Jahre vorgeworfen, wenn du mich mit deinem unerträg­lichen Blick ansahst, mit diesem Blick, der unser Glück zerstörte?“ Er ballte die Hände, war es Zorn? War es Angst? „Was willst du mit diesem Blick sagen?“

Sie trat einen Schritt auf ihn zu und breitete die Arme aus. „Daß ich Erbarmen mit dir habe, mein Geliebter“, sagte sie, nichts wei­ter. Sie legte beide Arme um ihn und zog seinen Kopf an ihre Brust. Ich konnte weder ihr noch sein Gesicht erkennen, ich ver­nahm nur den Urlaut der Liebe, zu jenem Erbarmen geläutert, das einst vor dem Richthaus zu Jerusalem die ganze Welt zu verschlingen schien. Nichts blieb übrig als das unzerstörbar Unzerstörte zwischen diesen beiden Menschen: Schuld und Liebe hatten einander gefunden.

Eine Weile sprach niemand. „Meine Claudia, meine Claudia“, seine Stimme war kaum wahrzunehmen. Dann, wieder nach einer Weile, deutlicher: „Was weißt du von denen, für die du mich bittest?“

Hatte ihr Erbarmen gesiegt? Aber nun erhob sich von der Straße her ein wüster Lärm, der schon seit geraumer Zeit immer näher gekommen war. Man vernahm den Ruf: „Vor die Löwen mit den Nazarenern! Vor die Löwen! Wer die Verbrecher verschont, ist nicht des Kaisers Freund!“

Der Prokurator fuhr wie aus einem Traum empor - sein Gesicht wurde finster. Indem meldete der Sklave, der schon eine ganze Weile unbeach­tet näher getreten war, daß die Sänfte bereitstehe.

Und nun, edle Julia, muß ich Dir noch einmal mit tiefem Schmerz mein eigenes Versagen bekennen, das ich Dir schon in meinem ersten Brief gestand. Es wird mir immer unbegreiflich bleiben; denn war es nicht das Folgerichtigste von der Welt, daß Claudia, nachdem sie sich innerlich zu ihren Glaubensgenossen zurückge­funden hatte, sich auch ihrer Gemeinschaft wieder anschließen würde? Mehr noch, sie mußte jetzt den Wunsch empfinden, in die Subura zu eilen, um die Gefährdeten zu warnen, vielleicht dachte sie sogar, ihnen als die Gemahlin des Prokurators mit ihrer Person einen Schutz gewähren zu können. Ja gewiß, dies alles lag nur zu nahe. Und doch entgingen mir ihre Vorberei­tungen, die sie in großer Heimlichkeit traf, denn sie wollte mich natürlich nicht in eine immerhin mögliche Katastrophe hinein­ziehen noch auch durch mich an ihrem Plan gehindert werden.

Sie hatte sich nach der erschütternden Unterredung mit ihrem Gemahl in ihr Schlafgemach zurückgezogen und mir ausdrück­lich ge­boten, sie allein zu lassen. In meiner unbegreiflichen Ahnungslosigkeit bemerkte ich ihr Verschwinden erst abends, als ich sie zur Nacht auskleiden wollte. Ich fand sie nicht im Gemach, und doch war dieses eigentümlich tief erfüllt von ihrer Wesen­heit - ganz unvermutet mußte ich an jenen Morgen denken, als sie nach der Liebesnacht ihrer jungen Ehe so glückselig erwacht war. Heute dunkelte der Abend: Die kleine Erosstatue, die ihr Gatte ihr einst geschenkt hatte, stand verloren im Raum.

Ver­wirrt, als sei hier ein geliebter Mensch für immer gegangen, blieb ich auf der Schwelle stehen: War nicht der holde Liebesgott mei­ner Heimat auch der Todesgott, dem der große Praxiteles die gesenkte Fackel in die Hand gab? Und schon fielen meine Augen auf den kleinen dreibeinigen Bronzetisch neben der verlassenen Lagerstätte. Das Wachstäfelchen, das Claudia zum täglichen Auf­zeichnen ihrer für den Haushalt bestimmten Notizen diente, lag darauf. Ich las die Zeilen: „Ich gehe, meinen Gemahl vor einer zweiten Schuld zu bewahren“, las ich. „Tröste dich, meine Praxedis, sollte ich nicht wiederkommen.“ Entsetzt ließ ich das Täfei­chen fallen: Von wo glaubte sie nicht wiederzukommen? Es konn­te nur die Subura sein. Ohne Säumen eilte ich dorthin, allein ich kam bereits zu spät.

Rom lag dunkel wie einst Jerusalem zur Stunde der Kreuzigung. In der Subura war das grelle Lachen der Dirnen verstummt, kein Mensch begegnete mir. Irgendein tödlicher Schrecken lastete auf den Straßen der ganzen Region. Das Haus der Nazarener lag grabesstill in der Tiefe der Nacht. Die Tür war zertrümmert, im Innern gähnte die Verlassenheit. Bebend tastete ich mich zu dem Versammlungsraum durch, auch seine Tür stand offen: Schwarze einsame Nacht starrte mir entgegen, nur aus einem Winkel des Raumes klang verzweifeltes Schluchzen. Ich tastete mich zu ihm durch - am Boden lag eine dunkle Gestalt, es war die Syrierin. Zitternd berührte ich ihre Schulter - sie erkannte mich im Dun­keln an der Stimme.

„Es ist aus“, stammelte sie, „es ist aus! Der Herr ist nicht ge­kommen, sondern die Legionäre kamen - es ist aus - es ist für immer aus!“ So jammerte sie fort. Erst nach und nach gelang es mir, das Geschehene zu erfragen.

Claudia war, wie ich vermutet hatte, in der Versammlung er­schienen. Die Syrierin hatte sich, getreu ihrer kindlichen Zuver­sicht auf die Wiederkunft des Herrn in höchster Not der Seinen, versteckt, um dem Erwarteten die erste Ehre zu erweisen. So war sie selbst der Verhaftung entgangen. Von ihrem Versteck aus hatte sie beobachtet, wie sich Claudia den inzwischen eingetroffenen Legionären entgegengestellt und sie als Gattin des Pontius Pilatus aufgefordert hatte, die Gefangenen freizugeben. Sie war verhöhnt und verlacht und endlich mit den ändern hinwegge­führt worden - wohin? Ins Gefängnis? In den Tod? Darauf konnte mir die Syrierin keine Antwort geben.

Ich eilte nach Hause, ich sandte Boten an den Prokurator, die ihm die Gefangennahme der Herrin melden und ihn beschwö­ren sollten, sie zu retten. Aber der Prokurator war unauffind­bar. Inzwischen irrten düstere Gerüchte durch die Stadt: Die Herrin, hieß es, sei durch einen Sklaven ihres Gatten als Nazarenerin verraten worden. Aber auch der Prokurator sollte beim Kaiser in Ungnade gefallen sein. Ich war in Verzweiflung. Schließlich sandte ich den jungen Lieblingssklaven meiner Herrin aus - er kam überhaupt nicht wieder. So vergingen qualvolle Tage.

Endlich wurde mir von einem unbekannten Nazarener ein Brief gebracht - er war von Claudias Hand. Ich erbrach ihn und las: „Geschrieben im Kerker, wenige Stunden vor Empfang der Bluttaufe. Gruß und Segen und Trost meiner geliebten Praxedis! Es war, wie Gott wollte, und wird sein, wie Gott will: Dem Er­barmen Christi kann niemand entrinnen. Gott hat mich wieder­um im Traum heimgesucht wie einst zu Jerusalem. Ich ging noch einmal durch die Tempel und Bethäuser der Jahrhunderte - sie waren nun alt und grau geworden, so wie ein absterbendes Ge­schlecht alt und grau wird. In mir war eine abgründige Traurig­keit, nicht weil ich wußte, daß man mich zum Tode verurteilt hatte, sondern weil ich meinte, umsonst sterben zu müssen. Denn war nicht mein ganzes Leben und Lieben ein einziges immer wie­derholtes Scheitern gewesen? Alle diese Gotteshäuser schienen mir auf trügerischem Glaubensgrund aufgebaut - denn das Er­barmen Christi konnte ja auf Erden niemals siegen - es konnte, wie die Welt nun einmal war, nur an ihr zerbrechen. Ich lief von einem Tempel in den anderen, um das Freie zu gewinnen - sie nahmen kein Ende, aber ihre Bauart wurde immer öder und inhaltloser, so als hätte man nur noch überholte Formen zu bil­den gewußt, in denen die Seele nicht mehr weilte.

Aber plötzlich verwandelte sich dieses Bild: Ich gelangte in ei­nen Raum, der noch fremdartiger schien als die bisherigen - die Wände waren aus mir unbekannter Materie, der Raum weit auf­gebrochen, feierlich kahl mit durchscheinendem Licht - auf dem Altar nichts als das Kreuz, das Zeichen des Todes! Eine dichte angsterfüllte Menge drängte sidi in diesem Raum, ein Chor sang das Bekenntnis: Wiederum erklang der geliebte Name meines Gemahls, aber jetzt war es nicht mehr, als erhöbe sich eine drohende Anklage, sondern als klammerten sich die Stimmen wie an einen letzten Trost an den Satz: Crucifixus etiam pro nobis sub Pontio Pilato. Gleichzeitig vernahm ich ein fernes Dröhnen, als gingen unerhörte Gewitter im Lande nieder, welche schnell nä­her kamen - die Mauern des Tempels, in dem ich mich befand, wankten. Noch einmal setzte der Chor mit bebenden Stimmen ein: Crucifixus etiam pro nobis - - - den Namen meines Gemahls verschlang das Dröhnen eines kosmischen Chorals - war dies das Ende der Zeiten?

Mein Fuß stockte wie vor unbetretbarem Land. Ich fühlte, wie die Jahrhunderte abrissen gleich einer mürbe ge­wordenen Kette - die letzte Tempelmauer stürzte und gab den Blick in die Ewigkeit frei - ich sah in den Wolken kommend den­selben Stuhl, der einst vor dem Richthaus zu Jerusalem gestan­den hatte, aber darauf saß nicht mehr mein Gemahl, sondern jener, den er einst verurteilt hatte, und vor ihm, dort, wo da­mals der Verurteilte gestanden hatte, da stand nun mein Gemahl, der Verurteilung wartend. Der auf dem Stuhl aber sah ihn mit demselben Blick des Erbarmens an, wie er ihn einst zu Jerusa­lem angesehen hatte. Gleichzeitig vernahm ich eine Stimme: Sei getrost, Claudia Procula, ich bin der ganz andere, den du immer suchtest - ich bin, der da siegte, als er unterlag, ich bin Ursprung und Verlassenheit und Triumph der Ewigen Liebe - darum fürch­te dich nicht: Du wirst denselben Tod sterben wie ich - du wirst für das Heil dessen sterben, der dich sterben läßt.“

Betäubt, erschüttert ließ ich das Blatt fallen - zum erstenmal in meinem Leben berührte der Christusglaube den Grund meiner Seele.

Indem wurde die Tür aufgerissen, und der Prokurator stürzte herein - war er es wirklich? War dieses schmerzzerquälte, hohn­verzerrte Antlitz noch das unseres selbstbewußten Herrn? Ein Römer? Hier lag jedwede Würde eines solchen hoffnungslos zer­schlagen - so konnte nur ein Mensch aussehen, über den die Ver­zweiflung Herr geworden! Er schlug wie ein von der Axt ge­fällter Baum vor dem Bett der Herrin nieder, er riß sich den Kranz von der Stirn, er hämmerte mit beiden Fäusten gegen seine Brust. „Ich habe sie getötet, ich habe sie getötet“, rief er unaufhörlich. Ich stand wie betäubt vor Entsetzen. Dann bemerkte ich, daß der Lieblingssklave der Herrin ihm gefolgt war. Auch sein Gesicht erschien blutlos bis in die Lippen.

„Er sah unsere Herrin sterben“, stammelte er, „der Kaiser, die­ses Ungeheuer, hat ihn verraten! Er saß im Zirkus neben dem Imperator, der sich an seinem Entsetzen weidete, als sie mit den ändern Nazarenern die Arena betrat. Sie riefen nicht `Morituri te salutant´ wie die Gladiatoren, sie beteten das Bekenntnis ihres Glaubens. Noch höre ich ihr letztes Wort: `Crucifixus etiam pro nobis sub Pontio Pilato -´“

Bei der Nennung seines Namens blickte der Prokurator auf. „Sklave, gib mir das Schwert!“ stöhnte er, und als der Zittern­de zögerte: „Schnell, schnell, ich kann den Tod nicht erwarten!“ Er entriß ihm die Waffe.

Aber nun legte ich meine Hand auf die seine, zum Zustoßen bereit. Mit einer Kraft, die nicht die meine war, sagte ich: „Pon­tius Pilatus, Claudia starb, wie Christus gestorben ist - durch dich, aber auch für dich -“

Er sah mich aus seinem zerstörten Antlitz lange und verständ­nislos an - plötzlich sank sein Blick nach innen. Er ließ das Schwert fallen.

Erlasse mir jedes weitere Wort, edle Julia - mein Bericht ist zu Ende - auch mich hatte der Blick des Gekreuzigten erreicht.