„...sonst kommt das Denken zum bloß Richtigen, nicht zum Wahrhaftigen.“

Rudolf Steiner, Vortrag vom 27.12.1911, GA 134, S. 18-27.


[...] Ich will damit nichts anderes andeuten, als daß tatsächlich unser Denken zunächst gegenüber der Wirklichkeit absolut inkom­petent, nicht ausschlaggebend ist, kein richtiger Richter ist.

Ja, aber wie kommen wir denn nun überhaupt sozusagen aus dem Versinken in den Zweifel und in das Nichtwissen heraus, wenn wirk­lich unser Denken gar kein sicherer Führer sein kann? Wer nämlich Erfahrung hat in diesen Dingen, wer sich viel mit dem Denken be­schäftigt hat, der weiß, daß man alles beweisen und alles widerlegen kann, und ihm imponiert kein Scharfsinn der Philosophie mehr. Er kann den Scharfsinn bewundern, aber sich dem bloßen Verstandes­urteil hingeben kann er nicht, weil er weiß, daß man ebenso gute Verstandesurteile im entgegengesetzten Sinne auffinden kann. Das gilt für alles, was bewiesen oder widerlegt werden kann. 

[...]

Und jener Ausspruch, der im alten Griechenland schon getan worden ist, gilt ganz gewiß noch immer. Man hat nämlich schon im alten Grie­chenland gesagt: Alles menschliche Nachforschen muß ausgehen von dem Staunen. Fassen wir das aber in positivem Sinne auf, meine lieben Freunde! Fassen wir es in dem positiven Sinne auf, daß tatsächlich in der Seele, die zur Wahrheit dringen will, dieser Zustand einmal vorhanden sein muß, vor dem Universum staunend zu stehen. Wer nämlich die ganze Kraft dieses griechischen Ausspruches zu fassen vermag, der kommt dazu, sich zu sagen: Wenn ein Mensch, gleich­gültig, wie sonst die Verhältnisse sind, durch welche er zum mensch­lichen Forschen und Sinnen kommt, von dem Staunen ausgeht, also nicht von irgend etwas anderem, sondern vom Staunen über die Weltentatsachen, dann ist das so, wie wenn man ein Samenkorn in die Erde steckt und eine Pflanze daraus emporwächst. Denn alles Wissen muß in gewisser Weise zum Samenkorn das Staunen haben. Anders aber ist es, wenn ein Mensch nicht vom Staunen ausgeht, sondern vielleicht davon, daß in gewisser Jugendzeit seine braven Lehrer ihm eingebläut haben irgendwelche Grundsätze, die ihn zum Philosophen gemacht haben; oder wenn er Philosoph geworden ist nun, weil es in dein Stande, wo er aufwuchs, Sitte ist, daß man etwas derartiges lernen muß, und er durch die gerade vorhandenen Um­stände zur Philosophie kam. Bekanntlich in auch das Examen in der Philosophie am leichtesten zu machen. Kurz, es gibt Hunderte und Tausende von Ausgangspunkten für die Philosophie, die nicht vom Staunen, sondern von etwas anderem herkommen. Alle solche Aus­gangspunkte, die führen nur zu einem solchen Zusammenleben mit der Wahrheit, das sich vergleichen läßt damit, daß man aus Papier­maché eine Pflanze macht und nicht aus dem Samen sie zieht. Der Vergleich gilt vollständig, denn alles wirkliche Wissen, das Aussicht haben will, überhaupt etwas zu tun zu haben mit den Weltenrätseln, das muß aus dem Samenkorn des Staunens hervorgehen. Und es kann einer ein noch so scharfsinniger Denker sein, er kann schon, man möchte sagen, an einer gewissen Überschwenglichkeit des Scharfsinns leiden – wenn er niemals durchgegangen ist durch das Stadium des Staunens – es wird nichts daraus; es wird scharfsinnige, kluge Ver­kettung von Ideen und nichts, was nicht richtig wäre, aber das Richtige braucht nicht auf die Wirklichkeit zu gehen. Es ist eben durchaus notwendig, daß, bevor wir zu denken beginnen, bevor wir überhaupt unser Denken in Bewegung setzen, wir durchgemacht haben den Zustand des Staunens. Und ein Denken, das sich ohne den Zustand des Staunens in Bewegung setzt, das bleibt im Grunde ge­nommen doch ein bloßes Gedankenspiel. Also das Denken muß urständen, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf, im Stau­nen.

Und weiter. Das genügt noch nicht. Wenn das Denken nun ur­ständet im Staunen und der Mensch gerade durch sein Karma ver­anlagt ist, recht scharfsinnig zu werden, und er durch einen gewissen Hochmut sehr bald dazu kommt, sich selber zu erfreuen an seinem Scharfsinn und dann nur noch den Scharfsinn entwickelt, dann hilft ihm auch das anfängliche Staunen nichts. Denn wenn, nachdem das Staunen in der Seele Platz gegriffen hatte, der Mensch nun im wei­teren Verlaufe seines Denkens nur denkt, dann kann er nicht zur Wirklichkeit vordringen. Wohlgemerkt, ich betone das auch hier, ich will nicht sagen, daß der Mensch gedankenlos werden soll und daß das Denken schädlich ist. Denn das ist eine weit verbreitete An­schauung auch in theosophischen Kreisen: man hält das Denken ge­radezu für schlimm und schädlich, weil man sagt, der Mensch muß vom Staunen ausgehen. Aber er braucht nicht, wenn er ein bißchen ange­fangen hat zu denken und aufzählen kann die sieben Prinzipien des Menschen und so weiter, wiederum mit dem Denken aufzuhören, son­dern das Denken muß bleiben. Es muß aber nach dem Staunen ein anderer Seelenzustand kommen, und das ist der, den wir am besten bezeichnen können mit der Verehrung für das, an was das Denken herantritt. Nach dem Zustand des Staunens muß der Zustand der Verehrung, der Ehrfurcht kommen. Und ein jegliches Denken, das sich emanzipiert von der Ehrfurcht, von dem ehrfürchtigen Auf­schauen zu dem, was sich dem Denken darbietet, das wird nicht in die Wirklichkeit hineindringen können. Niemals darf das Denken sozusagen auf eigenen leichten Füßen dahintänzeln in der Welt. Es muß wurzeln, wenn es über den Standpunkt des Staunens hinweg­gekommen ist, in der Empfindung, in dem Gefühl der Verehrung der Weltengründe.

Da kommt allerdings der Erkenntnispfad sogleich in einen ganz gewaltigen Gegensatz zu dem, was man heute Wissenschaft nennt. Denn wenn Sie jemandem, der heute im Laboratorium vor seinen Retorten steht und Stoffe analysiert und durch Synthese wiederum Verbindungen aufbaut, sagen: Du kannst eigentlich doch die Wahr­heit nicht erforschen! Du wirst zwar hübsch zerlegen und hübsch zusammensetzen, aber was du tust, sind bloß Tatsachen. Du gehst pietätlos, ohne Verehrung entgegenzubringen den Tatsachen der Welt, an diese heran. Du solltest eigentlich mit derselben Pietät und ehr­furchtsvollen Verehrung dem, was in deinen Retorten vorgeht, gegen­überstehen, wie ein Priester am Altar steht. – Was wird ein solcher Mann Ihnen heute antworten? Wahrscheinlich wird er Sie auslachen, furchtbar auslachen, weil es vom gegenwärtigen wissenschaftlichen Standpunkt aus gar nicht einzusehen ist, daß die Verehrung irgend etwas zu tun haben soll mit Wahrheit, mit Erkenntnis. Der Mann wird Ihnen, wenn er Sie nicht auslacht, höchstens sagen: Ich kann mich wirklich begeistern für das, was in meinen Retorten vorgeht, aber daß diese meine Begeisterung etwas anderes sein soll als meine Privatsache, daß die etwas zu tun haben soll mit der Wahrheitsfor­schung, das kannst du einem vernünftigen Menschen tatsächlich nicht begreiflich machen. – Man wird mehr oder weniger närrisch er­scheinen gegenüber den heutigen Wissenschaftern, wenn man davon spricht, daß das Forschen und namentlich das Denken über die Dinge niemals sich emanzipieren darf von dem, was Verehrung genannt werden muß, daß man keinen Schritt im Denken machen darf, ohne daß man durchdrungen ist von dem Gefühl der Verehrung für das, was man erforscht. Das ist das Zweite.

Aber auch ein Mensch, welcher es schon bis zu einem gewissen Gefühl der Verehrung gebracht hat und dann, nachdem er, weil er dieses Gefühl der Verehrung erlebt hat, nun mit dem bloßen Denken vorwärtsdringen wollte, ja, der würde wiederum ins Wesenlose kom­men, würde wieder nicht weiterkommen. Er würde ja ein Richtiges finden und, weil er die zwei ersten Stufen überschritten hat, so würde sein Richtiges durchzogen sein von mancherlei festgegründeten Ge­sichtspunkten. Aber er würde dennoch bald ins Unsichere kommen müssen. Denn eine dritte Stufe muß sich in unserem Seelenzustand einstellen, wenn wir Staunen und Verehrung genügend durchgemacht haben, und diese dritte Stufe ist diese, die man bezeichnen könnte als: sich in weisheitsvollem Einklange fühlen mit den Weltgesetzen. Ja, sehen Sie, dieses Sich‑im‑weisheitsvollen‑Einklang‑Fühlen mit den Weltgesetzen, das kriegt man überhaupt auf keine andere Weise zu­stande, als wenn man in einer gewissen Beziehung die Wertlosigkeit des bloßen Denkens schon eingesehen hat, wenn man sich immer wie­der und wiederum gesagt hat: Derjenige, der nur auf die Richtigkeit des Denkens baut – ob er nun begründet oder widerlegt, darauf kommt es nicht an –, der ist eigentlich in demselben Falle wie unser kleiner Knabe, der die Semmelzahl in richtiger Weise berechnet hat. Wäre der kleine Knabe fähig gewesen, sich zu sagen: Was du ausrechnest, kann richtig sein, aber du mußt gar nicht bauen auf dein richtiges Denken, sondern du mußt einmal der Wahrheit nachgehen, mußt dich in Einklang setzen mit der Wirklichkeit, dann hätte der Knabe gefunden, was höher steht als seine Richtigkeit: der Brauch am Orte, auf fünf Semmeln eine drauf zu geben. Er hätte gefunden, daß man aus sich heraus muß in die Außenwelt und daß das richtige Denken nichts ausmacht dazu, ob etwas wirklich ist.

Aber dieses sich in weisheitsvollen Einklang setzen mit der Wirk­lichkeit, das ist etwas, was nicht so ohne weiteres geht. Wenn es so ohne weiteres ginge, meine lieben Freunde, dann würden Sie jetzt und dann würde niemals ein Mensch in diesem Punkt die Verführung durch Luzifer erfahren haben. Denn eigentlich war dem Menschen von den göttlichen Führern der Weit durchaus zugedacht das, was man nennt Unterscheidung von Gut und Böse, Erwerbung von Er­kenntnis, Essen vom Baum der Erkenntnis – aber für eine spätere Zeit. Dasjenige, was gefehlt worden ist von den Menschen, das ist, daß sie in zu früher Zeit diese Erkenntnis von der Unterscheidung von Gut und Böse sich haben aneignen wollen. Was ihnen für später zugedacht war, haben sie unter der Verführung Luzifers sich früher aneignen wollen; darin liegt es. Dabei konnte nur herauskommen eine unzulängliche Erkenntnis, die sich zur wirklichen Erkenntnis, welche sich der Mensch hätte erringen sollen, wie sie ihm zugedacht war, so verhält wie eine Frühgeburt zu einem ausgereiften Kinde.

So daß die alten Gnostiker – man spürt, wie recht sie hatten – tat­sächlich das Wort gebraucht haben: Die menschliche Erkenntnis, so wie sie den Menschen begleitet durch seine Verkörperungen durch die Welt, ist eigentlich eine Frühgeburt, ein Ektroma, weil die Men­schen nicht haben warten können, bis sie alles das durchgemacht hatten, was dann zur Erkenntnis hätte führen sollen. Es hätte also eine Zeit verfließen sollen, in welcher der Mensch nach und nach hätte heranreifen lassen sollen gewisse Seelenzustände, dann hätte ihm die Erkenntnis zufallen müssen. Diese Ursünde der Menschheit, die begeht man heute noch immer; denn wenn man sie nicht begehen würde, so würde man weniger darauf bedacht sein, wie man rasch das oder jenes als Wahrheit sich aneignen kann, sondern man würde darauf bedacht sein, wie man reif werden kann, um gewisse Wahr­heiten erst zu begreifen.

[...] Das gehört zum dritten Zustand, den wir zu schildern haben. Wenn man sich noch so stark anstrengt im Urteilen – Irrtum kann immer unterlaufen im Urteil. Ein richtiges Urteil kann sich nur ergeben, wenn wir einen gewissen Reifezustand erlangt haben, wenn wir ge­wartet haben, bis das Urteil uns zuspringt. Nicht wenn wir uns Mühe geben, das Urteil zu finden, sondern wenn wir uns Mühe geben, uns reif zu machen, daß das Urteil an uns herankommt, dann hat das Urteil etwas mit der Wirklichkeit zu tun. Derjenige, der sich noch so furchtbar anstrengt, ein richtiges Urteil zu fällen, der kann nie darauf bauen, daß er durch diese innere Anstrengung zu einem irgend­wie maßgeblichen Urteil kommt. Der allein kann hoffen, zu einem richtigen Urteil zu kommen, der alle Sorgfalt darauf verwendet, immer reifer und reifer zu werden, sozusagen die richtigen Urteile zu erwarten von den Offenbarungen, die ihm zuströmen, weil er reif geworden ist. Da kann man nämlich die merkwürdigsten Erfahrungen machen. Ein Mensch, der rasch mit seinem Urteil fertig ist, wird natürlich denken: Wenn einer ins Wasser gefallen ist und man ihn tot herauszieht, ist er ertrunken. Aber jemand, der weise geworden ist, der reif geworden ist durch Lebenserfahrung, der wird wissen, daß in jedem einzelnen Falle eine allgemeine Richtigkeit gar nichts be­deutet, sondern daß man in jedem einzelnen Falle allseitig sich hin­zugeben hat dem, was sich darbietet, daß man immer urteilen lassen muß die Tatsachen, die sich vor einem abspielen. Man kann das am Leben sehr gut bewahrheitet finden.

Nehmen Sie den Fall: Irgendein Mensch sagt heute irgend etwas. Nun gut, Sie können eine andere Ansicht haben, Sie können sagen: Das ist ganz falsch, was der sagt. Sie können eben ein anderes Urteil haben als der andere. Schön, es kann das falsch sein, was er sagt und was Sie sagen; es können in gewisser Beziehung beide Urteile richtig und beide falsch sein. Daß der eine ein anderes Urteil hat als der andere, das werden Sie jetzt auf dieser dritten Stufe nicht als etwas Maßgebendes betrachten. Das besagt gar nichts; da steht man nur gleichsam auf der Spitze seines eigenen Urteils. Da hält der, der weise geworden ist, immer mit seinem Urteil zurück, und um sich nicht in irgendeiner Weise mit seinem Urteil zu engagieren, hält er sogar dann zurück, wenn er das Bewußtsein hat, daß er recht haben könnte; wie experimentell, wie probeweise hält er zurück. Aber nehmen Sie an, ein Mensch sagt Ihnen heute irgend etwas; nach zwei Monaten sagt er etwas Gegenteiliges: da können Sie sich ganz ausschalten, da haben Sie gar nichts zu tun mit den beiden Tatsachen. Wenn Sie die beiden Tatsachen auf sich wirken lassen, dann brauchen Sie keiner zu widersprechen, sondern sie widersprechen sich gegen­seitig. Da wird das Urteil vollzogen durch die Außenwelt, nicht durch Sie. Da beginnt der Weise erst zu urteilen. Es ist interessant, daß man niemals verstehen wird die Art und Weise, wie zum Beispiel Goethe seine Naturwissenschaft getrieben hat, wenn man nicht diesen Begriff von Weisheit hat, daß die Dinge selber urteilen sollen. Daher hat Goethe auch den interessanten Ausspruch getan – Sie finden ihn in meiner Einleitung zu Goethes naturwissenschaftlichen Werken –: Man sollte eigentlich niemals Urteile oder Hypothesen machen über die äußeren Erscheinungen, sondern die Erscheinungen sind die Theorien, sie selber sprechen ihre Ideen aus, wenn man sich reif gemacht hat, sie in der richtigen Weise auf sich wirken zu lassen. Nicht darauf kommt es an, daß man sozusagen sich dahintersetzt und auspreßt aus seiner Seele, was man für richtig hält, sondern darauf, daß man sich reif macht und sich zuspringen läßt das Urteil aus den Tatsachen selber. So stehen muß man zum Denken, daß man das Denken nicht zum Richter über die Dinge macht, sondern zum Instrument für das Aussprechen der Dinge. Das heißt sich in Einklang mit den Dingen setzen.

Wenn man diesen dritten Zustand durchgemacht hat, dann darf das Denken sich noch immer nicht auf eigene Füße stellen wollen, dann kommt erst der gewissermaßen höchste Seelenzustand, den man erreichen muß, wenn man zur Wahrheit kommen will. Und das ist der Zustand, den man gut mit dem Worte Ergebenheit bezeichnen kann. Staunen, Verehrung, weisheitsvoller Einklang mit den Welt­erscheinungen, Ergebung in den Weltenlauf, das sind die Stufen, die wir durchzumachen haben und die immer parallel gehen müssen dem Denken, die niemals das Denken verlassen dürfen – sonst kommt das Denken zum bloß Richtigen, nicht zum Wahrhaftigen. Halten wir einmal still bei dem, wohin wir aufgestiegen sind durch Staunen, Verehrung, weisheitsvollen Einklang mit den Welterscheinungen, bis zu dem, was wir heute Ergebung genannt haben, was wir aber noch nicht erklärt haben, wovon wir morgen weitersprechen werden.

Halten wir fest bei dem, daß wir stehengeblieben sind bei der Er­gebung, und halten wir fest auf der andern Seite die Frage, die wir aufgeworfen haben: Warum man sich nur intellektuell zu machen braucht, um Geisteswissenschaft widerlegen zu können. Und betrach­ten wir das als zwei Fragen, zu deren weiterer Beantwortung wir dann morgen weiterschreiten werden.