15.10.2008

Vom Urvertrauen der Jugendlichen in die Wahrheit

veröffentlicht in der "Mittenmang", Schulzeitung der Waldorfschule Berlin-Mitte, Weihnachten 2008.

Gedanken zum letzten Teil eines Textes, an dem das Kollegium arbeitete (Henning Köhler: Jugend im Zwiespalt, Kapitel „Güte, Schönheit, Wahrheit?“).


Nach der Pubertät lebt im Jugendlichen vor allem das Urvertrauen: „Die Welt ist wahr“.
Laut Köhler wandelt sich dieses Urvertrauen in verschiedenen Phasen so, dass man diese gleichsam in drei Grundüberzeugungen fassen kann:

1. „Es gibt die Wahrheit, also wird sie mir zuteil.“ (Wesens- und Sinnfrage)
Dies bezieht sich zunächst vor allem auf das Vertrauen, dass die auf die eigene Person bezogene Frage „Wer bin ich?“ beantwortbar sein wird.

2. „Alles, was ich wahrnehme, ist wirklich da.“ (Realitätsfrage)
Dieses Grundvertrauen gibt dem Jugendlichen – der immer mehr spürt, wie er selbst die Dinge mitgestaltet – Sicherheit in Bezug auf die eigene Vergangenheit (seine Erinnerungen) und die Um-Welt.

3. „Es ist möglich, daß alle Menschen in Frieden und Verbundenheit ein sinnerfülltes Leben führen können.“
Hier erweitert sich die Sinnfrage zur ganzen Welt hin (soziale Dimension). 

Dieses Grundvertrauen des Jugendlichen („Die Welt ist wahr“) ist ein Aufruf an uns als Lehrer und Erzieher – aber man muss ihn noch klarer fassen und empfinden.

Wahrheit und Sinn

Der Jugendliche ist auf der Suche nach sich selbst – erlebt den Realitätscharakter der Um-Welt – und erlebt das Ideal einer brüderlichen, sinnerfüllten Welt.

Diese dritte Phase zeigt das Urvertrauen in die Wahrheit auf der zunächst höchsten Stufe: Die ganze Welt hat einen Sinn, und dieses Ideal, das ich in mir erlebe, ist im Grunde genau dieser Sinn, zu dem die Realität (die rein „irdische Wahrheit“), die ich ebenso erlebe, eigentlich immer auf dem Wege ist oder sein sollte. – Und weil die Welt wahr ist, geht dieser Zusammenhang zwischen der oft traurigen Wirklichkeit und der eigentlichen Wahrheit, nämlich dem Ideal, auch nicht verloren. Die Übereinstimmung muss mit der Zeit immer größer werden...

Und hier ist dann zugleich auch der Punkt, wo der jugendliche Mensch sich selbst finden will.

Die Frage „wer bin ich?“ ist eigentlich nur beantwortbar, wenn die Welt insgesamt wahr ist. Nur dann gibt es diesen einen großen Zusammenhang, in dem jedes Einzelne, jeder Einzelne eine Aufgabe hat – seine Aufgabe. Diese Aufgabe kann ich nur selbst finden. Aber sie muss von der Welt dann auch beantwortet werden. Wenn der junge Mensch seine Aufgabe findet und ergreift, dann muss von der Welt auch die Antwort kommen: Ja, das bist du – und genau du und deine Aufgabe hat uns bis jetzt gefehlt!

Die ganze Frage nach der Wahrheit ergibt keinen Sinn und läuft ins Leere, wenn man nicht von diesem großen Zusammenhang des Ganzen ausgeht.

Wie nimmt denn der Jugendliche die Welt wahr – wer nimmt denn in ihm die Welt wahr? Es ist sein Geist, der über das Denken die Welt wahrnimmt bzw. die Wahrnehmungen ordnet und ihren Sinn sucht.

Durch Rudolf Steiner können wir mehr und mehr erleben lernen, wie der Geist das Organ und zugleich der Schöpfer für Zusammenhang und Sinn schlechthin ist. Es gibt im Geistigen nichts, was ohne Sinn und Zusammenhang wäre! Ein geistiges Wesen kann also im Innersten überall nur Sinn und Zusammenhang vermuten, voraussetzen, suchen und finden – und die Welt ist voller Sinn.

Wo stehen nun wir Erwachsenen eigentlich in Bezug auf dieses Urvertrauen? Haben wir davon noch etwas – und wenn nicht, warum nicht...? Wenn nicht, müssen wir es uns wieder erringen!

Aufgabe des Erziehers ist es, für den Schüler dieses Höchste – die Güte, die Schönheit und jetzt eben vor allem: die Wahrheit – zu repräsentieren. Er soll wirklich ein Abgesandter der Wahrheit sein, die ja im Vorgeburtlichen für jeden Menschen Lebensluft ist. Wie aber wird man ein Repräsentant der Wahrheit? Man kann es natürlich immer nur werden. Durch äußerliche Maßnahmen geht das niemals, man kann diese Aufgabe nur innerlich versuchen wahrzumachen. Und dennoch wird es gerade dann mehr und mehr jede einzelne äußere Handlung durchziehen.

Also der Schüler hat dieses Urvertrauen: Die Welt ist wahr. Man versuche einmal, das ganz konkret zu erleben. Die Welt ist wahr. Es gibt nichts, was ohne Sinn ist. Was auf der Welt geschieht, hat einen Sinn. Was mir geschieht, hat einen Sinn. Auch ich trage einen tiefen Sinn in mir, den ich nach und nach finden muss und finden werde, den ich mir nach und nach selbst geben können werde.

Im Grunde reicht dieser kleine Versuch, sich in dieses Urvertrauen hineinzuerleben, schon aus, um anfänglich in Bezug auf jede einzelne Handlung erleben zu können, inwieweit man dadurch ein Abgesandter der Wahrheit ist – oder inwieweit man gerade ein Stück dieses Urvertrauens zerstört.

Beispiele aus dem Schulalltag

Ich möchte einige Beispiele aus dem Schulalltag geben, die den Blick auf unsere eigenen Schwächen lenken, aber eben genau zeigen, worauf es auch im Kleinen ankommt.

- Von den Schülern wird erwartet, und es steht auch in der für alle geltenden Schulordnung, dass sie pünktlich sind. Pünktlichsein ist eine soziale Fähigkeit, sie beinhaltet eine Anerkennung der Gemeinschaft und des gemeinsamen Ziels. Auf einer sehr basalen Ebene ist dies ein Ausdruck der Überzeugung: Die Welt ist wahr. Es hat einen Sinn, dass ich und alle anderen pünktlich sind. Es ginge etwas ganz Entscheidendes verloren, wenn es nicht so wäre. – Nun gibt es aber Lehrer, die durchaus häufig selbst zu spät kommen. Das Urvertrauen wird zerstört. Es hat eben keinen Sinn, dass man pünktlich ist...!

- Das Vertretungsproblem: Kollegen schauen nicht auf den Plan oder verneinen aus diesen oder jenen Gründen die Möglichkeit zu einer Vertretungsstunde. Ein Hauptunterricht fällt aus. Der Zusammenhang des Schulganzen ist an einem solchen Punkt ganz real zerrissen! Ein ausgefallener Hauptunterricht ist ein Loch in einem sinnerfüllten Zusammenhang. Und genau so wird es von Schülern dann auch erlebt – und mehr noch: Sie kommen morgens in die Schule und erfahren: Schule ist nicht. Erst um 10 Uhr. Und manchmal hören sie um 10 Uhr sogar: Nein, erst um 12 Uhr. Keine Telefonkette, keine Gründe, nichts. Oft sagt ihnen nicht einmal im Nachhinein ihr einige Tage später wieder zurückgekehrter Lehrer, warum sein Unterricht ausgefallen war. Die Botschaft dieses objektiven Sinn-Verlustes ist für den einzelnen Schüler: Ich bin nicht wichtig. In der Schule geht es gar nicht um mich. Ich habe zu erscheinen, aber der Stundenplan rollt ab wie ein Uhrwerk, manchmal fallen Stunden aus, dann geht es weiter – aber ohne, dass ich wirklich ein Teil eines Zusammenhangs wäre.

- Als drittes ein hoch angesetztes Beispiel: Wie steht der Lehrer seinem Stoff und seinen Schülern gegenüber? Wen liebt er mehr? Will er die Schüler für seinen Stoff begeistern? Und ist er enttäuscht, wenn dies nicht gelingt? Reagiert er mit Antipathie oder gar Resignation? Oder sucht er in erster Linie immer wieder neu seinen Anteil an jeglichem Misslingen? Ist es überhaupt sein Stoff? Gibt er den Schülern das Gefühl, dass er diesen Stoff beherrscht und nur die Schüler ihn noch lernen müssen? Oder kann er sie erleben lassen, dass es sich um einen wunderbaren Weltinhalt handelt, der es in jedem Fall wert ist entdeckt zu werden und wo er ihnen Wegbegleiter sein möchte?

Die höchste Stufe: Die Wahrheit des Menschen

Und zuletzt die höchste Stufe: Was ist denn die Wahrheit des Menschen? Der Mensch ist als geistiges Wesen ein Wesen, das sich fortwährend in Entwicklung befinden könnte. Daher ist die Wahrheit auch nie fertig, sondern immer im Wachstum! Gerade darauf gründet sich ja das Vertrauen, dass Ideal und Erdenrealität immer mehr zusammenkommen können. Wenn aber dieses Urvertrauen des Jugendlichen lebendig bleiben soll, dann muss er vor allem Menschen erleben, die ihm diese Wahrheit des Menschenwesens selbst repräsentieren können, also Menschen, die innerlich in fortwährender Entwicklung sind. Erzieherpersönlichkeiten, die sich nicht nur einen neuen Epochenstoff aneignen oder privat eine neue Sprache lernen usw., sondern die sich in dem, was ihr ganzes Menschenwesen ausmacht, Tag für Tag entwickeln. – Wenn das nicht geschieht, ist die Botschaft von Schule immer: Wir können die Dinge schon, ihr müsst sie noch lernen! Dagegen lehnen sich die heranwachsenden Menschen unbewusst auf, und ich glaube, dies ist die tiefste Ursache jeder Schulmüdigkeit. Die Schüler vermissen das lebendige Bild des Menschenwesens. Sie fühlen sich im Innersten in dieser Welt erst dann willkommen, ja begrüßt, aufgenommen und als Jugendlicher dann als Gleicher unter Gleichen, wenn sie erleben: Da sind erwachsene Menschen, die sind uns voraus, und sie sind uns deshalb voraus, weil wir sehen, dass sie jeden Tag unterwegs sind, in Entwicklung sind, was ihr höchstes Menschenwesen betrifft...

Natürlich gilt diese Aufgabe für jeden Erzieher, also auch für Eltern. Waldorfpädagogik ist letztlich nichts, was man delegieren kann und dann selbst „los“ ist. Wenn man sie ernst nimmt, ist sie sehr unbequem – weil ihr wichtigster Grundsatz eigentlich immer die „Selbsterziehung“ ist, und dies nun einmal das Unbequemste ist, was es gibt, nämlich das Gegenteil jeder Bequemlichkeit. Aber auch das Erfüllendste, weil man immer mehr erleben kann, wie man eigentlich erst jenseits aller Bequemlichkeit wahrhaft Mensch zu werden beginnt. Die kleinen Kinder, die noch voller Freude über jegliche Entwicklung sind, machen es uns vor... Wenn aber die größeren Kinder und vor allem die Jugendlichen nicht empfinden, dass der (erwachsene) Mensch ein sich immerfort entwickelndes geistiges Wesen ist, dann kommt irgendwann der Punkt, wo sie die Welt unbewusst immer mehr als eine einzige große Lüge erleben. Und so stellen sie uns jeden Tag unausgesprochen eine tiefe, sehr ernste Frage...