16.05.2009

„Am Anfang war die Unterscheidung“ – Systemtheorie oder Anthroposophie?

Buchkritik: Christian Grauer: Am Anfang war die Unterscheidung. Info3-Verlag, 2007.

Christian Grauers 100-seitige Abhandlung trägt den Untertitel „Eine Theorie des Bewusstseins im Anschluss an Kant, Steiner, Husserl und Luhmann“. Grauer entwickelt darin eine Darstellung von Bewusstsein und Wahrnehmung, die sich letztlich auf die abstrakte Systemtheorie Luhmanns stützt – und so nicht etwa eine Brücke zur Anthroposophie bildet, sondern im Gegenteil eine Brücke zu jenen geistfernen Auffassungen, die heute – unter Rückgriff auf Ken Wilber – von Sebastian Gronbach verbreitet werden.


Inhalt
Grauers Gedankengang | Von emergierenden SystemenDas Ich-Du-Problem
Systemtheorie statt Anthroposophie – der moderne Arabismus
Innere Widersprüche
Fern der WirklichkeitDie wahre Vereinigung mit der Wirklichkeit
Grauer über Rudolf Steiner
Grauers Egoismus und ...... am Ende der völlige Relativismus


Grauers Gedankengang

Bevor ich dieser Abhandlung ausführlich entgegne, gehe ich zusammenfassend Grauers Gedankengang nach:

Grauer beginnt mit dem Hinweis auf „die Urfrage der Philosophie“, die nach dem „Warum des Lebens, der Welt, des Seins überhaupt“. Vor dieser absoluten Frage verblasse alles zu einer „nur relativen Bedeutung“, verliere alles – moralische Werte, die sinnliche Außenwelt – seine bisherige „Begründetheit“ durch was auch immer.

Die Frage nach dem Warum und Wie muss sich letztlich auf die Erkenntnis selbst ausdehnen. Die Fragen, Bedingungen und Ziele der Erkenntnistheorie sind durch Kant umfassend dargestellt worden. Die kritische Letztbegründung von Erkenntnis überhaupt kann nur durch etwas erfolgen, was jenseits der Erkenntnis liegt.

Hinter Grauers Studie steht die „Frage nach der Bedeutung meiner selbst und dessen, was ich als mein Bewusstsein bezeichne, sowohl für die Welt und in der Welt als auch für mich selbst.“ Und er will „zeigen, wie dasjenige, was Luhmann ‚Unterscheidung‘ nennt, als Ur-Operation sowohl der Welt als auch unserem Bewusstsein zugrunde liegt und in ein konstruktivistisches Weltbild mündet, in dem Bewusstsein die einzige und vollständige Form der Verfügbarkeit von Welt ist [...]“ (S. 21).

Im weiteren geht Grauer auf das „Leib-Seele-Problem“ ein, das weiteren Dualismen wie Ich/Welt oder Geist/Physis entspricht. Wie kommt es zu dem Zusammenhang zwischen physischen und mentalen Zuständen? Kant fragte, wie man zu allgemeingültigen, objektiven Gesetzen bezüglich der sinnlichen Außenwelt kommen könne. Seine Antwort war, dass der Verstand selbst dieses Allgemeingültige in die Sinneswelt hineinlegt – dass sich beide Welten also zumindest bis zu einem gewissen Grade bedingen.

Die „objektive Naturerkenntnis“ vergisst ihre eigene Grundlage – die Bedingtheit der Natur in den Verstandesbegriffen. Die Objektivität der sinnlichen Wirklichkeit gründet im Denken, das Begriffe wie Objektivität und Subjektivität überhaupt erst hervorbringt. Die „Realität der Außenwelt“ verdankt sich der Realität der mentalen Zustände, ihre Objektivität verdankt sich den Begriffen des Denkens.

Es gibt also nicht „die Außenwelt“ und daneben mein Bewusstsein, sondern die gesamte sinnliche Welt ist „in“ meinem Bewusstsein. Raum und Zeit sind nur ein Konstrukt des Bewusstseins, basierend auf den Gesetzen der Perspektive von Gegenständen und dem inneren Ursache-Wirkungs-Zusammenhang von Ereignissen.

Nach Husserl erscheint die Welt in ihrer tatsächlichen Struktur erst durch Ausschaltung aller den Phänomenen nachträglich beigefügten Bestimmungen. Das Erste, was sich „bei einer solchen unvoreingenommenen Aufmerksamkeit ergibt, ist diese Aufmerksamkeit selbst“ (S. 55). Neben jedem Inhalt ist immer auch dessen „Gegebensein“, also der mentale Zustand als Zustand, das Bewusstsein selbst, bewusst. Wahrnehmen, Vorstellen, Denken, Fühlen usw. sind ebenso ein Faktum wie ihr jeweiliger Inhalt.

Edmund Husserl spricht nun von der Intentionalität der Bewusstseinsakte: eine Wahrnehmung ist immer eine von etwas, Denken ist immer Denken an etwas usw. In dieser Intentionalität nun gründen nach Grauer alle Ich-Welt-Dichotomien. „Die Trennung in Verweisendes (Subjekt) und Verwiesenes (Objekt) ist die Grundstruktur aller Bewusstseinsakte [...]“. Dass „die Dinge“ unabhängig von „mir“ existieren, liegt daran, dass „die Dinge, das Existieren und ich selbst nur intentionale Inhalte mentaler Zustände sind“, die jedoch im entsprechenden Bewusstsein ihre Einheit finden (S. 59).

Von emergierenden Systemen

Damit kommt Grauer zu Niklas Luhmann und seiner Systemtheorie: „Das System ist die Differenz zwischen System und Umwelt“ (Luhmann). Ein System entsteht dadurch, indem eine Ganzheit in zwei Teile getrennt wird, die beide aufeinander bezogen sind. „In diesem Sinne ist das System diese Unterscheidung“. Der Beobachter eines Systems ist wiederum nur ein auf Unterscheidung basierendes System: „Der Beobachter [...] ist ganz formal definiert: Unterscheiden und Bezeichnen“ (Luhmann).

Grauer sieht darin „eine revolutionäre Idee“, die er geradezu als kopernikanische Wende bezeichnet: „Luhmann [...] stellt die Unterscheidung als Operation [...] an den Anfang und erklärt den Beobachter ebenso wie das Beobachtete zu einem Resultat [...]“ (S. 64). Vor der ersten Unterscheidung liegt Nichts. „Alle folgenden Instanzen – Subjekt, Objekt, Ich, Bewusstsein, Welt, Raum, Zeit etc. – sind nachfolgende [...] Unterscheidungen. [...] Das Ich beobachtet nicht, es entsteht mit dem Beobachten: es ist dieses Beobachten!“ (S. 66). Hier verweist Grauer auf den Satz aus Rudolf Steiners „Philosophie der Freiheit“: „Ich darf niemals sagen, dass mein individuelles Subjekt denkt; dieses lebt vielmehr selbst von des Denkens Gnaden.“

Grauer schreibt, dass „das Subjekt als Agens des Denkens und Wahrnehmens nicht Agens der ersten Unterscheidungen ist, sondern aus diesen erst emergiert“ (S. 69). Vor der Trennung in Subjekt-Objekt liegt die reine Wahrnehmung ungeordneter Empfindungsqualitäten. Aus der Operation der Unterscheidung emergiert dann die Wahrnehmung des „Subjekts“ (Person) und der „Außenwelt“. Letztlich ist aber auch der „Urgrund der Welt in mir selbst zu finden“, denn: „etwas das als Bewusstseinsform meinem Erleben zugänglich sein soll und sogar mein Bewusstsein konstitutiert, muss mein Bewusstsein sein, wenn es auch kein Subjektbewusstsein ist.“ (S. 70). Grauer verweist auf das, „was ich vor allem Sein bin: auf die erste Unterscheidung, auf die absolute Operation, auf die Beobachtung des Nichts als Sein“ (ebd.).

Am Anfang steht also nicht ein seiendes Agens, sondern eine Operation (aus dem Nichts, ohne ein Substrat, das operiert). Der Beobachter entsteht im Beobachten, er ist „die Verkettung der Beobachtungen“, beides entsteht gleichzeitig auseinander. „Wir sind als Ich gleichsam die Differenz zu unserer Umwelt, also zu dem, was wir als Welt unsere Wirklichkeit nennen“ (S. 73). Unsere Erfahrung und unser Weltbild ist „durchaus eine Konstruktion aus an sich beliebigen Unterscheidungen. Nur: ich, das erkennende Subjekt, das die Einheit dieses Weltbildes ist, resultiere meinerseits aus diesen Unterscheidungen.“ (ebd.).

Das Ich-Du-Problem

Im letzten Kapitel geht Grauer dann auf „das Ich-Du-Problem“ ein. Das andere Subjekt ist mir nicht „von innen“ erfahrbar, man geht davon aus, dass der Andere wie ich Bewusstsein, Empfindungen usw. hat. Wenn es aber nichts außerhalb meiner Bewusstseinswelt gibt, kann der Andere keine andere haben. Wenn sie aber identisch wären, ist die Frage, wie mehrere Subjekte an ein und derselben Bewusstseinswelt teilhaben können? Und wie kommt es, dass ausgerechnet eine Sequenz von Beobachtungs-Operationen „uns im Rahmen unseres Selbstbewusstseins als eigenes Subjekt erlebbar ist“ (S. 84) und alle anderen nicht? 

„Ich sehe mich als Ich durchaus als Subjekt an, indem ich mich als den Beobachter meiner selbst denke. Ich sehe mich als Ich aber auch als Objekt an, indem ich mich beobachte. Das Ich als Beobachtendes bezeichne ich als Ich-Subjekt, das Ich als Beobachtetes bezeichne ich als Ich-Objekt.“ (S. 90).

Als (selbstbewusstes) Ich-Subjekt stelle ich mich der Welt gegenüber, als (beobachtetes) Ich-Objekt bin ich Teil dieser Welt, finde ich das Ich als eines unter vielen, finde ich als Nicht-Ich das Du. „Ich“ und „du“ (bewusstes Nicht-Ich) sind nur die zwei Seiten einer einzigen Unterscheidung durch das Ich-Subjekt. „Aus der Perspektive des Selbstbewusstseins bin ich dieser Beobachter. Aus der Perspektive des vor-selbstischen Bewusstseins ist dieser Beobachter einfach nur Beobachter, ist nur Subjekt, ohne Bezug auf sich selbst oder einen Anderen.“ (S. 92). Das spontan einsetzende Selbstbewusstsein „katapultiert die Welt gleich zweifach – als Objekte und als fremde Subjekte – aus mir hinaus und konstituiert mich damit.“ (ebd.).

Grauer geht nun „als ontologischer Monist“ davon aus, dass sein und des Anderen Selbstbewusstsein identisch sind und stellt wiederum die Frage, warum er sich des letzteren nicht ebenso bewusst ist. Seine Antwort ist, dass darin genau das Wesen des Anderen liegt, denn „mit der Versetzung dieses Bewusstseinsinhaltes in die Objektwelt“ schaffe ich eben überhaupt erst das Du und damit auch mich (S. 92f). Die Trennung erlebe ich erst, wenn ich Selbstbewusstsein habe. Würde ich (als Gedankenexperiment) plötzlich in einem anderen Bewusstsein aufwachen, würde ich dieses als mein eigenes erleben.

„Bewusstsein ist nicht eine dem Ich bzw. dem Du [...] untergeordnete Instanz, sondern [...] es umfasst als vor-subjektives Bewusstsein beide. Dass ich dieses Bewusstsein als mein Bewusstsein erlebe, liegt [...] daran, dass dieses Bewusstsein durch beobachtende Unterscheidung mich als Subjekt geschaffen hat und ich gleichsam rückwirkend das Bewusstsein auf dieses Subjekt beziehe.“ (S. 93). Es ist das „Ich-Subjekt“, das überhaupt erst Ich und Du (als intentionale Inhalte) unterscheidet. Jenes „nicht-intentional miterlebte Subjekt dieses Erlebens ist sowohl für mich als auch für den Anderen dasselbe! Als Objekt dieses Erlebens unterscheide ich mich allerdings von dem Anderen: genau darin liegt das Wesen des Selbstbewusstseins. Der Andere ist [...] nur als Erscheinung ein Anderer, als reines (d.h. nicht selbstbewusstes) Subjekt aber mit mir identisch“ (S. 94).

„Während ich mir meiner selbst im Selbstbewusstsein zwar unmittelbar, aber nicht intentional bewusst bin, bin ich mir meiner selbst im Anderen zwar mittelbar, aber intentional bewusst, d.h. als Erfahrung. Diese Erfahrung ist, wie jede Erfahrung, eine gegenständliche. D.h. so wie ich in den Gegenständen der Welt, z.B. im Baum, meiner eigenen Unterscheidung als Gegenstand begegne und damit letztlich vor nichts anderem stehe als vor mir selbst, so begegne ich auch im Anderen immer nur mir selbst, aber als Erfahrung.“ (S. 98). Die Unterscheidung Ich/Welt macht (die Erfahrung der) Welt erst möglich, die Unterscheidung Ich/Du die Erfahrung des Menschseins.

Systemtheorie statt Anthroposophie – der moderne Arabismus

Soweit der Gedankengang Grauers in seinem Büchlein. Es sollte in der Verfolgung dieses Gedankenganges sehr klar werden, dass seine philosophischen Ausführungen mit Anthroposophie nichts zu tun haben, sondern gerade den Blick auf ihr Wesen verstellen. Ich werde dies nun im Einzelnen begründen.

Grauer beginnt hochfliegend mit der „Urfrage der Philosophie“: Warum ist nicht Nichts? Ob diese Frage überhaupt beantwortbar ist, ist die Frage – Grauer beantwortet sie jedenfalls nicht. Oder besser gesagt: Das absolute Nichts, das in jener Frage liegt, taucht bei ihm später nicht mehr auf. Was er später als „Nichts“ noch vor der ersten Unterscheidung bezeichnet, ist nur eine „Metapher“ (S. 99) für das völlig ununterschiedene All-Eine. Dieses jedoch ist vielleicht der schöpferische Ursprung von allem, aber zweifellos nicht Nichts.

Im folgenden geht es Grauer um die Frage nach dem Bewusstsein und nach dem Verhältnis von Ich und Welt. Die Überwindung des Dualismus, wie wir sie bei Rudolf Steiner finden, sucht man bei Grauer vergeblich. Stattdessen findet man einen „Monismus“, der bei der abstrakten und in die Irre führenden Systemtheorie landet, aus der Grauer weitere irrige Vorstellungen entwickelt.

Abstrakt ist die Systemtheorie deshalb, weil sie alles, was unterschieden werden kann, formal als „System“ definiert – es ist völlig egal, ob das ein Blatt, ein Baum, ein Finanzamt oder ein menschliches Bewusstsein ist. „Das System ist die Differenz zwischen System und Umwelt“. Abstrakter und nichtssagender geht es nicht. Grauer kommt damit aber zu weitgehenden Schlussfolgerungen – und damit Irrtümern.

In der Logik der Systemtheorie kommt man zu so abstrakten Sätzen wie: „Der Beobachter emergiert im Beobachten“. Mit anderen Worten: Er ist plötzlich da, durch das Beobachten, das ebenfalls plötzlich da ist. Die „Operation“ des Beobachtens setzt aus dem Nichts heraus ein und bringt damit den Beobachter hervor. Diese abstrakten Gedankenspiele sind natürlich faszinierend – dabei bemerkt man dann überhaupt nicht, dass damit nicht das Geringste gesagt ist. Man „erklärt“ die Wirklichkeit durch ein geheimnisvolles Emergieren aus dem Nichts, durch eine plötzlich ohne Subjekt existierende „Operation“, die das Subjekt und das Objekt erst hervorbringt.

Die Folge dieser abstrakten Gedanken zeigt sich, wo Grauer auf „das Ich-Du-Problem“ kommt. Grauer unterscheidet das „Ich-Subjekt“ (das nie selbst zum beobachteten Objekt wird) und das „Ich-Objekt“, das von mir beobachtete Ich, dem die vielen anderen „Du“ entsprechen. Bevor das Selbstbewusstsein einsetzt, gibt es weder dieses Ich, noch ein Du, nur ein sozusagen „vor-selbst-bewusstes“ Subjekt. Ausgehend von der Beobachtung, dass ihm immer nur seine Bewusstseinszustände gegeben sind, kommt Grauer – um seinen Monismus zu retten – zu der Vorstellung, dass das von ihm eingeführte „Ich-Subjekt“ für alle Menschen dasselbe ist: „Der Andere ist [...] nur als Erscheinung ein Anderer, als reines (d.h. nicht selbstbewusstes) Subjekt aber mit mir identisch“.

Mit anderen Worten: Es gibt nur ein Bewusstsein – und nur indem es in den verschiedenen Menschen durch die Operation der „Unterscheidung“ (Ich/Du) zum Selbstbewusstsein wird, erscheint es als verschieden. Die beobachteten Iche (Ich-Objekt bzw. Du) sind mannigfaltig, dies aber ist nur die Ebene der Erscheinung. Das eigentliche „Ich-Subjekt“ ist in jedem Falle ein und dasselbe.

Was Grauer hier entwickelt, ist die vollständige Leugnung des individuellen Ich – es ist reinster Arabismus. Das Ich ist nur Ausfluss einer allgemeinen Geistigkeit. Während der Verkörperung erscheint es individuell, nach dem Tode geht es jedoch wiederum auf in den allgemeinen Geist, in das All-Eine. Dieselbe Weltanschauung wird auch von Sebastian Gronbach verkündet (und Grauer ist ja enger Genosse und Verteidiger Gronbachs). Sie steht aber, wie man sieht, in vollem Gegensatz zu der christlichen Anschauung des individuellen Ichs, wie sie Rudolf Steiner in der Anthroposophie entwickelte – des Ichs, das sich reinkarniert und immer weiter entwickelt und dabei individuell bleibt und immer individueller wird.

Innere Widersprüche

In seiner ganzen Abhandlung verstrickt Grauer sich in innere Widersprüche, die man zunächst überliest, die aber letztlich leicht aufzudecken sind.

- „Das Ich beobachtet nicht, es entsteht mit dem Beobachten: es ist dieses Beobachten!“ Durch die „Operation der Unterscheidung“ entsteht also das Ich (als Beobachter) und zugleich das Beobachtete (die Welt).

- Sobald und indem ich mich der Welt gegenüberstelle, habe ich Selbstbewusstsein (und sei es noch so leise). Laut Grauer tritt das Selbstbewusstsein jedoch erst auf, indem das Ich sich objektiviert, wodurch zum „Ich-Subjekt“ das „Ich-Objekt“ (ebenfalls ein Teil der beobachteten „Welt“) tritt.

- Wenn das „Ich-Subjekt“ nie beobachtbar ist, wie kommt Grauer dann dazu, einen solchen Begriff zu bilden? Weil es das „nicht-intentional miterlebte Subjekt dieses Erlebens ist“. Dann aber muss man auch schon von Selbstbewusstsein sprechen (wenn es auch kein reflexives Selbstbewusstsein ist, das sich selbst außerdem noch verobjektivieren kann).

- Die Frage ist, wer laut Grauer die Objektivierung zum „Ich-Objekt“ vornimmt. Zweifellos ist es das „Ich-Subjekt“, das sich selbst objektiviert und damit das „Objekt“ bzw. die Vorstellung seiner selbst erzeugt. Wenn es aber hier – was auch die unmittelbare Alltagserfahrung nahe legt – ein handelndes Agens gibt, warum soll es vor der bzw. für die Entstehung von „Ich-Subjekt“ und „Welt“ kein solches Agens gegeben haben?

- „Das Ich als Beobachtendes bezeichne ich als Ich-Subjekt, das Ich als Beobachtetes bezeichne ich als Ich-Objekt.“ (S. 90). War es am Anfang das Ich im Gegensatz zur Welt, so entsteht hier ein anderes Gegensatzpaar: Das Ich als Beobachter seiner selbst und das Ich als (von sich selbst) Beobachtetes. Hiernach entstehen „Ich-Subjekt“ und „Ich-Objekt“ gleichzeitig durch eine Unterscheidung aus dem Nichts.

- Andererseits verabsolutiert Grauer das „Ich-Subjekt“, dessen Unterscheiden so Wesentliches wie „Ich(-Objekt) und „Du“ erst hervorbringt („...da es als Beobachter überhaupt erst Ich und Du unterscheidet“, S. 94).

Ist das Ich-Subjekt bei Grauer nun Korrelat zum Ich-Objekt (gemeinsam aus der „objektivierenden Unterscheidung“ emergierend) – oder braucht er hier durch die Hintertür doch ein echtes Agens, das nicht erst emergiert, sondern „als [schon vorhandener!] Beobachter überhaupt erst Ich[-Objekt] und Du unterscheidet“.

Grauer merkt nichts von den Widersprüchen und Aporien, in die er sich verstrickt. Die ganze abstrakte Systemtheorie basiert jedoch auf derselben Unlogik, wie wenn man in einem handfesten Streit behaupten würde, der Geschlagene und der Schlagende entstehen aus dem Nichts durch die Operation des Schlagens. Sicher: Ohne, dass geschlagen wird, gibt es weder Schlagenden noch Geschlagenen. Und doch ist das Schlagen keine Operation aus dem Nichts, sondern es braucht jemanden, der schlägt, und jemanden, der geschlagen wird. Der Schlagende ist dabei ein ganz reales Agens. Dass Grauer dies übersieht, entspricht seiner Leugnung eines individuellen Ich.

Was Grauer ebenfalls nicht berücksichtigt, ist, dass es im gesamten Erfahrungsbereich des menschlichen Bewusstseins keinen Fall von „Unterscheidung ohne Agens“ gibt – dies ist vielmehr ein reines Gedankenkonstrukt.

Bei jeder Unterscheidung, die ich treffe, kann ich wissen, dass ich es war, der sie getroffen hat – wenn es zunächst nicht voll bewusst war, spätestens im Rückblick. Natürlich ändert sich mit jeder Unterscheidung mein „Weltbild“ und ändere damit auch „ich“ mich – dennoch bin ich es, der diese Unterscheidung trifft (und sich ändert). So wie man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann, ist man heute auch nicht mehr der, der man vor einem Jahr war – und dennoch ist man es, denn man hat sich gewandelt. In der Regel kann man sich sogar noch erinnern, wie man vor einem Jahr war, wie man fühlte, was das damalige Welt- und Selbstbild war usw.

Die einzigen Fälle, in denen scheinbar „aus dem Nichts“ unterschieden wird, sind z.B. das Erwachen des ersten Selbstbewusstseins im kleinen Kinde – oder auch das tägliche Aufwachen aus dem Schlaf. Es sollte jedoch hier gerade für Anthroposophen völlig klar sein, dass es auch hier ein handelndes Agens gibt.

Fern der Wirklichkeit

Grauer will den tiefsten Geheimnissen des Bewusstseins und der Wirklichkeit auf den Grund gehen – und bleibt bei der ersten Versuchung hängen. Er will die tiefsten und letzten Warum-Fragen beantworten („Warum ist nicht Nichts?“) und vergisst das Fragen gegenüber der hochabstrakten Systemtheorie.

Grauer fragt nicht „Warum ist Unterscheidung?“, denn die Unterscheidung ist für ihn plötzlich „Erklärung“ aller Fragen... So bleibt er bei der Feststellung, dass Unterscheidung ist – und bei Luhmanns abstrakter Behauptung, dass sie das primäre und damit Ursache/Erklärung für Ich und Welt usw. sei. Er bleibt damit bei einem verhüllten „Ignorabimus“ („wir können nie wissen [wie/warum]“), denn das Emergieren „aus dem Nichts“ ist keine Erklärung – es besagt und erklärt wörtlich nichts. Es ist, wie wenn der Geschlagene fragt, warum er geschlagen wurde, und der Andere antwortet: „Einfach so. Auf einmal war das Schlagen da, und so bin ich als Schlagender emergiert...“.

Mit seiner Abhandlung versucht Grauer eine „Erklärung“ für das Bewusstsein und die Vielfalt der Bewusstseinsinhalte geben – und er kommt zu einer konstruktivistischen Theorie, nach der die Bewusstseinsinhalte letztlich beliebig anders gestaltet sein könnten. Er löst das Phänomen des Dualismus, der für das naive Bewusstsein tatsächlich eine Tatsache ist, auf schlagend einfache Weise, indem er sagt: Wenn ich mich nicht von der Welt gelöst hätte (durch eine Operation, für die ich gar nichts kann, weil ich aus ihr erst emergiert bin), wäre ich mit der Welt vereint... Oder auch: Ohne die „Operation Unterscheidung“ gäbe es mich und die Welt gar nicht.

Was er an dieser Stelle nicht beachtet, ist, dass uns unser Bewusstsein immer schon gegeben ist. Obwohl er sonst betont, dass man nur von den mentalen Zuständen ausgehen kann, die man vorfindet, postuliert er hier einen Zustand der Einheit – und hat zugleich die passende Erklärung für die Entstehung des „getrennten Zustands“!

Mit dem Wörtchen „Unterscheidung“ ist die große Frage, warum es individuelles Bewusstsein und überhaupt die ungeheure Vielfalt der Welterscheinungen gibt, auch nicht annähernd zu erklären. Es ist einfach nur erschreckende intellektuelle Arroganz, wenn Grauer am Ende seines Buches darauf verweist, dass die Genesis auch schon mit Unterscheidung anhebt („Gott schied das Licht von der Finsternis“) – oder wenn er den Beginn des Johannesevangelium („Im Anfang war das Wort“) damit kommentiert, hier werde ebenfalls beschrieben, dass „die intentionale Operation jenes systematisch Erste ist, das der Welt zugrunde liegt.“ (S. 106).

Grauer will durch seine Abhandlung dem Urgrund der Welt näherkommen – aber er entfernt sich von ihm. Für ihn ist alles eine Bewusstseinsfrage – Unterscheidung erschafft den Beobachter und die Welt, und sofern man diesen Prozess erkennt, kann man sich mit der Welt wieder vereinen. Für ihn ist der Mensch der Schöpfer „seiner Welt“ – und nachdem er durch diese Operation zunächst aus der Welt herausgefallen ist, kann er sich durch Erkennen dieses Mechanismus wieder mit allem eins werden:

„Das Subjekt enthebt sich der Not, sich als Subjekt zu erleben und schafft sich die Möglichkeit, beliebig zu unterscheiden. Der zuerst im Dunkel der Bewusstwerdung liegende Prozess des ersten Unterscheidens [...] wird aktiv und bewusst [...] und beliebig rückgängig gemacht bzw. verändert. Das Subjekt entwickelt sich so als Beobachter aus seiner Subjektivität heraus in ein übergeordnetes System hinein, das sowohl die Ununterschiedenheit des Nichts als letzter Einheit alles Erscheinenden, als auch das All-Eine als Umfassung aller möglichen Unterscheidungen und damit alles Geschaffenen beobachten kann.“ (S. 100).

Die wahre Vereinigung mit der Wirklichkeit

Was Grauer überhaupt nicht beachtet, ist die ungeheure Perspektive und Vorgeschichte, auf deren Grundlage die erste menschliche Unterscheidung überhaupt möglich wurde: Der menschlichen Unterscheidungsfähigkeit, dem Denken, musste eine ungeheure Entwicklung vorangehen – die gesamte Entwicklung des Menschen, d.h. die gesamte Weltentwicklung. Unterscheidung ist eben erst möglich, wenn ein Wesen sich auf jene Höhe entwickelt hat, wo es (sich) unterscheiden kann.

Es ist richtig, dass aus der Unterscheidung „Ich und Welt“ hervorgehen, dennoch hat die Unterscheidung ein Agens: Den denkenden, seiner selbst bewusst werdenden Menschen. Es ist richtig, dass das Alltags-Ich, das sich als von der Welt getrenntes Subjekt erlebt, „von des Denkens Gnaden“ lebt und nicht umgekehrt. „Es denkt in mir“ – es geht nun aber gerade um die Frage nach diesem Es. Aus dem Denken gehen „Ich und Welt“ hervor, aber dieses Ich ist eben nur die „Ich-Vorstellung“, das „Ich-Bewusstsein“ – und nicht jenes Ich, das zunächst ganz im Übersinnlichen wirkt.

Rudolf Steiner hat in der „Philosophie der Freiheit“ beschrieben, wie das Denken den Menschen von der Welt trennt – wie es aber zugleich wiederum das Denken ist, das uns wieder mit der Welt verbinden kann.

Wenn ich erlebe, dass das Denken mich nicht nur der Welt gegenüberstellt, sondern überhaupt erst mit ihrem Wesen verbindet, dann erlebe ich das Wesen des Denkens und zugleich mein wahres Wesen. Was hier als schlichter Satz eine im Grunde ungeheure Perspektive bezeichnet, deutet auf den tief greifenden Erkenntnisweg der Anthroposophie.

Wenn der Mensch sein wahres Wesen erkennt, vereinigt er sich mehr und mehr mit dem realen (höheren) Ich. Und zugleich erschließt sich ihm mehr und mehr eine reale geistige Welt, in der er Wesen erleben und erkennen kann, die ihm in seiner Entwicklung vorausgegangen sind und seine Entwicklung bis zu diesem Punkt begleitet und unterstützt haben.

Vor allem kann der Mensch in der Entwicklung seines Denkens zu einer realen übersinnlichen, leibfreien Erkenntniskraft dahin kommen, dass er mehr und mehr jenes Wesen erfährt und erkennt, das als das Wort Grund alles Erkennens ist und auf geheimnisvolle Weise auch Grund des realen individuellen Ich eines jeden Menschen ist.

Grauer über Rudolf Steiner

Grauer geht auf fünf Seiten dezidiert auf Rudolf Steiner ein und vereinnahmt ihn für die eigene Theorie: Er habe schon seinerzeit „einen philosophischen Ansatz ausgearbeitet, der die dargestellten konstruktivistischen und phänomenologischen Ansätze von Husserl und Luhmann antizipiert und [...] zu einer eben solchen Erweiterung des Bewussstseins jenseits der Subjekt-Objekt-Dualität führt.“ (S. 78).

Wie Grauer zu Steiner und zur Anthroposophie steht, geht auch aus folgenden Sätzen hervor:

Folgerichtig ersetze er „moralische Imperative durch erkenntnispraktische Übung. Damit begibt sich Steiner weit über die Philosophie hinaus auf das dünne Eis esoterisch-mystischer Lehren.“ (S. 79).

„Wenngleich Steiner kein explizit konstruktivistisches Konzept vorlegt, so hält er doch Wahrheit und Wirklichkeit für ein Produkt der Erkenntnis [...]“ (S. 80). Für diese „konstruktivistische Deutung seiner Theorie“ spreche auch, „dass die Möglichkeit, das Denken als Akt zu beobachten, direkt in jene postulierte Erweiterung der Erkenntnis führt, mit der Steiner seine ‚geistige Welt‘ als höhere Wirklichkeit begründet, deren Charakter er stets als unmittelbar abhängig vom erkennenden Individuum bezeichnet, das sie erforscht.“ (S. 81).

„Das Ich wird zum Schöpfer seiner eigenen individuellen Wirklichkeit, indem es die Mechanismen des Zustandekommens seiner Erkenntnis, seines Wahrnehmens und Denkens, sowie darin auch seiner selbst, konkret erfasst.
Nach Steiner zielt jede Form spiritueller Bewusstseinserweiterung und meditativer Erfahrung [...] letztlich auf die vollständige Dekonstruktion aller beobachteten und beobachtenden Systeme, um sich im Absoluten wiederzufinden und von da aus sich und die Welt bedingungslos und frei neu zu erschaffen.“ (S. 81f).


Und nachdem Grauer eine Parallele zwischen Erleuchtung und Psychose zieht, wobei hier das Subjekt dem Vorgang nicht souverän gegenübersteht, fügt er hinzu: „Steiners Beispiel zeigt, dass mit dieser Erkenntnispraxis [...] erstaunliche individuelle Welten möglich werden, deren Ausleben [...] in erheblichem Maße kreativ auf die Alltagspraxis wirken können.“ (S. 82).

Aus all diesen Sätzen geht hervor, dass Grauer die Verbindung mit der Wirklichkeit viel zu subjektiv auffasst („Produkt der Erkenntnis“, „konstruktivistisches Konzept“, „erstaunliche individuelle Welten“). Sätze wie die von der Wahrheit als „freies Erzeugnis des Menschengeistes“ („Wahrheit und Wissenschaft“, S. 11) werden – nicht nur von Grauer – völlig missverstanden. Sie weisen keineswegs auf einen konstruktivistischen Ansatz hin, sondern auf die Tatsache, dass das Denken mit der wahren Wirklichkeit, mit dem Wesen der Dinge verbindet – durch das Denken leuchtet das Wesen der Dinge im menschlichen Bewusstsein auf und erscheint damit überhaupt erstmals in seiner reinen, geistigen Form:

„Die Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern die: ein ganz neues Gebiet zu schaffen, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergibt. [...] und das Erkennen ist das vollendetste Glied im Organismus des Universums.“ (ebd.).

„Mit welchem Rechte erklärt ihr die Welt für fertig, ohne das Denken? Bringt nicht mit der gleichen Notwendigkeit die Welt das Denken im Kopfe des Menschen hervor, wie die Blüte an der Pflanze? [...] Stellet die Pflanze euch selbst gegenüber. Sie verbindet sich in eurer Seele mit einem bestimmten Begriffe. Warum gehört dieser Begriff weniger zur ganzen Pflanze als Blatt und Blüte?“ („Philosophie der Freiheit“, S. 86).


Was der Mensch von sich selbst für ein Selbstbild hat, liegt ganz bei ihm und kann höchst verschieden sein – die Trennung zwischen Ich und Welt jedoch verläuft in einer ganz bestimmten Weise und basiert nicht auf einer quasi beliebigen „Unterscheidung“:

„Nicht an den Gegenständen liegt es, daß sie uns zunächst ohne die entsprechenden Begriffe gegeben werden, sondern an unserer geistigen Organisation. Unsere totale Wesenheit funktioniert in der Weise, daß ihr bei jedem Dinge der Wirklichkeit von zwei Seiten her die Elemente zufließen, die für die Sache in Betracht kommen: von seiten des Wahrnehmens und des Denkens.

Es hat mit der Natur der Dinge [!!] nichts zu tun, wie ich organisiert bin, sie zu erfassen. Der Schnitt zwischen Wahrnehmen und Denken ist erst in dem Augenblicke vorhanden, wo ich, der Betrachtende, den Dingen gegenübertrete.“ (ebd., S. 88).

Wenn Grauer aus der „Philosophie der Freiheit“ zitiert: „Ich darf niemals sagen, dass mein individuelles Subjekt denkt; dieses lebt vielmehr selbst von des Denkens Gnaden“, so versteht er diesen Satz bereits falsch, denn Steiner sagt davor ausdrücklich: „Die Tätigkeit, die der Mensch als denkendes Wesen ausübt, ist also keine bloß subjektive [...]“ (S. 60). Durch das Denken bestimmt der Mensch sich als Subjekt, aber zugleich umschließt er im Denken sich selbst und die übrige Welt.

Wer unterscheidet hier? Der Mensch, der sich zugleich wieder mit der Welt verbinden kann. Keine abstrakte „Operation“, sondern der Mensch als denkendes Wesen, der Mensch, der sich zum freien Geist entwickelt.

Grauers Egoismus und ...

Wo Grauer am Ende auf das „Ich-Du-Problem“ eingeht, betrachtet er auch das Verhältnis von Egoismus und Altruismus und schreibt:

„Altruismus ist [...] diejenige Form des Egoismus, die sich aus meinem Interesse an der Umwelt ergibt – z.B. wenn ich diese Umwelt als mein Konstrukt und mich als das Konstrukt der Umwelt betrachte und sie damit als für mich von dringender Bedeutung erscheint. [...] Könnte es ein stärkeres Motiv geben, mich um die Welt zu sorgen, als die Erkenntnis, dass die Welt mein Geschöpf ist, dass ich die Welt bin und die Welt ich?“ (S. 95f).


Hier wird ganz deutlich, dass der Konstruktivismus eine quasi solipsistische Weltsicht begründet, der einen mit dem eigenen Egoismus verhaftet. Es ist unmöglich, davon loszukommen, wenn alles das Konstrukt meiner selbst ist und ich selbst wiederum das Konstrukt meiner Umwelt bin!

Und Grauer steigert seine Worte noch, indem er sogar dem „Gott, der die Welt angeblich erschaffen hat“, unterstellt, auch er liebe „doch gerade deshalb diese Welt und ihre Geschöpfe“. Er merkt nicht, wie er sich von der wirklichen Gottesliebe, aber auch von dem ethischen Individualismus Rudolf Steiners fundamental unterscheidet. Der letztere gründet sich auf eine Liebe zur Tat.

Grauer kam zu seiner Behauptung eines einzigen identischen „Subjekt-Ich“ in allen Menschen, um seinen Monismus zu retten, der dadurch gefährdet war, dass er nur auf seinen Bewusstseinsinhalt schaute:

„Die Frage der endlos rekursiven Vervielfachung der Subjekte durch die Vorstellung, dass jedes Du die ganze Bewusstseinswelt einschließlich aller anderen Dus [...] enthält, und diese wiederum jene, löst sich dahingehend auf, dass das Subjekt der Unterscheidung zwischen Ich und Du stets das selbst ist.“ (S. 94).


Rudolf Steiner braucht für seinen Monismus nicht die Identität der Subjekte (die auch jeder Erfahrung widerspricht), er braucht keine konstruktivistische Abhängigkeit der Welt vom eigenen Bewusstsein – ihm reicht die Liebe zur eigenen Tat, zur eigenen moralischen Intuition. Die moralische Tat richtet sich gerade auch auf den ganz Anderen. Das Wesen des Guten besteht im Tun des Guten – unabhängig davon, ob es mir oder dem Anderen dient. Für den freien Geist ist die Liebe zur eigenen Tat stets „Lohn genug“.

... am Ende der völlige Relativismus

Ganz entsprechend Grauers solipsistischer Tendenz gibt er dann die individuelle Bedingtheit seiner gesamten vorangegangenen Ausführungen zu – und verspottet am Ende so nochmals die Anthroposophie, die ein tief ernsthafter, in die geistige Wirklichkeit führender Erkenntnisweg ist:

„All die Überlegungen, die in den vorliegenden Ausführungen angestellt wurden, sind selbstverständlich ihrerseits nichts anderes als Unterscheidungen. [...] Auch diese Ausführungen und die Idee der Unterscheidung als primäre Operation ist nur eine Wahrheit [...] und wir müssen sie sogleich nachdem sie formuliert wurden dieser Relativierung unterziehen. [...]
Indem wir die Welt erkennen, schaffen wir uns unsere Wirklichkeit und uns als Wirklichkeit. [...] Ihr Wert liegt nicht in ihrer Wahrheit, sondern in ihrer Erlebbarkeit. [...] Diese Ausführungen sind ein Versuch, den Weg zu beschreiben, den ich bislang gefunden habe, um diesem unmittelbaren Erleben der Wirklichkeit näher zu kommen. [...] Ob sie ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ sind, ist abgesehen von der Unentscheidbarkeit dieser Frage für das Leben irrelevant.“ (S. 103f).


Am Ende erweist sich also das Motiv des Autors: dem „unmittelbaren Erleben der Wirklichkeit näher kommen“; auch von „Genuss des Daseins“ ist die Rede. Wenn man die Beiträge aus Grauers Blog dazunimmt, wird ganz deutlich, wie wenig er die Anthroposophie verstanden hat und wie sehr er bemüht ist, sie abzuschütteln. Da er sich ein völlig falsches Bild von ihr konstruiert hat und jetzt einen ganz anderen Weg einschlägt, ist die konstruktivistische Theorie genau das, was seinem bisherigen Werdegang und Vorgehen entspricht.

So erweist sich Grauers Theorie für ihn als wahr: Er ist gleichsam das Konstrukt seiner eigenen Theorie und konstruiert die Wirklichkeit nach dieser Theorie. Grauer und seine Theorie emergieren gleichzeitig aus einer Operation ohne Agens...?