23.02.2009

Prokofieff und Rapp tauschen Meinungen aus

Im „Goetheanum“ vom 20.2.2009 erschien – anschließend an Rapps Kritik an Prokofieffes neuestem Buch und dessen Anhang über Stigmatisation – eine Korrespondenz zwischen S. Prokofieff und D. Rapp. Die Verwirrung und Unwahrhaftigkeit setzt sich fort...


Inhalt
Originaltext 1 (Sergej O. Prokofieff)
Originaltext 2 (Dietrich Rapp)
"Keine unnötigen Emotionen?"
Meinungen mit Anthroposophie belegen?
Was sind "unsere Anliegen" und Motive?
Unwahrhaftigkeit und Totschlagargument "Karma"


Originaltext 1 (Sergej O. Prokofieff)

Prokofieff schreibt unter dem (redaktionellen) Titel „Eine Frage des Anspruchs“:

Lieber Dietrich Rapp, mit diesen Zeilen möchte ich auf einige Aussagen Ihrer Rezension antworten.
In der von Ihnen geäußerten Kritik, dass ich in meinem ‚Anhang‘ den Namen Judith von Halles nicht erwähnt hätte, liegt mei­nes Erachtens ein Missverständnis bezüglich der Ziele vor, die ich mit diesem Anhang verbinde. Ich habe auf das Phänomen der Stigmatisation und der damit einhergehenden ‚Zeitreisen‘ an sich hingewiesen und es so objektiv wie möglich charakteri­siert. Deshalb sind dort Beispiele stigmatisierter Menschen, die von ihren Zeitreisen berichten, angeführt, welche nicht unsere Zeitgenossen sind (denn auch gegenwärtig ist Judith von Halle keinesfalls die einzige Stigmatisierte), um dadurch nicht unnöti­gen Emotionen hervorzurufen. Aus diesem Grund wollte ich Judith von Halle nicht di­rekt einbeziehen und die ganze Frage auf eine höhere, überpersönliche Ebene heben. Ich selbst hätte gar nichts dagegen, wenn meine Bücher derart objektiv – ohne direk­ten Bezug auf sie und ohne meinen Na­men zu erwähnen, wenn nötig auch kri­tisch – behandelt würden. Ein solches Vorgehen hielte ich für ausgesprochen fair. [...]
Mit meinem Buch wollte ich kein pole­misches Werk schreiben, das gegen je­manden persönlich gerichtet wäre. Daher bestand für mich kein Grund, im Anhang den Namen Judith von Halles zu erwäh­nen. Weil ich aber durch Ihre Rezension dazu genötigt bin, tue ich es mit diesem ‚Offenen Brief‘ und stelle im Folgenden dar, wo ich gegenwärtig in Bezug auf Ju­dith von Halle das Hauptproblem sehe. Ihren Vorwurf jedoch, dass ich „ein un­ehrliches Buch“ geschrieben hätte, muss ich aus den angeführten Gründen ent­schieden zurückweisen.
In meinem Anhang habe ich meine ei­gene Überzeugung ausgesprochen und den Versuch unternommen, sie aus der Geisteswissenschaft heraus zu belegen. Diese Meinung zwinge ich niemandem auf. Jeder ist frei, meinen Darlegungen zu folgen – oder auch nicht. Und selbstver­ständlich respektiere ich voll und ganz, dass es Menschen gibt, die eine andere Meinung in dieser Frage haben. Denn ge­wiss soll jeder seinen eigenen Eindruck ge­winnen, muss sich dann aber damit ab­finden, dass es über dasselbe Phänomen eben unterschiedliche Urteile geben kann, wobei jeder frei ist, den einen oder ande­ren Standpunkt überzeugender zu finden.
Von einer „Anathematisierung“, wie Sie es ausdrücken, kann keine Rede sein. Jedoch, wie bei jeder geistigen Auseinander­setzung, sollte auch in diesem Fall gegenseitige Meinungsfreiheit herrschen.

Was meines Erachtens zu einem wirkli­chen Problem führt, ist, dass Judith von Halle aufgrund ihrer Stigmatisation und ihrer Gesichte eine ungeheure geistige Au­torität für sich beansprucht. So hat sie, kurz nachdem ihre Stigmatisation eingetreten war und sich ihre ‚Zeitreisen‘ einstellten, in einem Rundbrief vom September 2004 an die Vertreter der Arbeitszentren der An­throposophischen Gesellschaft in Deutsch­land, den Vorstand der Anthroposophi­schen Gesellschaft in Deutschland und den Vorstand und das Hochschulkollegium am Goetheanum das Folgende mitgeteilt:
„Schauen Sie bitte nicht mich als einen Menschen an, an dem ein schier unerklär­liches Wunder wirkt. Bitte schauen Sie auf die geistigen Tatsachen, die diesem Phä­nomen zugrunde liegen. Jede Darstellung über die Ereignisse soll nicht meine Person in den Vordergrund rücken. Da sich diese Ereignisse an mir vollziehen, sind sie mit meinem Wesen verknüpft. Doch es ist stets Christus selbst, der Sie ganz persönlich – in Liebe – anspricht, wenn Sie sich mit diesem Stigmatisations‑Ereignis auseinanderset­zen, das innerhalb der Anthroposophi­schen Gesellschaft aufgetreten ist, indem Er durch Seine Gnade, durch die Lenkung und Stützung Ihres Karmas, Sie selbst zu Zeugen werden lässt von Seinem Gang durch die Erdenwelt, von Seiner Authenti­zität, von Seiner Allgegenwart.“
Der Schlusssatz dieses Selbstzeugnisses spricht für sich. Solch ein Anspruch ist für mich das Ende der Anthroposophie. In der ganzen Geistesgeschichte haben keine Heiligen, Stigmatisierten oder Päpste derar­tige Ansprüche geltend gemacht.
Die zitierten Worte wurden in einem zweiten Rundbrief, den Judith von Halle mitunterschrieben hat, durch eine weitere Behauptung noch verstärkt: Judith von Halle sei Trägerin des Phantoms des aufer­standenen Christus. Auch diese Anmaßung wirkt auf mich so, dass dadurch jegliche freie und unabhängige Auseinandersetzung über die Inhalte ihrer späteren Schriften und Vorträge kaum möglich ist.
Hierin liegt auch die Antwort auf Ihre weitere Kritik. Selbstverständlich ist un­sere Anthroposophische Gesellschaft of­fen und für alle Strömungen da, die mit Michael und seiner übersinnlichen Schule verbunden sind – nicht jedoch für An­sprüche solcher Art. Denn durch sie kommt ein Element in die Anthroposo­phie herein, das eine stark suggestive Wirkung ausübt, die Freiheit der Menschen einschränkt und deshalb der Anthroposo­phie wesensfremd ist. [...]

Originaltext 2 (Dietrich Rapp)

Dietrich Rapp antwortet, betitelt mit „Wie ‚exklusiv‘ sind wir?“:

Lieber Sergej Prokofieff, gut, dass wir uns nun, nachdem Buch und Rezension die Argumente lieferten, über unsere Anliegen austauschen, sie liegen näher am Herzen als die Argumente! [...]
Ein Anliegen meiner Rezension (neben der Würdigung Ihrer Erkenntnisse) ist aber, zu zeigen, dass Ihr Buch so „überpersönlich“ und freilassend nicht wirkt. Sein apodiktischer und exklusiver Habi­tus, mit dem es das „tief unchristliche Ele­ment“ der Schauungen stigmatisierter Menschen behauptet, das von Christus fortführe, wirkt ausschließend. Und diese Geste des Ausschlusses muss auch und ge­rade diejenige stigmatisierte Persönlich­keit bedrohen, die heute auf dem Boden der anthroposophischen Geisteswissen­schaft ihre Einsichten darstellt [...] Wenn Sie erklären: „Mit der Anthroposophie hat das nichts zu tun“, dann bedeutet dieses absolute Veto („nichts“) – bei aller Beteuerung einer „überpersönlichen“ Darstellung – doch faktisch den Ausschluss der Person, die ihre Erfahrungen ausdrücklich anthroposophisch zu erarbeiten versucht, aus der Anthroposophie. Gegen diese Geste wende ich mich.*
Ich bin nicht sicher, ob der „überper­sönliche“ Stil (der doch oft nur die ur­sprünglichen persönlichen beziehungs­weise unbewussten Erfahrungen und Intentionen nachträglich abstrahiert und anonymisiert) in der Sache auch immer ‚objektiver‘ ist. Denn verständlich wird eine Aussage letztlich nur aus der Quelle: der Person selbst. Freilich muss man sich dieser Quelle und ihrer ursprünglichen Geistigkeit öffnen, durch Aufgeschlossen­heit und Interesse, ja durch Ehrfurcht ge­genüber den individuellen, ganz persönli­chen (persönlich verantworteten) Seelen­wegen der anderen.
[...] Wer Judith von Halle wirklich persönlich kennt, kann die (wohl „überpersönlich“ gemeinte und aus dem Abstand) unterstellte Anspruchs­haltung (an der Sie sogar das „wirkliche Problem“ um Judith von Halle festma­chen) bei ihr nicht bestätigen. [...]

Warum ich Ihnen das alles so offen zu sagen wage? Weil ich weiß, dass Sie selbst jeden (falschen) Anspruch auf Ihre Person entschieden von sich weisen. Das habe ich schon bei Ihren ersten Vorträgen in Stutt­gart vor fast 30 Jahren deutlich gespürt. Sie kennen also dieses intime Verhältnis der Person zu ihrem tief gefühlten Engage­ment für eine Sache gut. Sie können dies auch anderen Personen zugestehen. An­ders als durch ein solches Interesse am See­lisch‑Geistigen des Mitmenschen finden wir zu keiner fruchtbaren Zusammenar­beit, zu der das Karma unserer Begegnun­gen im Grunde auffordert. In der tätigen ‚Interpretation‘ dieses Karmas bestand ja Rudolf Steiners soziales Ingenium, kraft dessen er jede individuelle Bemühung sei­ner Mitarbeiter förderte. Das, diese Mög­lichkeit zur allgemein‑menschlichen Zu­sammenarbeit, zu deren Ziel das Karma uns zusammengeführt hat, ist die Wirk­lichkeit unserer Anthroposophischen Ge­sellschaft. Dieses Karma schließt ein, nicht aus, bis in die feinsten Gesten des anthro­posophischen Zusammenwirkens. – Ich weiß, hier spreche ich auch in Ihrem Sinne.

* Erlauben Sie mir hier eine persönliche Anmer­kung. Sie werden sich ganz sicher an die kon­troversen Umstände erinnern, unter denen vor 27 Jahren ihr erstes Buch ‚Rudolf Steiner und, die Grundlegung der neuen Mysterien‘ beim Verlag Freies Geistesleben erscheinen konnte. Es gab im Vorfeld heftige Diskussionen und Be­denken, auch im Arbeitskollegium der Anthro­posophischen Gesellschaft in Deutschland, da­rüber, ob dieses Werk der anthroposophischen Arbeit in Mitteleuropa guttut; seine ‚Ausschlie­ßung‘ stand zur Debatte. Ich (als ihr erster Lek­tor) habe mich (mit anderen Freunden) damals für seine Veröffentlichung im Verlag eingesetzt und sie durch eine ‚Vorbemerkung des Verlags‘ im Buch auch begründet. Diese Umstände wa­ren Ihnen selbst deutlich, denn Sie schrieben uns Verlegern am 8. März 1982 aus Edinburgh: „Vor meiner Rückreise möchte ich Ihnen noch einmal für Ihr Verständnis für die besonderen Umstände, unter denen mein Buch nur zustan­de kommen konnte, und ebenso für Ihre Hilfe sehr herzlich danken.“ ich bin noch heute froh darüber, dass es uns gelungen ist, ihre unge­wöhnliche Arbeit nicht auszuschließen, son­dern in den anthroposophischen Arbeitszu­sammenhang einzubeziehen.

„Keine unnötigen Emotionen“?

Es bleibt eine Tatsache, dass Prokofieff seinen Anhang auf „vermehrt an ihn herangetragene Fragen“ hin verfasst hat und dass er damit nachweisen wollte, dass die Schauungen stigmatisierter Menschen mit Anthroposophie nichts zu tun haben. Dabei hat er mehrmals Formulierungen benutzt, die nur auf gegenwärtige Fälle, insbesondere Judith von Halle, bezogen werden können. Die „objektive“ Behandlung des Themas auf einer „überpersönlichen Ebene“ ist schon deshalb nicht möglich, weil alle Aussagen Judith von Halles gerade durch die Vermischung von Schauungen und scheinbar „anthroposophischer Durchdringung“ unbedingt für sich angeschaut und widerlegt werden müssen. Es reicht eben nicht, Stigmata als dekadent hinzustellen und zu den weitreichenden Aussagen einer Judith von Halle nicht Stellung zu nehmen.

Dass Prokofieff keine „unnötigen Emotionen hervorrufen“ wollte, wirft wiederum ein Licht auf den Zustand der Anthroposophie. Man ist einfach nicht in der Lage, in Erkenntnisfragen die Emotionen außen vor zu lassen – das heißt aber nichts anderes, dass man zu Erkenntnis überhaupt nicht kommen kann!

Dass Prokofieff aber Judith von Halle „aus diesem Grund nicht direkt einbeziehen“ wollte, zeigt seine eigene Unwahrhaftigkeit, denn das Problem liegt gerade hier – sein ganzer Anhang geht am eigentlichen Problem vorbei!

Das Allerschlimmste an Prokofieffs Vorgehen ist: Um einen gleichsam universellen Beweis für die Dekadenz von Stigmata zu konstruieren, zieht er eine hohe Individualität wie Franz von Assisi (denn er lebt ja nicht mehr, mit ihm kann man es ja machen!) in den Schmutz – ebenso wie den christlichen Einweihungsweg und das alles unter unhaltbaren Verdrehungen und Missverständnissen von Schilderungen Rudolf Steiners, wie ich detailliert nachgewiesen habe.

Wenn er sagt, er wollte „kein polemisches Werk schreiben, das gegen jemanden persönlich gerichtet wäre“, ist dies wieder ein Angriff auf die Gebote der Wahrhaftigkeit. Man kann sehr wohl die Irrtümer und Lügen eines Menschen um der Wahrheit willen scharf kritisieren. Ob man dann Namen nennt oder nicht, ist zweitrangig, entscheidend ist, dass andere Menschen genau verstehen können, wovon man eigentlich spricht! Und eine solche Zurückweisung von Irrtümern und Lügen hat, wenn sie aus Wahrheitsliebe hervorgeht, mit Polemik nichts zu tun – und ist nur insofern „gegen“ jemanden persönlich gerichtet, als dieser Jemand eben Irrtümer oder Schlimmeres verbreitet hat (Rudolf Steiner wies übrigens oftmals darauf hin, dass aus der Sicht des Geistigen bzw. für den Anthroposophen ein Irrtum als genauso schwerwiegend angesehen werden muss wie eine Lüge!).

Meinungen mit Anthroposophie belegen?

Dann schreibt Prokofieff, er habe in jenem Anhang seine „eigene Überzeugung ausgesprochen und den Versuch unternommen, sie aus der Geisteswissenschaft heraus zu belegen. Diese Meinung zwinge ich niemandem auf.“. Diese zwei Sätze offenbaren vieles. Zunächst: Wie tief ist diese Geisteswissenschaft gesunken, wenn man versucht, mit ihr Überzeugungen zu belegen? Und dann: Wie tief erst, wenn es letztlich sogar nur um eigene Meinungen geht!

Wie Prokofieff die Geisteswissenschaft handhabt, wird aus seinem Anhang tatsächlich hinreichend klar: Er biegt sich die „Beweise“, die er braucht, aus den Versatzstücken der Gesamtausgabe zurecht – und bemerkt nicht einmal, was er damit anrichtet! Genau dies zeigt aber offenkundiger als alles andere die völlige Dekadenz der heutigen „Anthroposophie“. Denn Geisteswissenschaft müsste Gedanke für Gedanke etwas real Erlebtes sein. Dann würde man nie zu einer solchen Formulierung kommen, wo die Überzeugungen auf der einen und die Geisteswissenschaft auf der anderen Seite stehen. Geisteswissenschaft muss etwas Reales werden – und „Überzeugungen“ einzig und allein deren Frucht! Alles andere läuft nur auf das völlige Missverstehen von Geisteswissenschaft hinaus, da unterscheidet sich das Verständnis von Prokofieff im Ergebnis in nichts von dem Judith von Halles.

„Selbstverständlich respektiere ich voll und ganz, dass es Menschen gibt, die eine andere Meinung in dieser Frage haben.“ „Jedoch, wie bei jeder geistigen Auseinandersetzung, sollte auch in diesem Fall gegenseitige Meinungsfreiheit herrschen.“ – Wo es um Meinungen geht, geht es nicht im Ansatz um Geistiges, nicht im Ansatz um Anthroposophie.

Den unglaublichen Anspruch, den Judith von Halle für sich behauptet, stellt Prokofieff völlig richtig dar. Eine freie Auseinandersetzung mit den Aussagen Judith von Halles ist eben tatsächlich nur möglich, wenn man vollkommen in Frage stellt bzw. überhaupt nicht beachtet, dass sie behauptet, durch sie spreche Christus selbst! (Dass die Menschen diese Bedingung nicht erkennen, macht sie eben gerade unfrei und macht die Tragik des ganzen Geschehens aus). Solch ein Anspruch ist nicht nur „das Ende der Anthroposophie“, sondern beweist unmittelbar, dass Christus  n i c h t  durch sie spricht – denn der Christus lässt frei.

Am Ende wird Prokofieff dann einmal mehr dogmatisch-mystisch, wenn er von der Öffnung gegenüber allen Strömungen spricht, „die mit Michael und seiner übersinnlichen Schule verbunden sind“ – dass Prokofieff dies (wie Judith von Halle) nicht ist, zeigt sein Vorgehen bis ins Einzelne.

Was sind „unsere Anliegen“ und Motive?

Dietrich Rapp zeigt die gleiche Unwahrhaftigkeit gegenüber der reinen Geisteswissenschaft, wenn er gleich zu Anfang sagt, „unsere Anliegen“ lägen „näher am Herzen als die Argumente!“ – Wenn Geisteswissenschaft wirklich real wäre, wären alles Früchte und Äußerungen von ihr, wären auch alle „Argumente“ Teil ihres lebendigen Stromes, wären sie eins mit dem „Anliegen“ selbst, wären sie ebenso von Herzblut durchdrungen wie das vielleicht Unsagbare.

Recht hat Rapp, wo er betont, dass Prokofieffs Buch nicht so freilassend wirkt, wie er es nun im nachhinein behauptet. Das liegt aber bereits an der Geistlosigkeit von dessen Ausführungen. Prokofieff schreibt nicht aus dem Geiste, er schreibt über seine „Überzeugungen“ von Anthroposophie, sein Bild von ihr, das er tief ins Abstrakte und auch Mystische (das ist hier kein Widerspruch) heruntergeholt hat. Er will die Anthroposophen begeistern, belehren und anderes mehr – all diese Motive mögen ihm nicht bewusst sein, aber sie liegen in dem, was er schreibt und wie er schreibt. Andere begeistern kann etwas Wunderbares sein – es wird jedoch zu etwas Schlimmem, wenn man selbst nicht von wahrem Geist durchdrungen ist. Dann nämlich lässt es tatsächlich nicht frei, es führt nicht zum Geist und zur Wahrheit, sondern zur Abstraktion und Illusion...

Rapp wiederholt dann sein Plädoyer für Judith von Halle, wiederholt, dass sie „auf dem Boden der anthroposophischen Geisteswissenschaft ihre Einsichten darstellt“. Er oder Judith von Halle müssten aber darstellen, wie letztere zu ihren Schauungen kommt, denn diese sind das Problem! Da diese nicht durch die geisteswissenschaftliche Methode gewonnen werden, können sie nur von lauter Täuschungen getränkt sein – jeder nachträgliche Versuch ihrer erkenntnismäßigen Durchdringung kann nichts von diesen Täuschungen beseitigen, und jede Vermischung mit anthroposophischer Terminologie kann diese Tatsache nur weiter verschleiern!

Rapps Reden von „Aufgeschlossen­heit und Interesse, ja ... Ehrfurcht ge­genüber den individuellen, ganz persönli­chen (persönlich verantworteten) Seelen­wegen der anderen“ ist völlig fehl am Platze, wo es um die reine Frage geht, ob die geisteswissenschaftliche Erkenntnismethode angewandt wird oder nicht! Man muss sich für diese „einfache“ Frage nicht mit Fragen quälen wie „Wie exklusiv sind wir?“ – schon diese Frage ist falsch gestellt, denn wie man sieht, steht dieses „Wir“, steht selbst ein Prokofieff nicht auf dem Boden der Anthroposophie. Wenn man diese und zahllose andere Veröffentlichungen auf sich wirken lässt, muss man sagen: Die Anthroposophie hat heute überhaupt keinen Boden, weil niemand ihn betritt!

Unwahrhaftigkeit und Totschlagargument „Karma“

„Wer Judith von Halle wirklich persönlich kennt, kann die ... Anspruchs­haltung (an der Sie sogar das ‚wirkliche Problem‘ um Judith von Halle festma­chen) bei ihr nicht bestätigen.“ – nun, zweifellos verhalten sich Menschen im Privatleben und gegenüber persönlichen Bekannten und Freunden ganz anders als sonst! Doch die gemeinte Anspruchshaltung hat Prokofieff ja durch jenes Zitat nachgewiesen, sie zeigt sich ebenso in ihren Büchern und offenbar auch in ihren Vorträgen, wenn man sich nicht durch positive Vorurteile von vornherein blind für diesen Aspekt macht. Man muss nicht einmal die Frage erörtern, ob sie unmittelbar persönliches Geltungsstreben zeigt, der ungeheuerlichste Anspruch liegt doch darin, dass sie behauptet (hat), durch sie spreche der Christus selbst – und es würde bereits reichen, wenn sie nur behauptet, dass sie die Wahrheit schaut und sagt! Es ist ein falscher Anspruch, der zurückgewiesen werden muss. (Dass man das Unwahre ihrer Darstellungen auch im einzelnen nachweisen kann, hat die Anthroposophin Mieke Mosmuller gezeigt).

Völlig tragisch-komisch wird es, wenn Rapp fragt: „Warum ich Ihnen [Prokofieff] das alles so offen zu sagen wage?“ – Warum braucht man für Offenheit Mut? Nun, man braucht ihn sehr wohl, muss ihn aber – wenn es einem um die Anthroposophie geht – aus sich heraus schöpfen und nicht aus einer äußeren Begründung: „Weil ich weiß, dass Sie selbst jeden (falschen) Anspruch auf Ihre Person entschieden von sich weisen.“ Heißt das, wenn Prokofieff mit entsprechendem Anspruch aufträte, hätte Rapp den Brief nicht gewagt? Das ist doch der Offenbarungseid gegenüber jeglicher Wahrhaftigkeit! – Und wie steht  es mit dem Wahrheitsgehalt seiner Aussage? Hat Prokofieff tatsächlich schon (?) vor fast 30 Jahren (falsche) Ansprüche von sich gewiesen? In der Art, wie er schreibt, liegt das vollkommene Gegenteil. Sein ganzer Stil spricht davon, dass er die Fülle der Wahrheit „hat“. Ob er dies nun „im Dienste der Anthroposophie“ tut oder auch aus ggf. unerkannten persönlichen Ambitionen, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Entscheidend ist der Gestus an sich, verbunden mit der Tatsache, dass er eine Fülle von Unwahrheiten offenbart. (In diesem Zusammenhang ist Rapps Fußnote sehr aufschlussreich, die im nachhinein zeigt, wie außerordentlich umstritten sein erstes Buch „intern“ offenbar war – ein Buch, das man tatsächlich scharf kritisieren muss, wie es I. Gordienko 1998 getan hat).

Und wiederum entzieht Rapp am Ende alle weiteren Gegenargumenten durch den Hinweis auf das Karma den Boden: Karma „schließt ein, nicht aus“, Karma hat „uns zusammengeführt“ und „diese Möglichkeit zur allgemein-menschlichen Zusammenarbeit ... ist die Wirklichkeit unserer Anthroposophischen Gesellschaft“. – Hier wird jede Urteilsfähigkeit geknebelt... Da könnte man doch tatsächlich gleich auch Ken Wilber einladen, sein Institut auf dem Dornacher Hügel zu eröffnen! Denn sicher hätte Rudolf Steiner auch dessen „individuelle Bemühung“ gefördert? Nein! Rudolf Steiner hätte in der rechten Deutlichkeit darauf hingewiesen, wo man sich zu dem wahren Geistesweg im Widerspruch befindet, und er hat Irrtümer, Unwahrhaftigkeiten und anderes mehr selbst bei seinen Mitarbeitern scharf kritisiert, wenn es nötig war. Und natürlich war dies dann genauso (karmische!) Förderung wie alles andere, was er tat.

Nichts sollte davon ablenken, dass es in einer anthroposophischen Bewegung um Anthroposophie geht – dazu müsste man sich aber immer wieder (oder überhaupt erst einmal) klarmachen, was Geisteswissenschaft überhaupt ist!

Was Prokofieff tut, was Judith von Halle tut und was Herr Rapp tut, hat damit gleichermaßen nichts zu tun.