Judith von Halle und der Kontext

Im „Goetheanum“ vom 27.2.2009 äußerte sich nun Judith von Halle selbst zu Prokofieffs Buch „Das Mysterium der Auferstehung...“ und seinen offenen Brief an D. Rapp. - Auch ihr Text enthält wieder eine Fülle von leeren Behauptungen und Verdrehungen, die das Wesen der Geisteswissenschaft hinter undurchdringlichem Nebel verbergen.


Inhalt
Originaltext (Judith von Halle)
Ärzte, Klerus und der Kontext...
Die Philosophie der Freiheit – eine Hohlformel?
Furchtbare Geistlosigkeit und Irrtümer
Entweder – oder
Stigmatisation als „Beweis an sich“
Anthroposophie und der lebendige Christus


Originaltext (Judith von Halle)

Judith von Halle schreibt unter anderem:

Meines Erachtens muss man sich den Vorwurf der Unehr­lichkeit schon gefallen lassen, wenn man ein Buch herausbringt, in dem zwar vor dem „Ende der Anthro­posophie als Geisteswissenschaft“ ge­warnt wird, falls sich „solch somnam­bule ‚Forschungsmethoden‘“ wie die der Anna Katharina Emmerich „in ihr breit machen würden“, sich die Anthroposo­phie jedoch durch Anna Katharina Em­merich bislang – soweit bekannt – kei­ner existenziellen oder sonst wie gearteten Bedrohung ausgesetzt sah, aber den Namen derjenigen Person un­benannt lässt, der man diese Bedrohung zuschreibt. [...]
Des Weiteren muss – wenn gesagt wird, „aus diesem Grund wollte ich Ju­dith von Halle nicht direkt einbeziehen und die ganze Frage auf eine höhere, überpersönliche Ebene heben“ – die Frage erlaubt sein: Wie kann man eine „höhere Ebene“ erreichen, wenn man das eigentliche Objekt einer geisteswis­senschaftlichen Darstellung „nicht di­rekt“ einbezieht? [...] Denn die Fülle verfügbarer wissen­schaftlicher Ergebnisse sowohl der ärzt­lichen wie auch der klerikalen Augen­zeugen der historischen Stigmatisierten ist von Prokofieff tatsächlich gar nicht berücksichtigt worden, weswegen seine weiteren Analysen in weiten Teilen an der Sache vorbeigehen.

Ähnlich problembehaftet zeigt sich der Versuch, die gemeinte Person – Ju­dith von Halle – als Bedrohung für die Anthroposophie glaubhaft zu machen, während der soziale Kontext, in dem sich diese Person mit ihrer Arbeit befin­det – nämlich die Anthroposophie be­ziehungsweise die Anthroposophische Gesellschaft – nicht berücksichtigt wird. Es ist ja nie behauptet worden, dass es sich bei den sogenannten (von Prokofieff leider falsch verstandenen) Zeitreisen um eine ‚Forschungsmethode‘ handelt. Im Sinne der ‚Philosophie der Freiheit‘ können die Erlebnisse der Zeitenwende­-Ereignisse als reine Wahrnehmung des Beobachtungsinhaltes begriffen werden. Hingegen ist in allen Geleitworten mei­ner Bücher der anthroposophische Zu­gang, die geisteswissenschaftliche For­schungsmethode klar dargelegt worden, die zu einer erkenntnismäßigen Durch­dringung der Wahrnehmungsinhalte führt. [...]
Vor diesem Hintergrund wird es schwierig, sich mit einer Darstellung zu befreunden, von der wir nun durch den ‚offenen Brief‘ zwar wissen, dass sie „die eigene Überzeugung“ Sergej Prokofieffs repräsentiert, welche er niemandem auf­zwingen wolle, jedoch den Titel „Das Mysterium der Auferstehung im Lichte der Anthroposophie“ führt – und nicht „Das Mysterium der Auferstehung im Lichte der Überzeugung Sergej Proko­fieffs“.
Insofern würde man sich über die nun von Sergej Prokofieff für sich selbst eingeforderte „Meinungsfreiheit“ auch für die Leser seines Buches freuen. Das Buch spricht allerdings jedem Leser, der den Beiträgen Judith von Halles etwas abgewinnen kann, die Berechtigung, ein Teil der Anthroposophischen Ge­sellschaft zu sein, kategorisch – und zwar ex cathedra – ab. Wie soll man sonst solche Worte verstehen wie, es solle damit gezeigt werden, „welche geistigen Wege zur Anthroposophie führen und welche nicht“ [...]

Eine letzte Bemerkung soll zu dem aus einem vertraulichen Brief vom 23. September 2004 an die Vorstände der AAG entnommenen Zitat gemacht wer­den, das Sergej Prokofieff in seinem ‚of­fenen Brief‘ anführt. [...] Inhalt meiner persönlichen Erklärung war, darauf hinzuweisen, dass das eigentlich Be­deutsame an diesem Phänomen doch nicht der Fokus auf eine bestimmte Person und ihr Schicksal ist, sondern das Auftreten die­ses Phänomens innerhalb der Anthroposo­phischen Gesellschaft. So kommt es dabei – vom Blickwinkel der sozialen Gemeinschaft aus – nur darauf an, dass die geistige Welt ein solches Phänomen in unsere Gemeinschaft hineingestellt hat. An wem konkret sich die­ses vollzieht, ist dafür unbedeutend. Dass diese Tat der geistigen Welt nicht einen Akt der Feindseligkeit darstellt, sondern vielmehr eine Chance, sollte wohl anzunehmen sein.*
Immerfort wird in unseren Kreisen mit den blumigen Worten eingefordert, eine Verbindung zu Christus einzugehen. Wenn jemand es dann aber wagt, zu sagen, dass diese Theorien tatsächlich Praxis werden können, dann begegnet man ihm mit den Worten: „In der ganzen Geistesgeschichte haben keine Heiligen, Stigmatisierten oder Päpste derartige Ansprüche geltend ge­macht.“ Mir scheint hingegen, dass es „in der ganzen Geistesgeschichte“ niemals vorge­kommen ist, dass man das Auftreten der Wundmale Christi und die sie begleitenden Zeugnisse der historischen Ereignisse des Mysteriums von Golgatha als eindeutigen Beweis für einen Weg ansieht, der von Chris­tus fortführt und das Ende der Anthroposo­phie bedeutet, wie Prokofieff schreibt. Das scheint ein Erkenntnis‑Novum zu sein, das Mitgliedern unserer anthroposophischen Ge­meinschaft vorbehalten ist.

* Siehe Ita Wegman: ‚Wie bewertet geistes­wissenschaftlich orientierte Medizin Erscheinungen wie die in Konnersreuth‘: „[Rudolf Steiner] wies darauf hin, dass das Wesentliche eines solchen rätselhaften Geschehens gera­de darin liege, dass alle Gemüter dadurch ge­zwungen, waren, sich mit einem solchen durchaus ungewöhnlichen Ereignis zu be­schäftigen, das aus dem Alltagsleben nicht zu verstehen war [...] Und so treten von Zeit zu Zeit solche wie Wunder wirkende Geschehnis­se auf, die man nur durch ein Wissen von der geistigen Welt verstehen kann und die, weil sie so unergründlich sind, alle Menschen beschäf­tigen und die Menschen wieder an die Realität des Geistigen erinnern.“

Ärzte, Klerus und der Kontext...

Judith von Halle entlarvt also ebenfalls u.a. die Unwahrhaftigkeit Prokofieffs [siehe meine Buchkritik vom 30.01.09], in seinem Anhang ihren Namen überhaupt nicht zu nennen, und die skandalöse Tatsache, dass Prokofieff von bloßen „Überzeugungen“, ja schließlich nur noch seiner eigenen „Meinung“ spricht.

Im übrigen versucht Judith von Halle wie zuvor schon D. Rapp, ihre Erlebnisse und ihre Arbeit auf den Boden der Anthroposophie zu stellen. Zunächst führt sie „ärztliche und klerikale Augenzeugen der historischen Stigmatisierten“ an – um was auch immer zu beweisen? Es reicht ihr, daraufhin zu behaupten, Prokofieffs weitere Analysen gingen in weiten Teilen an der Sache vorbei... Dann wirft sie Prokofieff vor, den sozialen Kontext ihrer Person und Arbeit nicht zu berücksichtigen, nämlich die Anthroposophie und die Anthroposophische Gesellschaft. Ihr Argument ist also: Indem sie behauptet, sie betreibe Geisteswissenschaft, und indem sie sich innerhalb der Gesellschaft bewegt, beweise schon dieser Kontext, dass es sich auch wirklich um Geisteswissenschaft handelt... Genauso kann aber auch jeder Betrüger argumentieren, der sich in irgendeine Bewegung einschleicht!

Es sollte doch unmittelbar einleuchten, dass zwischen den rein äußeren Fakten und der Wahrheit der Dinge noch ein Unterschied bestehen kann, der durch noch so viel Kontextgebundenheit nicht wegbewiesen werden kann! Und tatsächlich ist ja heute das durchgehende Problem, dass jeder sich Anthroposoph nennt und zu wissen glaubt, was Anthroposophie sei, obwohl dies überhaupt nicht der Fall ist. Aufgrund dieser allgemeinen Blindheit wird man wohl auch im Fall Judith von Halle sehr schnell das Äußere für das Innere, den Kontext für das Wesen nehmen und ihre faktische Tätigkeit innerhalb der Gesellschaft und am Fuße des Dornacher Hügel als Beleg für das Anthroposophische empfinden...

Die Philosophie der Freiheit – eine Hohlformel?

Und dann wird es ganz spannend, denn nun kommt sie zu der entscheidenden „Begründung“, warum man denn bei ihrer Arbeit – abgesehen vom Kontext – angeblich von geisteswissenschaftlicher Forschungsmethode sprechen könne: Sie habe nie behauptet, ihre „Zeitreisen“ würden dazu gehören. Sondern es gehe um die „erkenntnismäßige Durchdringung“ der dabei gemachten Erlebnisse, ganz „im Sinne der ‚Philosophie der Freiheit‘“.

Was Judith von Halle hier sagt – die lang erwartete Begründung –, ist jedoch absolut inhaltslos! Natürlich beschreibt Steiner, wie Erkenntnis aus der Verbindung von Wahrnehmung und Begriff besteht. Die Frage ist dann nur: Wie kann man sich überhaupt irren? Und warum spricht Rudolf Steiner gerade in Zusammenhang mit der Geistesforschung immer und immer wieder von den größten Irrtumsmöglichkeiten? Weil der Erkenntnisprozess aus den verschiedensten Gründen scheitern kann!

Schon die Wahrnehmung kann auf einer Täuschung beruhen, ein Begriff kann unzulänglich oder vollkommen falsch gebildet sein – und auch die Synthese kann völlig in die Irre gehen.

Hier hat man die Realität des Erkenntnisprozesses und der Fülle möglicher Irrtümer – und nicht, indem man behauptet, man würde Erlebnisse „erkenntnismäßig durchdringen“, wodurch die Erkenntnis einfach nur herbeigeredet wird!

Was ist denn mit diesem Wort gesagt? Was würde denn „erkenntnismäßig durchdringen“ heißen? Es würde doch darum gehen, dass zu den Erlebnissen die richtigen Begriffe gefunden werden. Dazu müsste man aber erst einmal den Unterschied zwischen Worten und Begriffen erfasst haben! Bei Judith von Halle findet man lauter Unbegriffe. Sie hantiert mit bloßen Worten, die so geistlos sind, dass es einen immer wieder erschüttert. Man findet Seite für Seite Schilderungen, die sich schlicht und einfach nicht denken lassen.

Furchtbare Geistlosigkeit und Irrtümer

Es gibt eine wahrhaftige Anthroposophin, die sich die Mühe gemacht hat, zahlreiche Beispiele dieser furchtbaren Sinn- und Geistlosigkeit zu untersuchen und aufzudecken: Mieke Mosmuller zeigt in ihrem Buch „Stigmata und Geist-Erkenntnis“ gerade im erschütternden Kontrast, was wahre Geisteswissenschaft ist und was Judith von Halle daraus für eine furchtbare Karikatur macht. Und diese Karikatur geht eben bis dahin, wo sie ihre eigenen „Erkenntnismethoden“ beschreibt. Judith von Halle redet von einem Herausheben des Ich aus dem Astralleib, was natürlich tief esoterisch klingt, aber der reinste Unsinn ist, denn der wirkliche Vorgang realer Geisteswissenschaft stellt sich gerade umgekehrt dar! Um dies vollkommen klar erkennen zu können, muss man die Erfahrung des realen, rein geistigen Erlebens selbst gemacht haben. Die erhellende (für jeden nachvollziehbare, verständliche) Schilderung dieses Vorganges und der Nachweis, dass Judith von Halle die entsprechenden Ausführungen Rudolf Steiners völlig falsch verstanden hat, bildet einen der vielen herausragenden Abschnitte in dem erwähnten Buch von Mieke Mosmuller.

Aber Judith von Halle unterliegt nicht nur auf Seite der Begriffe furchtbarsten Irrtümern – weil sie bis zur Sphäre realer Begriffe überhaupt nicht vordringt –, sondern auch auf der Seite der Wahrnehmungen. Geisteswissenschaft besteht eben darin, dass man sich auch über die Wahrnehmungen klarste Rechenschaft ablegen kann! In der unmittelbar gegebenen Sinneswelt gilt: „Die Sinne trügen nicht“ (sofern man nur nicht sein Urteil hineinmischen würde, was man natürlich im Grunde immer tut) und das Begriffliche wird unmittelbar durch die Sinnesrealität korrigiert. Wenn ich einen Hund in der Dämmerung für eine Katze halte, werde ich meinen Irrtum im nächsten Augenblick bemerken. Im Geistigen muss ich, um die Wahrheit meiner Wahrnehmungen zu gewährleisten, eine unendlich viel größere, von allen Irrtumsmöglichkeiten gereinigte innere Aktivität aufbringen!

Was nun die Wahrnehmungen Judith von Halles angeht, so unterliegen sie von vornherein und unwiderruflich größten Irrtümern. Sie sind als „Erlebnisse der Zeitenwende“ wie Sinneswahrnehmungen und doch ganz anders, weil Judith von Halle in ein Geschehen hineinversetzt ist, das nicht die irdisch-sinnliche Gegenwart ist. Dass Judith von Halle diese Geschehnisse ebenso „sinnlich“ erlebt, ist ein Beweis dafür, dass ihre physisch-sinnliche Leiblichkeit an diesen Wahrnehmungen beteiligt ist. Diese aber ist die Quelle größter Irrtümer! Rudolf Steiner schildert immer wieder, wie Geistesforschung sich aus eben diesem Grunde von der physischen Leiblichkeit losreißen muss – und natürlich nie zu sinnlichen „Wahrnehmungen“, sondern zu rein geistigen Erlebnissen kommt!

Entweder – oder

Wir sind hier an der unüberbrückbaren Kluft angelangt, die sich zwischen Judith von Halles Erlebnissen und der realen Geisteswissenschaft auftut. Entweder man nimmt Rudolf Steiner ernst oder Judith von Halle. Erlebnisse, die ganz und gar sinnlich oder auch nur sinnlich tingiert daherkommen, sind immer vom Leibe oder leiblichen Reminiszenzen gefärbt. Damit gehen Illusionen und Täuschungen aller Art einher. Die Erlebnisse einer Zeitreise können von Anfang bis Ende völlige Täuschung sein! – Judith von Halle dagegen behauptet gerade, dass sie von dem Auferstehungsleib, also von einem völlig gereinigten Geistleib durchdrungen sei und dass gerade dieser ihr ihre Wahrnehmungen ermögliche...

Man muss sich also entscheiden – und wird sich entscheiden können, wenn man sich nur klarzumachen vermag, dass ein Geistleib keine sinnlichen Wahrnehmungen hat, sondern dass die Sinneswahrnehmung eben überhaupt erst durch die Korrumpierung des Geistleibes in die sinnlich-materielle Sphäre hinein auftritt. Auch diese Tatsachen hat Mieke Mosmuller so klar wie nur möglich nachgewiesen (siehe dazu auch ihr Buch „Der Heilige Gral“). Auch hier arbeitet Judith von Halle also mit lauter Unbegriffen und vermischt Geistiges und Materiell-Sinnliches bis zur Unkenntlichkeit.

Was die Erkenntnisfrage angeht, muss also mit größter Eindeutigkeit festgestellt werden, dass Judith von Halle durch ihre Schauungen zu wahrer Erkenntnis prinzipiell nicht kommen kann, weil – im Sinne der Philosophie der Freiheit! – sämtliche Voraussetzungen dafür fehlen. Bei ihrer Formulierung „erkenntnismäßige Durchdringung“ handelt es sich um bloße Worte, die voll und ganz Teil der Täuschung sind. Die erste wahre Erkenntnis wäre, dass diese Schauungen nicht zur Wahrheit führen können!

Stigmatisation als „Beweis an sich“

Stattdessen weist Judith von Halle wiederum auf das Phänomen der Stigmatisation hin und betont, es komme darauf an, „dass die geistige Welt ein solches Phänomen in unsere Gemeinschaft hineingestellt hat“. Hiermit ist wiederum überhaupt nichts gesagt, denn es kann sich eben auch um die größte Täuschung und Prüfung handeln. Judith von Halle fährt jedoch fort: „Dass diese Tat der geistigen Welt nicht einen Akt der Feindseligkeit darstellt ... sollte wohl anzunehmen sein.“ Schon an diesem einzigen Satz zeigt sich die Qualität von Judith von Halles Wortwahl. Würde ein vom Auferstehungsleib Christi durchdrungener Mensch so sprechen? Geht es also doch um bloße „Annahmen“? Oder ist hier Ironie im Spiel? Und was soll das Gerede von einem „Akt der Feindseligkeit“? Die guten geistigen Mächte sind aus Prinzip nicht feindselig, und die Widersachermächte wirken ebenfalls nicht „feindselig“, aber täuschend, hemmend, irreführend...

Ita Wegmans Worte über Therese von Konnersreuth werden von Judith von Halle völlig sinnentstellt für ihre Zwecke eingespannt. Natürlich sind Erscheinungen wie Stigmata Geschehnisse, die „wie Wunder wirken“ und die Menschen an die Realität des Geistigen erinnern. Das tun Somnambulismus und Besessenheit aber ebenso! Die Frage ist immer, wie solche Erscheinungen zu verstehen sind und welche Kräfte sich darin aussprechen. Selbst in den zwei Sätzen, die Judith von Halle zitiert, liegt noch die Wahrheit: Rudolf Steiner wies darauf hin, „dass das Wesentliche ... gerade darin liege, dass alle Gemüter dadurch gezwungen waren, sich mit einem solchen durchaus ungewöhnlichen Ereignis zu beschäftigen“! Das Wesentliche liegt also in dem durchaus Ungewöhnlichen – nicht mehr! Es liegt in dem Hinweis auf die Realität einer geistigen Welt überhaupt, mit ihren guten und weniger guten Kräften. Es liegt nicht in irgendeinem Hinweis oder gar Beweis der Existenz Christi oder gar einer „Durchdringung mit dem Auferstehungsleib“!

Carl Unger hat sich in dem von Prokofieff zitierten Aufsatz auch menschenkundlich sehr deutlich zu Therese von Konnersreuth geäußert – und Rudolf Steiner hat Katharina von Emmerich nun einmal als (außerordentlich gute) Somnambule bezeichnet. Er hat immer betont, dass etwas derartiges mit Geisteswissenschaft nichts zu tun hat – und hätte sich um so schärfer dagegen gewandt, wenn man es durch nachträgliche „erkenntnismäßige Durchdringung“ zur „Geisteswissenschaft“ hätte machen wollen!

Die Schauungen dieser beiden Frauen haben durchaus etwas Heiliges. Dies liegt aber einzig und allein an ihrer außerordentlichen Demut und Frömmigkeit, verbunden mit ihrer reinen Ungebildetheit. Therese Neumann, eine Bauernmagd, war vor ihrer Stigmatisierung mehrere Jahre blind und bettlägerig. Auch Anna Katharina Emmerich war ein Kind armer Dorfleute, zunächst Magd, später Nonne und ebenfalls oft und lange sehr krank. Gerade diese Umstände waren vermutlich die „Voraussetzungen“ eines solchen „wie ein Wunder“ wirkenden Geschehens, das diese Frauen erfasste und ihrer Umgebung die Realität des Geistigen offenbarte.

Anthroposophie und der lebendige Christus

In einer anthroposophischen Bewegung wäre eine solche Offenbarung völlig unnötig, ja widersinnig und – wie man sieht – ein ungeheures Hindernis. Denn die Aufgabe der Anthroposophen, das Wesen der Anthroposophie, besteht darin, sich aus eigener Aktivität zum Erleben der geistigen Welt zu erheben. Die äußerliche, extrem suggestiv wirkende Offenbarung eines Geistigen steht dazu in völligem Widerspruch. Und Anthroposophie besteht auch nicht darin, sich Schilderungen der Herstellung der Kreuzesnägel und Schlimmeres anzuhören! Auch nicht darin, immer neue (angebliche) sinnliche Details der Ereignisse der Zeitenwende zu erfahren. Sondern darin, sich zu einem Erleben des heute lebendigen und gegenwärtigen Auferstandenen zu erheben! Dies geht nur durch ernsthafteste Geistesschulung – und dies meint wirklich Geistesschulung.

Judith von Halle kritisiert die blumigen Forderungen, eine Verbindung zu Christus einzugehen (und dies mit gewissem Recht, denn in der heutigen Anthroposophie bleibt es bei wohlklingenden, gruppenseelenhaften Worten und Illusionen) und sagt dann im Grunde, dass an ihr „diese Theorien tatsächlich Praxis“ geworden seien.

Immer wieder kommt Judith von Halle auf die reine Behauptung zurück, Stigmata und „Zeitreisen“ zur Zeitenwende würden die lebendige Verbindung mit Christus belegen. Doch selbst die katholische Kirche war gegenüber dem Auftreten von Stigmata durchaus skeptisch (und dies sicher nicht nur aus Machtstreben!). Rudolf Steiner hat sich in der von Prokofieff zur Genüge zitierten Weise geäußert. Wären Stigmata, wäre Judith von Halle wirklich ein Beweis für die Verbindung mit Christus, so hätte Rudolf Steiner als Ziel der Anthroposophie doch die Stigmatisation bezeichnen müssen?! Stattdessen betonte er immer wieder, dass die Verbindung mit Christus im Geistigen gesucht werden muss, im Losreißen des Erlebens vom Leibe; dass der Auferstandene heute in voller Realität im Ätherischen zu finden ist – nicht in Form sinnlicher Erlebnisse auf Zeitreisen in die Vergangenheit!

Ohne eine lebendige Anthroposophie steht der Suchende heute jedoch zwischen Skylla und Charybdis: Zwischen Illusion und Abstraktion, zwischen Judith von Halle und dem Leichnam der Anthroposophie.

Wer all diese Ausführungen noch immer nicht als klare Urteilsgrundlagen empfinden kann, möge wirklich jene zwei Bücher von Mieke Mosmuller zur Hand nehmen und lesen: „Stigmata und Geist-Erkenntnis“ – die Widerlegung Judith von Halles aus wahrer Geisteswissenschaft heraus – und „Der Heilige Gral“ – mit einer Schilderung, wie der lebendige Christus heute im Geistigen erfahren werden kann, wenn man den von Rudolf Steiner gegebenen Schulungsweg wirklich beschreitet.