16.03.2009

„Goetheanum“ beendet Diskussion um Judith von Halle

Im Goetheanum vom 13.3.2009 gab die Redaktion bekannt, dass der Austausch über Prokofieffs Buch „Das Mysterium der Auferstehung...“ und Judith von Halle zunächst beendet wird. Auch dieser Beitrag zeigt wieder, dass die entscheidende Frage ängstlich vermieden, ja nicht einmal erkannt wird. Phrasen, Orientierungslosigkeit und Scheinfragen werden also auch in Zukunft das Feld bestimmen.


Inhalt
Redaktionsbeitrag vom 13.3.2009
Mein Leserbrief vom 15.2.2009
Mein Leserbrief vom 23.2.2009
Mein Leserbrief vom 2.3.2009
Phrasen statt Erkenntnisfragen
„Schatten“ und weitere Unklarheiten
Die nicht gestellte Frage 


Redaktionsbeitrag vom 13.3.2009

Unter dem Titel „Innehalten“ schreibt Sebastian Jüngel:

Seit Erscheinen der beiden Besprechungen des Buches ‚Das Mysterium der Auferstehung im Lichte der Anthroposophie‘ von Sergej Prokofieff im ‚Goetheanum‘ Nr. 6/2009 und der Repliken haben uns dazu an die 30 Zuschritten von 25 Menschen erreicht. Wir danken allen Autorinnen und Autoren der kurzen oder längeren Leserbriefe und der Aufsätze für ihre engagierte Beteiligung und ihren vehementen Einsatz für das Geltenlassen des anderen. Wir lesen daraus, dass das Interesse an einem Austausch über spirituelle Erfahrungen, an einem verantwortungsvollen Umgang damit und an der sozialen Einbettung dieses Austauschs sehr groß ist.

Anliegen und ihre Schatten
Beim Nachwirkenlassen all dieser Zuschriften fiel uns auf, dass so etwas wie drei Kernanliegen aufscheinen: das Angebot, sich mit Fragen des Mysteriums von Golgatha auseinanderzusetzen; die Sorge, dass eine solche Auseinandersetzung unfrei ist, wenn Inhalte qua – erkenntnismäßig nicht hinterfragbarer – Autorität aufgenommen würden; der Appell, dass diese Auseinandersetzung ohne Ausschluss eines Beteiligten stattfindet, selbst im Fall des Vorliegens eines Fehlers oder Irrtums. Im Rahmen eines Diskurses hielten es diese Standpunkte nebeneinander aus; sie widersprechen sich nicht. Sie berühren allerdings verschiedene Ebenen – eine Erkenntnisfrage, eine Frage des Fühlens und eine des Wollens – und unterliegen daher je eigenen Verständigungsbedingungen.
Hinzu kommt, was man an diesen Anliegen jeweils erlebt: Ist es nicht der ideelle Gehalt, sondern sein Schatten, wirkt ein Angebot als Anmaßung, eine Sorge als Verdikt, ein Appell als Unterstellung. Diese Ambivalenz ist eine typische Schwellensituation! Nun ist jedes Schwellenerlebnis ein höchst individuelles. In ihm muss ich mich selbst zurechtfinden. Richte ich dabei meinen inneren Kompass am ideellen Kern oder an seinem Schatten aus? Sehe ich das Gute selbst im Schatten, oder bestimmt der Aspekt des Schattens meine Einschätzung?
Auch wir als Redaktion stehen an einer Schwelle, an der wir eine Entscheidung treffen müssen, nämlich über den Umgang mit all diesen Zuschriften.

Suche nach gutem Weg
Unser innerer Kompass ist dabei der Blick auf den Ausgangspunkt, das Verständnis des Mysteriums von Golgatha. Wir möchten einen Raum schaffen, in dem man würdig gerade über dieses Thema sprechen kann. Wir fragten uns: Kommen wir auf der Erkenntnisseite oder im Sozialen weiter, wenn wir die weiteren Zuschriften abdrucken? Der Ausgangspunkt des Diskurses war die Erkenntnis des Christus; die meisten der Zuschriften sind persönliche Einschätzungen des bislang dokumentierten Diskurses, andere vermitteln. Für das Soziale ist solch ein Austausch wichtig, damit man die verschiedenen Gesichtspunkte für die eigene Einschätzung berücksichtigen kann. Solch ein Austausch berührt jedoch in der Leserschaft recht unterschiedliche Schmerzgrenzen und wird entsprechend bewertet: Die einen begrüßen, dass die Debatte mit offenem Visier und deutlichen Worten geführt wird, und empfinden sie aufklärend; für andere wirken die Formulierungen oder der Gesamtduktus von unsachlich, ja verletzend, bis zu letztlich unwesentlich.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen haben wir uns entschieden, bezüglich des Forums Stigmatisation erst einmal innezuhalten. Alles, was uns aber zum Thema erreicht, werden wir einbeziehen in unsere weiteren Überlegungen, wie wir den Themenkomplex ‚Übersinnliche Erfahrung‘ und ‚Autorität bei der Darstellung dieser Erfahrung‘ neu aufgreifen können.
Sebastian Jüngel


Im folgenden gebe ich die drei Leserbriefe wieder, die ich unter dem Titel "Geistloser Streit um Judith von Halle" an die Redaktion geschickt hatte. (Ausführliche Aufsätze dazu siehe „Geistloser Streit um Prokofieff und Judith von Halle“, „Prokofieff und Rapp tauschen Meinungen aus“ und „Judith von Halle und der Kontext“.)

Leserbrief vom 15.2.2009

Die beiden Aufsätze von Heinz Zimmermann und Dietrich Rapp kommen im Grunde zu entgegengesetzten Resultaten, was einmal mehr zeigt, dass heute in der „Anthroposophie“ Meinungen und Vorstellungen herrschen, die natürlich in jede beliebige Richtung gehen können... Leider kann in einem Leserbrief nur das Allerwichtigste in Stichworten kurz angedeutet werden!

Zimmermann macht Prokofieffs Unwahrhaftigkeit mit, Judith von Halle in seinem Stigmata-Anhang nicht einmal zu erwähnen, und verteidigt dessen entwürdigende „Behandlung“ des Franziskus, ohne zu erkennen, was es heißt, ein Abbild des Astralleibes des Jesus von Nazareth zu tragen! Es ist eine Gnade der geistigen Welten und hat nichts mit dem christlichen Einweihungsweg zu tun (s. GA 109, S. 119ff) – dies ist der Grundfehler von Prokofieffs Gedankengang, der versucht, auch anhand der Stigmata des Franziskus die angebliche Dekadenz des christlichen Einweihungsweges zu beweisen!

Rapp wiederum deckt die obige Unwahrhaftigkeit und die theoretische Abstraktheit von Prokofieffs „kompendialem Stil“ auf – jedoch nur, um im Anschluss mit reinen Behauptungen und suggestiven Irreführungen Judith von Halle wieder zur Anthroposophin zu erklären.

Die Frage ist, was Geisteswissenschaft ist und was nicht – und Rapp selbst bestätigt, dass ein sinnlichkeitsfreies Denken dafür notwendig ist. Dies allein müsste doch schon ausreichen, um zu sehen, dass sinnliche Schauungen (die einen überdies nicht frei lassen, sondern einfach auftreten!) etwas völlig anderes sind. Rapp will den Auferstehungsleib mit Sinnlichkeit in Verbindung bringen und zieht dazu sogar das Blut Jesu Christi heran – verdunkelt damit aber nur das Wesen des Geistigen, das zwar das Physische umfasst, nicht aber das Sinnliche. Und wo er schließlich auf die „außerordentlichen Schicksale“ stigmatisierter Menschen hinweist, suggeriert er eine rechtmäßige, weit fortgeschrittene Entwicklung, die zur Erkenntnisfrage nicht das Geringste beiträgt.

Leserbrief vom 23.2.2009

Es ist doch ungeheuerlich: Nachdem bereits die beiden konträren Rezensionen von Zimmermann und Rapp zeigten, dass es in der heutigen Anthroposophie nur um Meinungen und Vorstellungen geht, wird dies von Prokofieff nun ausdrücklich bestätigt, der seine Meinung „niemandem aufzwingt“! Beide Kontrahenten verirren sich in eine Toleranz-Terminologie (und Rapp darüber hinaus in das inhaltlich nichtssagende „Karma hat uns zusammengeführt“), während es doch einzig und allein um die entscheidende Frage geht, ob Judith von Halles Schauungen mit geisteswissenschaftlicher Methode gewonnen wurden oder nicht. Diese Frage ist eindeutig zu verneinen, denn sie hat diese Schauungen einfach. Damit sind sie irrtumsbelastet, und es fehlt jede Möglichkeit, Täuschung und Wahrheit auseinander zu halten. Ihre nachträgliche Durchdringung mit anthroposophischen Begriffen ändert an dieser Tatsache nicht das Geringste. Und wenn Judith von Halle sagt, der Christus selbst spreche durch sie, beweist dies unmittelbar, dass es nicht so ist, denn der Christus lässt frei!

Weder Rapp noch Prokofieff zeigen irgendeine reale Verbindung mit der Geisteswissenschaft: Denn sonst wären eben alle „Argumente“ eins mit dem „Anliegen“ selbst und ebenso von Herzblut durchdrungen (was Rapp verneint) – und man bräuchte auch nicht versuchen, „Überzeugungen aus der Geisteswissenschaft heraus zu belegen“ (Prokofieff), sondern dann wären erstere einzig und allein deren Frucht und ebenfalls eins mit ihr.

Und was in der ganzen Diskussion überhaupt nicht zur Sprache kam, ist das unsägliche Vorgehen Prokofieffs: Um einen gleichsam universellen Beweis für die Dekadenz von Stigmata zu konstruieren, zieht er eine hohe Individualität wie Franz von Assisi (der ja nicht mehr lebt...) sowie den gesamten christlichen Einweihungsweg in die angebliche Dekadenz, ohne zu bemerken, dass Franziskus als aus der geistigen Welt begnadeter Träger eines Abbildes des Astralleibes Jesu von Nazareth den Einweihungsweg gar nicht brauchte, also keinerlei „Beweis“ für irgendeine Dekadenz sein kann!

Leserbrief vom 2.3.2009

Man könnte sagen: In der ganzen bisherigen Diskussion um Judith von Halle und den Anhang von Prokofieffs neuem Buch haben alle Beteiligten bewiesen, dass sie vom Wesen der Geisteswissenschaft durch einen Abgrund getrennt sind.

Was in der ganzen Diskussion noch überhaupt nicht zur Sprache kam, ist das unsägliche Vorgehen Prokofieffs: Um einen Beweis für die Dekadenz von Stigmata zu konstruieren, zieht er eine hohe Individualität wie Franz von Assisi (der ja nicht mehr lebt...) sowie den gesamten christlichen Einweihungsweg in die angebliche Dekadenz, ohne zu bemerken, dass Franziskus als aus der geistigen Welt begnadeter Träger eines Abbildes des Astralleibes Jesu von Nazareth den Einweihungsweg gar nicht brauchte, also keinerlei „Beweis“ für irgendeine Dekadenz sein kann!

Judith von Halle wiederum versucht die Stigmata als Beweis für die Verbindung mit Christus hinzustellen. Sie führt verschiedene „Indizien“ an, die nichts besagen, übergeht aber stillschweigend die Tatsache, dass Rudolf Steiner sich nie in dieser Richtung geäußert hat! Er sagte jedoch (laut Ita Wegman, von Halle zitiert sie!), das Wesentliche einer Stigmatisation wie jener von T. von Konnersreuth liege darin, dass sich dadurch alle Gemüter mit einem solchen durchaus ungewöhnlichen Ereignis (und der Realität einer geistigen Welt) beschäftigen müssten – nicht mehr! Von Christus oder gar Auferstehungsleib keine Rede!

Geisteswissenschaftliche Durchdringung?

Ihr „geisteswissenschaftliches“ Vorgehen versucht Judith von Halle über die „Philosophie der Freiheit“ zu beweisen, indem sie ihre Zeitreisen-Erlebnisse als Wahrnehmungen hinstellt, die sie dann „erkenntnismäßig durchdringt“. Dies ist aber eine reine Hohlformel. Mieke Mosmuller hat in „Stigmata und Geist-Erkenntnis“ an vielen Beispielen nachgewiesen, dass Judith von Halle mit rein nominalistischen Unbegriffen hantiert – bis dahin, wo sie ihre angebliche Erkenntnismethode schildert und von einem „Herausheben des Ich aus dem Astralleib“ spricht. Der wirkliche Vorgang übersinnlicher Erkenntnis ist gemäß der (nicht einfachen) Darstellung Rudolf Steiners genau der umgekehrte!

Und die Seite der Wahrnehmung? Geisteswissenschaft besteht darin, dass man sich auch darüber klarste Rechenschaft ablegen kann! Während in der unmittelbar gegebenen Sinneswelt das Begriffliche direkt durch die Realität korrigiert wird, muss im Geistigen eine unendlich viel größere, gereinigte innere Aktivität aufgebracht werden! Judith von Halles Zeitreise-Erlebnisse jedoch sind wie Sinneswahrnehmungen, was beweist, dass ihre physisch-sinnliche Leiblichkeit beteiligt ist – die Quelle größter Irrtümer! Rudolf Steiner schildert immer wieder, wie Geistesforschung sich von der physischen Leiblichkeit losreißen muss – und natürlich nie zu sinnlichen, sondern rein geistigen Erlebnissen kommt!

Entweder – oder

Entweder man nimmt Rudolf Steiner ernst oder Judith von Halle. Sie behauptet gerade, dass sie von dem Auferstehungsleib durchdrungen sei und gerade dieser ihr ihre Wahrnehmungen ermögliche. Ein Geistleib jedoch hat keine sinnlichen Wahrnehmungen – die Sinneswahrnehmung tritt ja überhaupt erst durch die Korrumpierung des Geistleibes in die sinnlich-materielle Sphäre hinein auf!

Recht hat Judith von Halle da, wo sie die „blumigen Forderungen“ kritisiert, „eine Verbindung zu Christus einzugehen“, eine bloße Behauptung dagegen bleibt es, an ihr seien „diese Theorien tatsächlich Praxis“ geworden. Wären Stigmata wirklich ein Beweis für die Verbindung mit Christus, so hätte Rudolf Steiner als Ziel der Anthroposophie die Stigmatisation bezeichnen müssen! Stattdessen betonte er immer wieder, dass die Verbindung mit Christus im Geistigen gesucht werden muss, im Losreißen des Erlebens vom Leibe; dass der Auferstandene heute in voller Realität im Ätherischen zu finden ist – nicht in Form sinnlicher Erlebnisse auf Zeitreisen in die Vergangenheit!

Ohne eine lebendige Anthroposophie steht der Suchende heute zwischen Skylla und Charybdis: Zwischen Illusion und Abstraktion, zwischen Judith von Halle und dem Leichnam der Anthroposophie. Die notwendigen Urteilsgrundlagen findet man jedoch in zwei Büchern der niederländischen Anthroposophin Mieke Mosmuller: „Stigmata und Geist-Erkenntnis“ – die Widerlegung Judith von Halles aus wahrer Geisteswissenschaft heraus – und „Der Heilige Gral“ – mit einer Schilderung, wie der lebendige Christus heute im Geistigen erfahren werden kann, wenn man den von Rudolf Steiner gegebenen Schulungsweg wirklich beschreitet.

 

Phrasen statt Erkenntnisfragen

Die Stellungnahme der „Goetheanum“-Redaktion hat die Diskussion also nun beendet – und damit nach den Beiträgen von Zimmermann, Rapp, Prokofieff und Judith von Halle keinerlei weitere Äußerungen zugelassen. Dabei waren diese Beiträge gerade das Problem!

Offenbar ist die Redaktion weder willens, noch in der Lage, von einem geisteswissenschaftlichen Standpunkt auszugehen. Dieser bestünde darin, das Verhältnis zwischen den Schauungen Judith von Halles (und ihren daran anschließenden Darstellungen) und dem Wesen der Geisteswissenschaft zu untersuchen und beurteilen zu können. Im weiteren wären auch die in den drei „Goetheanum“-Heften erschienenen Beiträge unter demselben Aspekt zu untersuchen!

Dass dies nicht gewollt wird und man offenbar nicht einmal eine Ahnung hat, worauf es dabei ankäme, ist der eigentliche Skandal.

Stattdessen lässt man sich auf Phrasen und auf die Befindlichkeiten der Leserschaft ein. Die Leserbriefe von zwei Dutzend Menschen trugen offenbar das ihre zur Orientierungslosigkeit der Redaktion bei. Untersuchen wir einmal, was die Redaktion aus diesen Zuschriften entnommen hat (aus denen „beim Nachwirkenlassen so etwas wie drei Kernanliegen aufscheinen“):

- das „Interesse an einem Austausch über spirituelle Erfahrungen“; das „Angebot, sich mit Fragen des Mysteriums von Golgatha auseinanderzusetzen“.
- der „verantwortungsvolle Umgang mit spirituellen Erfahrungen“; die „Sorge der Unfreiheit“, wenn Inhalte auf Autorität aufgenommen werden.
- die „soziale Einbettung“ dieses Austausches; der „Appell“, die Auseinandersetzung ohne „Ausschluss eines Beteiligten“ zu führen.

Es ist schlimm, welche Phrasen den Stil solcher Redaktionsbeiträge bilden. Sollte man ein „Interesse an einem Austausch über spirituelle Erfahrungen“ nicht als Grundbedingung einer anthroposophischen Gesellschaft annehmen? Stattdessen wird es gleichsam „einfühlsam“ als Besonderheit hingestellt! Und was ist gemeint mit „Angebot, sich mit Fragen des Mysteriums von Golgatha auseinanderzusetzen“? Furchtbar sind diese Phrasen!

Was liest die Redaktion dann außerdem aus den Zuschriften? Die Sorge der Unfreiheit, wenn Inhalte auf Autorität aufgenommen werden. Dies scheint eine Sorge zu sein, die die Leserschaft sozusagen gegenüber sich selber hat, die also auf ein Problem innerhalb der anthroposophischen Gesellschaft hinweist. Offenbar wird noch immer von vielen vieles auf Autorität hingenommen, obwohl Rudolf Steiner davor unzählige Male gewarnt hat. Man ist einfach nicht weitergekommen! Im Gegenteil: Statt Urteilsfähigkeit auszubilden, wird diese untergraben, gewöhnt man sich diese geradezu ab – was dann als Unbefangenheit verkauft wird!. Auch zu diesem Problem habe ich mich auf diesen Seiten wiederholt geäußert (siehe z.B. „Die Krankheit der Anthroposophen“ oder „Gronbach – ein Gegner der Anthroposophie“).

Der dritte Aspekt der Zuschriften betrifft die „soziale Einbettung“: es solle keiner der Beteiligten „ausgeschlossen“ werden. Dieser Aspekt gehört mit zum Problem der Urteilsunfähigkeit. Da man keinerlei Kriterien hat, strebt man von vornherein nicht mehr als einen bloßen Diskurs an. „Urteilsfähigkeit“ kommt – auch als Ideal – gar nicht mehr vor. Es geht um den Austausch von Standpunkten, die man letztlich nicht beurteilen kann, zu denen man höchstens einen eigenen Standpunkt, eine eigene Meinung haben kann. Und weil Urteilsfähigkeit gar nicht das Ziel ist, tritt ein anderer Aspekt an oberste Stelle: „keinen ausschließen“!

Mit anderen Worten: Weil man nicht beurteilen kann, was eigentlich Anthroposophie ist, darf sich eben prinzipiell jeder Anthroposoph nennen und wird dann auch als solcher anerkannt. Mag es noch so viele innere Gegner geben (vor denen Rudolf Steiner bereits warnte) – fortan gilt nur noch das Gesetz des Diskurses: Jeder darf teilnehmen, jeder gehört dazu...

„Schatten“ und weitere Unklarheiten

Was Jüngel dann über „ideellen Gehalt und sein Schatten“ schreibt, ist völlig unverständlich. Wer erlebt denn den „ideellen Gehalt“ oder möglicherweise den „Schatten“ – und von was? Ist der mögliche Eindruck der Zuschriften bei anderen Lesern gemeint? Oder die realen Eindrücke der Redaktion? Auch hier scheint wieder die Sorge formuliert zu sein, die Leser könnten mit Schatten konfrontiert werden (mit welchen? denen des Schreibers? ihren eigenen?). Was der Leser wahrnimmt, liegt aber doch immer bei ihm! Heißt das, dass die „Diskussion“ nun beendet wurde, weil die allseits erlebten Schatten übermächtig wurden?

Die Zahl von 30 Zuschriften zeigt zunächst, dass die ganze Frage höchst kontrovers ist, was selbstverständlich ist, wenn polar entgegengesetzte Zuschriften abgedruckt werden. Doch die stärksten Schatten kommen daher, dass sie durch die Art der abgedruckten Beiträge selbst hervorgerufen wurden! Denn die bisherigen Beiträge zeichnen sich selbst gerade durch Subjektivität, Geistlosigkeit und die völlige Vernachlässigung eines wahrhaft anthroposophischen Standpunktes aus.

Was passiert, wenn man hier eben keine Urteilsfähigkeit hat? Was passiert, wenn sich dann jemand dieser ungeheuren Missachtung jeder wirklich geisteswissenschaftlichen Anschauung entgegenstellt und versucht, die gröbsten Unsäglichkeiten aufzuzeigen und zu korrigieren? Dann wird sein Beitrag selbst als „Gefahr“ gesehen, weil man natürlich spürt, dass Klarheit und Entschiedenheit wiederum viel Widerstand hervorrufen wird – und weil man den Beitrag möglicherweise auch selbst als „Anmaßung“ usw. erlebt...

Kurz gesagt: Wenn die Urteilsfähigkeit fehlt, fehlt jede Grundlage für die Anthroposophie, dann haben Subjektivität, persönliche Meinungen und andere Schatten freies Feld, während wahre Urteile selbst als „Schatten“ erlebt – und verurteilt werden. Dies aber bedeutet nichts anderes, als dass die anthroposophische Gesellschaft sich erfolgreich gegen die Anthroposophie immunisiert hat.

Selbst jemand wie Prokofieff hat nun (auf den Druck der Kontroverse hin) offen „zugegeben“, dass er seine eigene Meinung vertrete. Das aber ist der Offenbarungseid. Genausogut könnte man es klar und offen sagen: Geisteswissenschaft ist nirgendwo zu finden.

Statt auch nur ansatzweise zu dieser Klarheit zu kommen, wird lieber zu neuen Phrasen übergegangen: Wieder einmal ist von „Schwellensituation“ die Rede! Die Frage ist aber doch: Tragen die „Anliegen“ der Leserbriefe die Schatten in sich – oder werden sie von anderen Lesern hineingelesen (wodurch es deren eigene Schatten sind) – oder werden sie von der Redaktion hineininterpretiert (wodurch es deren eigene Schatten sind)? Natürlich kann man annehmen, dass viele oder sogar die meisten Zuschriften in ihrer Subjektivität einen wirklich anthroposophischen Standpunkt mindestens genauso verfehlt haben wie die abgedruckten Beiträge. Das Problem ist nur, dass die Redaktion auch hier eben überhaupt kein Unterscheidungsvermögen hat!

Die Redaktion sieht sich nun ebenfalls in einer „Schwellensituation“ – allerdings nur in der, zu entscheiden, wie es mit den Zuschriften weitergeht. Und die Entscheidung ist dann eindeutig: „Innehalten“ (auch wieder eine schön klingende Phrase) ... und nichts weiter abdrucken.

Die Begründung dieses Schrittes ist dann der „innere Kompass“, der in dem „Blick auf den Ausgangspunkt“ besteht. Dieser war angeblich „das Verständnis des Mysteriums von Golgatha“. Tatsächlich war der Ausgangspunkt Prokofieffs Buch-Anhang über die Stigmatisation bzw. zwei kontroverse Besprechungen dazu! Bereits dieser Ausgangspunkt war Auslöser des ganzen Problems, denn weder Prokofieff, noch Judith von Halle können etwas zum Verständnis dieses Mysteriums beitragen – und lösen stattdessen weitere subjektive Diskussionen und Verwirrungen aus!

Die nicht gestellte Frage

In der Erkenntnis des Christus wird man nur dann weiterkommen, wenn man sich tief und ernsthaft auf die Grundlagen der Anthroposophie besinnt – immer wieder. Dann wird man immer sicherer empfinden und ganz real erkennen, dass man einer Erkenntnis des Christus weder mit der dogmatisch-intellektuellen Zusammenstellung von Zitaten (einschließlich schlimmer Verdrehungen!) nach Art Prokofieffs, noch mit den sinnlichen Schauungen Judith von Halles auch nur einen Schritt näherkommen kann!

Die Redaktion steht vor Zuschriften, die die in den drei „Goetheanum“-Ausgaben abgedruckten Beiträge als „aufklärend“ bis „unsachlich“, „verletzend“ bis „unwesentlich“ empfinden. Angesichts dieses Dilemmas und ihrer eigenen Orientierungslosigkeit bleibt ihr nichts anderes übrig, als den „bislang dokumentierten Diskurs“ nun zu beenden.

Das Erschütternde ist, dass mein Bestreben, das Schlimmste aus den bisherigen Beiträgen richtigzustellen, in den Formulierungen der Redaktion überhaupt nicht auftaucht. Jedenfalls finde ich das Wesen meiner Zuschriften weder in der eingangs erwähnten „Dreigliederung“ der „Anliegen“, noch in den eben genannten Adjektiven wieder. Die bisherigen Beiträge kann man nicht einfach nur als „unsachlich“ oder „unwesentlich“ bezeichnen, sie stehen schlicht im Gegensatz zur Anthroposophie. Und meine Leserbriefe waren nicht etwa ein „Angebot, sich mit Fragen des Mysteriums von Golgatha auseinanderzusetzen“, sondern sie wollten die gröbsten Unsäglichkeiten der abgedruckten Texte aufzeigen!

Was will die Redaktion nun tun? Sie wird alle Zuschriften in ihre „Überlegungen einbeziehen“, wie sie die Themen „Übersinnliche Erfahrung“ und „Autorität bei der Darstellung dieser Erfahrung“ neu aufgreifen kann! Man will also diese beiden Fragen künftig weiter behandeln – und die Orientierungslosigkeit geht weiter. Man glaubt, etwas Wichtiges zu sagen, man kann sich in endlosen Ausführungen zu diesen beiden Fragen ergehen, und es ist nichts gewonnen. Denn worum es allein gehen müsste, das wäre die Frage, was überhaupt Anthroposophie ist und was nicht!

Man kann noch so viel „übersinnliche Erfahrungen“ haben (oder von anderen zur Kenntnis nehmen) – wenn man sie nicht beurteilen kann, sind sie nicht das Geringste wert. Und was heißt „Autorität bei der Darstellung“? Autorität wird erlebbar durch den Anspruch auf Wahrheit. Was dies angeht, muss man lernen, „die Autorität zu beurteilen“, wie Rudolf Steiner selbst es forderte. Man kommt an der Urteilsfähigkeit einfach nicht vorbei. Es sei denn, man redet weiter um den heißen Brei herum und führt weiter endlose Diskurse über „übersinnliche Erfahrungen“ und über die „Autorität bei der Darstellung“, ohne die grundlegende, einzig entscheidende Frage auch nur zu berühren...

Die „Goetheanum“-Redaktion möchte „einen Raum schaffen, in dem man würdig“ über das Mysterium von Golgatha sprechen kann. Was heißt „würdig“? Man kann dieses Wort als Phrase missbrauchen und dann dazu verwenden, dass klar ausgesprochene Wahrheiten die „Würde“ eines „Beteiligten“ verletzen würden... Die Redaktion will überlegen, wie das Thema auf würdige Weise weiter behandeln werden kann. Doch das würdigste Vorgehen wäre es, wenn man vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft sagen würde, was zu sagen ist – und zumindest die schlimmsten Phrasen, Irrtümer und Subjektivitäten aufzeigen und richtig stellen würde! Jeder der abgedruckten Beiträge enthielt und steigerte diese Dinge, und der redaktionelle Beitrag tat es nun ebenfalls. Anthroposophie wäre die Sprache des Christus. Wenn man jedoch diese Sprache nicht sprechen kann und will, wird man sich diesem heiligen Thema niemals nähern können, sondern dann wird jeder neue Beitrag den Christus wieder für die Silberlinge der Phrase und der „sozialen Einbettung“ aller „Beteiligten“ verkaufen...