Das Rotkehlchen

aus: Selma Lagerlöf: Christuslegenden. Nymphenburger Verlagshandlung, 1948.


Es war zu der Zeit, da unser Herr die Welt erschuf, er nicht nur Himmel und Erde schuf, sondern auch alle Tiere und Pflanzen, und ihnen zugleich ihre Na­men gab. Es gibt viele Geschichten aus jener Zeit; und wüßte man sie alle, so wüßte man auch die Er­klärung für alles in der Welt, was man jetzt nicht verstehen kann.

Damals war es, daß es sich eines Tages begab, als unser Herr im Paradiese saß und die Vögel malte, daß die Farbe in unsers Herrn Farbenschalen ausging, so daß der Stieglitz ohne Farbe geblieben wäre, wenn unser Herr nicht alle Pinsel an seinen Federn abge­wischt hätte.

Und damals geschah es, daß der Esel seine langen Ohren bekam, weil er sich nicht merkte, welchen Na­men er bekommen hatte. Er vergaß es, sowie er nur ein paar Schritte auf den Fluren des Paradieses ge­macht hatte, und dreimal kam er zurück und fragte, wie er heiße, bis unser Herr ein klein wenig unge­duldig wurde, ihn bei den Ohren nahm und sagte: „Dein Name ist Esel, Esel, Esel.“ Und während er so sprach, zog er seine Ohren lang, damit er ein besseres Gehör bekäme und sich merke, was man ihm sagte.

An demselben Tage geschah es auch, daß die Biene bestraft wurde. Denn als die Biene geschaffen war, begann sie sogleich Honig zu sammeln, und Tiere und Menschen, die merkten, wie süß der Honig duftete, kamen und wollten ihn kosten. Aber die Biene wollte alles für sich behalten und jagte mit ihren giftigen Stichen alle fort, die sich der Honigwabe näherten. Dies sah unser Herr, und alsogleich rief er die Biene zu sich und strafte sie. „Ich verlieh dir die Gabe, Honig zu sammeln, der das Süßeste in der Schöpfung ist“, sagte unser Herr, „aber damit gab ich dir nicht das Recht, hart gegen deinen Nächsten zu sein. Merke dir nun, jedesmal, wenn du jemand stichst, der deinen Honig kosten will, mußt du sterben!“

Ach ja, damals geschah es, daß die Grille blind wurde und die Ameise ihre Flügel verlor; es begab sich so viel Wunderliches an diesem Tage.

Unser Herr saß den ganzen Tag groß und mild da und schuf und erweckte zum Leben, und gegen Abend kam es ihm in den Sinn, einen kleinen grauen Vogel zu erschaffen.

„Merke dir, daß dein Name Rotkehlchen ist!“ sagte unser Herr zu dem Vogel, als er fertig war. Und er setzte ihn auf seine flache Hand und ließ ihn fliegen.

Aber als der Vogel ein Weilchen umhergeflogen war und sich die schöne Erde besehen hatte, auf der er leben sollte, bekam er auch Lust, sich selbst zu betrach­ten. Da sah er, daß er ganz grau war, und seine Kehle war ebenso grau wie alles andere. Das Rotkehlchen wendete und drehte sich und spiegelte sich im Wasser, aber es konnte keine einzige rote Feder ent­decken.

Da flog der Vogel zu unserrn Herrn zurück.

Unser Herr thronte gut und milde, aus seinen Hän­den gingen Schmetterlinge hervor, die um sein Haupt flatterten, Tauben gurrten auf seinen Schultern, und aus dem Boden rings um ihn sproßten die Rosen, die Lilie und das Tausendschönchen.
Das Herz des kleinen Vogels pochte heftig vor Bangigkeit, aber in leichten Bogen flog er doch immer näher und näher zu unserm Herrn, und schließlich ließ er sich auf seiner Hand nieder.
Da fragte unser Herr, was sein Begehr wäre.

„Ich möchte dich nur um eines fragen“, sagte der kleine Vogel.
„Was willst du denn wissen?“ fragte unser Herr.
„Warum soll ich Rotkehlchen heißen, wenn ich doch ganz grau bin vom Schnabel bis zum Schwanze? Warum werde ich Rotkehlchen genannt, wenn ich keine einzige rote Feder mein eigen nenne?“

Und der Vogel sah unsern Herrn mit seinen kleinen schwarzen Auglein flehend an und wendete das Köpf­chen. Ringsum sah er Fasanen, ganz rot unter einem leichten Goldstaub, Papageien mit reichen roten Halskragen, Hähne mit roten Kämmen, ganz zu schweigen von den Schmetterlingen, den Goldfischen und den Rosen. Und natürlich dachte er sich, wie wenig vonnöten wäre, nur ein einziger kleiner Tropfen Farbe auf seiner Brust, und er wäre ein schöner Vogel, und sein Name schicke sich für ihn.

„Warum soll ich Rotkehlchen heißen, wenn ich ganz grau bin?“ fragte der Vogel abermals und wartete, daß unser Herr sagen würde: „Ach, Freundchen, ich sehe, ich habe ganz vergessen, deine Brustfedern rot zu malen, aber warte nur einen Augenblick, dann wird es geschehen.“
Aber unser Herr lächelte nur still und sagte:
„Ich habe dich Rotkehlchen genannt, und Rotkehl­chen sollst du heißen, aber du mußt selbst zusehen, daß du dir deine roten Brustfedern verdienst.“
Und damit erhob unser Herr die Hand und ließ den Vogel aufs neue in die Welt hinausfliegen.

Der Vogel flog sehr nachdenklich ins Paradies hin­unter. Was sollte wohl ein kleiner Vogel wie er tun können, um sich rote Federn zu verschaffen?
Das einzige, was ihm einfiel, war, daß er sein Nest in einen Dornenbusch baute. Er nistete zwischen den Stacheln in dem dichten Dornengestrüpp. Es war, als erwarte er, daß ein Rosenblatt an seiner Kehle haf­ten bliebe und ihm seine Farbe gäbe.

Eine unendliche Menge von Jahren war seit diesem Tage verflossen, der der fröhlichste der Erde war. Seit dieser Zeit hatten sowohl die Tiere als auch die Menschen das Paradies verlassen und sich über die Erde verbreitet. Und die Menschen hatten es so weit gebracht, daß sie gelernt hatten, den Boden zu be­bauen und das Meer zu befahren, sie hatten sich Klei­der und Zierat geschaffen, ja sie hatten längst gelernt, große Tempel und mächtige Städte zu bauen, wie Theben, Rom und Jerusalem.

Da brach ein neuer Tag an, der auch in der Geschichte der Erde lange nicht vergessen werden sollte, und am Morgen dieses Tages saß das Rotkehlchen auf einem kleinen nackten Hügel vor den Mauern Jerusalems und sang seinen Jungen vor, die in dem kleinen Nest in einem niedrigen Dornenbusch lagen.

Das Rotkehlchen erzählte seinen Kleinen von dem wunderbaren Schöpfungstage und von der Namen­gebung, wie jedes Rotkehlchen es seinen Kindern er­zählt hatte, von dem ersten an, das Gottes Wort ge­hört hatte und aus Gottes Hand hervorgegangen war.

„Und seht nun“, schloß es betrübt, „so viele Jahre sind seit dem Schöpfungstage verflossen, so viele Rosen haben geblüht, so viele junge Vögel sind aus ihren Eiern gekrochen, so viele, daß keiner sie zählen kann, aber das Rotkehlchen ist noch immer ein klei­ner, grauer Vogel, es ist ihm noch nicht gelungen, die roten Brustfedern zu erringen.“

Die kleinen Jungen rissen ihre Schnibel weit auf und fragten, ob ihre Vorfahren nicht versucht hätten, irgendeine Großtat zu vollbringen, um die unschätz­bare rote Farbe zu erringen.

„Wir haben alle getan, was wir konnten“, sagte der kleine Vogel, „aber es ist uns allen mißlungen. Schon das erste Rotkehlchen traf einmal einen andern Vo­gel, der ihm völlig glich, und es begann sogleich, ihn mit so heftiger Liebe zu lieben, daß es seine Brust erglühen fühlte. Ach, dachte es da, nun verstehe ich es: der liebe Gott will, daß ich so heiß liebe, daß meine Brustfedern sich von der Liebesglut, die in meinem Herzen wohnt, rot färben. Aber es mißlang ihm, wie es allen nach ihm mißlungen ist, und wie es auch euch mißlingen wird.“

Die kleinen Jungen zwitscherten betrübt, sie began­nen schon darüber zu trauern, daß die rote Farbe ihre kleine flaumige Kehle nicht schmücken sollte.

„Wir hofften auch auf den Gesang“, sagte der alte Vogel, in langgezogenen Tönen sprechend. „Schon das erste Rotkehlchen sang so, daß seine Brust vor Begeisterung schwoll, und es wagte wieder zu hoffen. Ach, dachte es, die Sangesglut, die in meiner Seele wohnt, wird meine Brustfedern rot färben. Aber es täuschte sich, wie alle nach ihm sich getäuscht haben, und wie auch ihr euch täuschen werdet.“

Wieder hörte man ein trübseliges Piepsen aus den halbnackten Kehlen der Jungen.

„Wir hofften auch auf unsern Mut und unsre Tapfer­keit“, sagte der Vogel. „Schon das erste Rotkehlchen kämpfte tapfer mit andern Vögeln, und seine Brust glühte vor Kampfeslust. Ach, dachte es, meine Brust­federn werden sich rot färben von der Kampflust, die in meinem Herzen flammt. Aber es scheiterte, wie alle nach ihm scheiterten, und wie auch ihr scheitern werdet.“

Die winzigen Jungen piepsten mutig, daß sie es doch versuchen wollten, den erstrebten Preis zu gewinnen, aber der alte Vogel antwortete ihnen betrübt, daß dies unmöglich sei. Was könnten sie hoffen, wenn so viele ausgezeichnete Vorfahren das Ziel nicht erreicht hätten? Was könnten sie mehr tun als lieben, singen und kämpfen? Was könnten –

Der Vogel hielt mitten im Satze inne, denn aus einem Tore Jerusalems kam eine Menschenmenge ge­zogen, und die ganze Schar eilte den Hügel hinan, wo der Vogel sein Nest hatte.

Da waren Reiter auf stolzen Rossen, Krieger mit langen Lanzen, Henkersknechte mit Nägeln und Hämmern, da waren würdig einherschreitende Prie­ster und Richter, weinende Frauen, und allen voran eine Menge wild umherlaufendes Volk, ein greuliches, heulendes Geleite von Landstreichern.

Der kleine graue Vogel saß zitternd auf dem Rande seines Nestes. Er fürchtete jeden Augenblick, daß der kleine Dornenbusch niedergetreten und seine kleinen Jungen getötet werden würden. „Nehmt euch in acht“, rief er den kleinen schutzlosen Jungen zu, „kriecht dicht zusammen und verhaltet euch still! Hier kommt ein Pferd, das gerade über uns hingeht! Hier kommt ein Krieger mit eisenbeschlagenen San­dalen! Hier kommt die ganze wilde Schar ange­stürmt!“

Mit einem Male hörte der Vogel mit seinen War­nungsrufen auf, er wurde still und stumm. Er vergaß beinahe die Gefahr, in der er schwebte.
Plötzlich hüpfte er in das Nest hinunter und breitete die Flügel über seine Jungen.
„Nein, das ist zu entsetzlich“, sagte er. „Ich will nicht, daß ihr diesen Anblick seht – da sind drei Misse­täter, die gekreuzigt werden sollen.“
Und er breitete ängstlich die Flügel aus, so daß die Kleinen nichts sehen konnten. Sie vernahmen nur donnernde Hammerschläge, Klagerufe und das wilde Geschrei des Volkes.

Das Rotkehlchen folgte dem ganzen Schauspiel mit Augen, die sich vor Entsetzen weiteten. Es konnte die Blicke nicht von den drei Unglücklichen wenden.

„Wie grausam die Menschen sind!“ sagte der Vogel nach einem Weilchen. „Es ist ihnen nicht genug, daß sie diese armen Wesen ans Kreuz nageln, nein, auf dem Kopfe des einen haben sie noch eine Krone aus stechenden Dornen befestigt.“
„Ich sehe, daß die Dornen seine Stirn verwundet haben und das Blut fließt“, fuhr es fort. „Und dieser Mann ist so schön und sieht mit so milden Blicken um sich, daß jeder ihn lieben müßte. Mir ist, als ginge eine Pfeilspitze durch mein Herz, wenn ich ihn leiden sehe.“

Der kleine Vogel begann ein immer stärkeres Mitleid mit dem Dornengekrönten zu fühlen. „Wenn ich mein Bruder, der Adler, wäre“, dachte er, „würde ich die Nägel aus seinen Händen reißen und mit meinen starken Klauen alle die Leute verscheuchen, die ihn peinigen.“

Er sah, wie das Blut auf die Stirn des Gekreuzigten tropfte, und da vermochte er nicht mehr still in seinem Neste zu bleiben.

„Wenn ich auch nur klein und schwach bin, so muß ich doch etwas für diesen armen Gequälten tun kön­nen“, dachte der Vogel, und er verließ sein Nest und flog hinaus in die Luft, weite Kreise um den Gekreu­zigten beschreibend.

Er umkreiste ihn mehrere Male, ohne daß er sich näher zu kommen traute, denn er war ein scheuer kleiner Vogel, der es nie gewagt hatte, sich einem Menschen zu nähern. Aber allmählich faßte er Mut, flog ganz nah hinzu und zog mit seinem Schnabel einen Dorn aus, der in die Stirn des Gekreuzigten gedrungen war.
Aber während er dies tat, fiel ein Tropfen von dem Blute des Gekreuzigten auf die Kehle des Vogels. Der verbreitete sich rasch und färbte alle die kleinen zar­ten Brustfedern.

Wie der Vogel wieder in sein Nest kam, riefen ihm seine kleinen Jungen zu:
„Deine Brust ist rot, deine Brustfedern sind roter als Rosen!“
„Es ist nur ein Blutstropfen von der Stirn des armen Mannes“, sagte der Vogel. „Er verschwindet, sobald ich in einem Bach bade oder in einer klaren Quelle.“

Aber soviel der kleine Vogel auch badete, die rote Farbe verschwand nicht von seiner Kehle, und als seine Kleinen herangewachsen waren, leuchtete die blutrote Farbe auch von ihren Brustfedern, wie sie auf jedes Rotkehlchens Brust und Kehle leuchtet, bis auf den heutigen Tag.