Etty Hillesum: Das denkende Herz

Ausschnitte aus: Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum. Rowohlt. | Kürzungszeichen [...] nur innerhalb Eintragungen eines Tages.

Im März 1941, mitten in Krieg und Judenverfolgung, begann die 27-jährige Studentin Etty Hillesum, Tagebuch zu führen, die sie bis zu ihrer Deportation fortführte. Anfang August 1943 kommt sie ins Durchgangslager Westerbork, am 7.9.1943 muss sie nach Ausschwitz, wo sie am 30.11.1943 ermordet wird. Vierzig Jahre vergingen, bis die Hefte nach vielen Umwegen entziffert und 1981 veröffentlicht wurden.


24.03.1941 | Eine Welt zerfällt in Trümmer. Aber die Welt geht weiter, und ich gehe vorläufig noch mit, voll guten Mutes und guten Willens. Und doch werden wir um etwas beraubt, auch wenn ich mich innerlich jetzt so reich fühle, daß die­ses Beraubtsein noch nicht völlig zu mir durchdringt. Trotzdem muß man mit der derzeitigen wirklichen Welt in engem Kontakt bleiben und versuchen, seinen Platz in ihr zu behaupten, man darf sich nicht ausschließlich mit Ewigkeitswerten beschäftigen, das könnte leicht zu einer Vogelstraußpolitik entarten. Das Leben aus­schöpfen, äußerlich und innerlich, nichts von der äußeren Realität um der inneren willen aufopfern, aber auch nicht umgekehrt: darin sehe ich eine schöne Aufgabe.

14.06.1941 | Wieder Verhaftungen, Terror, Konzentrationslager, willkürliches Abholen von Vätern, Brüdern, Schwestern. Man sucht nach dem Sinn des Lebens und fragt sich, ob es überhaupt noch einen Sinn hat. Aber das ist eine Sache, die jeder mit sich allein und mit Gott ausmachen muß. Vielleicht hat jedes Leben seinen eigenen Sinn, und es bedarf eines ganzen Lebens, um diesen Sinn herauszufinden. Jedenfalls habe ich zur Zeit allen Zusammenhang mit dem Leben und den Dingen verloren und habe das Gefühl, daß alles zufällig ist und daß man sich innerlich von allen Menschen lösen und von allen Dingen Abstand nehmen muß. Alles erscheint so drohend und unheilverkündend, und dazu die große Machtlosigkeit.

04.08.1941 | Ich komme mir manchmal wie ein Abfalleimer vor, in mir ist soviel Verwirrung und Eitelkeit und Halbheit und Minderwertig­keit. Aber auch eine tiefe Ehrlichkeit und eine fast elementare Sehn­sucht nach Reinheit und Harmonie zwischen dem Äußeren und dem Inneren. Manchmal sehne ich mich nach einer Klosterzelle mit der sublimierten Weisheit von Jahrhunderten auf den Bücherrega­len an den Wänden und mit einer Aussicht auf Kornfelder – es müs­sen unbedingt Kornfelder sein, und sie müssen wogen –, dort möchte ich mich in die Jahrhunderte und in mich selbst versenken. Und mit der Zeit würden sich dann wohl auch Ruhe und Klarheit einfinden. Aber das ist keine Kunst. Hier, an diesem Ort, in dieser Welt und jetzt muß ich zu Klarheit und Ruhe und ins Gleichgewicht kommen. Ich muß mich selbst jedesmal erneut der Realität stellen, mich auseinandersetzen mit allem, was mir auf meinem Weg be­gegnet, die Außenwelt als Nahrung meiner Innenwelt aufnehmen und umgekehrt, aber es ist so schrecklich mühsam; warum habe ich innerlich nur so ein beklommenes Gefühl. [...]

21.10.1941 | Es ist ein langsamer und schmerzlicher Prozeß, zur wirklichen, inneren Selbständigkeit geboren zu werden. Mit immer größerer Sicherheit zu wissen, daß es nie und nimmer Hilfe, Unterstützung und Zuflucht bei anderen für dich gibt. Daß die anderen genauso unsicher, schwach und hilflos sind wie du selbst. Daß du immer der Stärkere sein mußt. Ich glaube nicht, daß es in deiner Art liegt, bei anderen Zuflucht zu finden. Du wirst immer wieder auf dich selbst gestellt sein. Es gibt nichts ande­res. Das übrige ist Fiktion. Aber dies jedesmal wieder von neuem erkennen zu müssen.

??.11.1941 | In mir ist irgendeine Wehmut, eine Zärtlichkeit und auch etwas Weisheit, die nach einer Form suchen. Dann und wann ziehen Dia­loge durch meinen Kopf Bilder und Figuren. Stimmungen. Der plötzliche Durchbruch zu etwas, das meine eigene Wahrheit wer­den soll. Menschenliebe, um die ich kämpfen muß. Nicht in der Politik oder in einer Partei, sondern in mir selbst. Aber noch falsche Scham, sich darüber zu äußern. Und Gott. Das Mädchen, das nicht knien konnte und es dann doch lernte und auf einer rauhen Kokosma­tte in einem unordentlichen Badezimmer.

??.11.1941 | Etwas vollzieht sich in mir, und ich weiß nicht, ob es nur eine Stimmung ist oder etwas Wesentliches. Es ist, als ob ich mit einem Ruck zu meiner eigenen Basis zurückgekehrt wäre. Ein bißchen selbständiger und unabhängiger. Gestern abend auf dem Rad durch die kalte, dunkle Lairessestraat. Ich wollte, ich könnte wiederholen, was ich halblaut vor mich hinmurmelte: Gott, nimm mich an deine Hand, ich gehe brav mit, ohne mich allzusehr zu sträuben. Ich werde mich nicht entziehen, was in diesem Leben auch auf mich einstürmen mag, werde ich nach besten Kräften verarbeiten. A­ber schenke mir ab und zu einen kurzen Augenblick der Ruhe. Ich werde auch nicht mehr in aller Einfalt glauben, daß der Friede, falls er über mich kommt, ewig sei, ich nehme auch die Unruhe und den Kampf auf mich, die wieder danach kommen. Ich bin gern in Wärme und Sicherheit, aber ich werde mich auch nicht weigern, in die Kälte zu gehen, wenn nur deine Hand mich führt. Ich gehe überall mit an deiner Hand und will versuchen, nicht ängstlich zu sein. Ich werde versuchen, etwas von der Liebe, der echten Menschenliebe, die in mir ist, auszustrahlen, wo ich auch sein werde. Aber mit dem Wort „Menschenliebe“ darf man nicht prahlen. Man weiß nie, ob man sie besitzt. Ich will nichts Besonderes sein, ich will nur versu­chen, zu der zu werden, die in mir noch nach völliger Entfaltung sucht.

31.12.1941 | Mutter, die zu einem gegebenen Anlaß sagte: „Ja, eigentlich bin ich religiös.“ Vor ein paar Tagen sagte „Tante Piet“ am Herd fast dasselbe: „Eigentlich bin ich religiös.“ Das „eigentlich“, das macht ihnen zu schaffen. Die Menschen zu lehren, dieses „eigentlich“ wegzulassen, damit sie den Mut haben, ihre tiefsten Gefühle zu be­jahen. Was meinte sie mit „eigentlich“?

19.02.1942 | „Was ist das im Menschen, das die an­deren vernichten will?“ fragte Jan verbittert. Ich sagte: „Die Men­schen, ja die Menschen, aber denke daran, daß du auch zu ihnen gehörst.“ Und gegen meine Erwartung gab er das zu, er, der bockige, mürrische Jan. „Und die Schlechtigkeit der anderen ist auch in uns vorhanden“, predigte ich weiter. „Ich sehe keine andere Lö­sung, ich sehe wirklich keine andere Lösung, als sich dem eigenen Inneren zuzuwenden und dort all das Schlechte auszurotten. Ich glaube nicht mehr daran, daß wir an der äußeren Welt etwas ver­bessern können, solange wir uns nicht selbst im Inneren gebessert haben. Das scheint mir die einzige Lehre dieses Krieges zu sein. Daß wir gelernt haben, das Übel nur in uns selbst zu suchen und nirgendwo anders.“

27.02.1942 | Außerdem an diesem Morgen: die überaus starke Empfindung, daß ich trotz allen Leides und Unrechts, das überall geschieht, die Menschen nicht hassen kann, und daß all das entsetzliche und grau­envolle Geschehen nicht etwas geheimnisvoll Fernes und Drohen­des von außen ist, sondern uns sehr nahe steht und aus uns Men­schen hervorgeht. Und mir deshalb wiederum vertrauter und weniger beängstigend vorkommt. Beängstigend ist vielmehr, daß die Systeme über die Menschen hinauswachsen und sie in ihren sa­tanischen Griff bekommen, und zwar die Erfinder und die Opfer der Systeme gleichermaßen, wie große Gebäude und Türme, von Menschenhand gebaut, uns überragen und beherrschen, aber auch über uns zusammenstürzen und uns begraben können.

12.03.1942 | Wenn man innerlich lebt, ist der Unterschied in­nerhalb und außerhalb der Lagermauern vielleicht gar nicht so groß. Werde ich diese Worte später vor mir selbst verantworten können, werde ich dementsprechend leben? Wir dürfen uns keine großen Illusionen machen. Das Leben wird sehr schwer werden. Wir werden getrennt werden, wir alle, die wir einander teuer sind. Ich glaube, daß die Zeit nicht mehr fern ist. Man sollte sich innerlich bereits darauf vorbereiten.

30.05.1942 | Wie sonderbar doch das ist. Es ist Krieg. Es gibt Konzentrationslager. Die kleinen Grausamkeiten häufen sich immer mehr. Wenn ich die Straßen entlanggehe, weiß ich von vielen Häusern, an denen ich vorbeikomme: dort ist der Sohn im Gefängnis, dort wird der Vater als Geisel gehalten, und dort ist das Todesurteil eines achtzehnjähri­gen Sohnes zu beklagen. Und diese Straßen und Häuser liegen ganz in der Nähe meines Hauses. Ich kenne die Verzweiflung der Men­schen, ich weiß um das viele menschliche Leid, das sich immer mehr anhäuft, ich weiß von Verfolgung und Unterdrückung, von Willkür und ohnmächtigem Haß und von vielem Sadismus. Ich weiß das alles und behalte jedes Stückchen Wirklichkeit im Auge, das zu mir dringt.
Und dennoch – in einem unbewachten, mir selbst überlassenen Augenblick liege ich auf einmal an der nackten Brust des Lebens, und seine Arme legen sich weich und beschützend um mich, und sein Herzklopfen kann ich gar nicht schildern: es ist so langsam und regelmäßig und leise, fast gedämpft, aber auch treu, als wollte es nie aufhören, und auch so gut und so barmherzig.

12.06.1942 | Auch mit der Kälte und Unbehaglichkeit muß ich versuchen zu­rechtzukommen, denn sie nagen an meiner Energie und Arbeitslust. Ich muß endlich die Vorstellung aufgeben, ich sei, nur weil ich so unter der Kälte und Erkältung leide und eine verstopfte Nase habe, dazu berechtigt, mich gehen zu lassen und weniger gut zu arbeiten. Ganz im Gegenteil, würde ich sagen, obwohl man auch hier nichts erzwingen darf. Wegen des immer schlechteren Ernährungszustan­des werden wir auch der Kälte immer weniger Widerstand leisten können, zumindest bei mir ist das der Fall. Und der Winter kommt erst noch. Und man muß dennoch weitermachen und produktiv bleiben.

20.06.1942 | Zur Erniedrigung sind zwei Leute not­wendig. Einer, der erniedrigt, und einer, den man erniedrigen will, oder vor allem: der sich erniedrigen läßt. Entfällt das letztere, ist also die passive Seite gegen jede Erniedrigung immun, dann ver­puffen die Erniedrigungen in der Luft. Was übrigbleibt, sind nur lästige Verordnungen, die das tägliche Leben beeinflussen, aber keine Erniedrigung oder Unterdrückung darstellen, die die Seele bedrängen. Zu dieser Einstellung müßte man die Juden erziehen. Ich radelte heute morgen über den Stadionkade, genoß den weiten Himmel über dem Stadtrand und atmete die frische, nicht ratio­nierte Luft. Und in der freien Natur überall Tafeln auf den Wegen, die für Juden. gesperrt sind. Aber auch über dem einzigen Weg, der uns verblieben ist, wölbt sich der gesamte Himmel. Man kann uns nichts anhaben, man kann uns wirklich nichts anhaben. [...] Man muß beginnen, sich selbst ernst zu nehmen, und das Übrige kommt von selbst. Und das „Arbeiten an sich selbst“ ist weiß Gott kein kränklicher Individualismus. Der Frieden kann nur dann zum echten Frieden werden, irgendwann später, wenn jedes Individuum den Frieden in sich selbst findet und den Haß gegen die Mitmenschen, gleich welcher Rasse oder welchen Volkes, in sich ausrottet, besiegt und zu etwas verwandelt, das kein Haß mehr ist, sondern auf weite Sicht vielleicht sogar zu Liebe werden könnte. Aber das ist vermutlich zuviel gefordert. Und doch ist es die einzige Lösung. So könnte ich weitermachen, viele Seiten lang.

29.06.1942 | Nach den letzten Nachrichten sollen alle Juden aus Holland deportiert werden, über Drenthe nach Polen. Und der eng­lische Sender berichtete, daß seit dem vergangenen Jahr 700 000 Ju­den in Deutschland und in den besetzten Gebieten umgekommen sind. Und falls wir am Leben bleiben, sind das ebenso viele Wunden, an denen wir unser ganzes Leben lang tragen müssen. Und dennoch halte ich das Leben nicht für sinnlos, Gott, ich kann mir nicht helfen. Gott ist uns auch keine Rechenschaft schuldig für die Sinnlosigkeit, die wir selbst anrichten. Wir sind Rechenschaft schuldig! Ich bin schon tausend Tode in tausend Konzentrationslagern gestorben. Ich weiß über alles Bescheid und neue Nachrichten beunruhigen mich nicht mehr. Auf eine oder andere Art ist mir das alles bewußt. Und doch finde ich das Leben schön und sinnvoll. Jede einzelne Minute.

03.07.1942 | In den letzten Tagen hat sich sehr viel in mir ereignet, und jetzt hat sich endlich etwas herauskristallisiert. Ich habe unserem Untergang ins Auge geblickt, unserem vermutlich elenden Untergang, der sich jetzt schon in vielen Kleinigkeiten des täglichen Lebens ankündigt, und diese Möglichkeit habe ich in mein Lebensgefühl einbezogen, ohne daß mein Lebensgefühl dadurch an Kraft verloren hätte. Ich bin nicht verbittert und wehre mich nicht dagegen, ich bin auch nicht mehr mutlos und schon gar nicht resigniert. Meine Entwicklung geht von Tag zu Tag ungehindert weiter, auch mit der Möglichkeit der Vernichtung vor Augen.

04.07.1942 | In letzter Zeit kommt es immer häufi­ger bei mir vor, daß ich bis in meine kleinsten täglichen Verrichtun­gen und Empfindungen einen Anflug von Ewigkeit verspüre. Ich bin nicht die einzige, die müde oder krank oder traurig oder ängst­lich ist, sondern ich teile das Los von Millionen anderer Menschen aus vielen Jahrhunderten. All das ist ein Teil des Lebens, und trotz­dem ist das Leben schön und sinnvoll noch in seiner Sinnlosigkeit, wenn man nur allen Dingen einen Platz im Leben einräumt und das ganze Leben als Einheit in sich aufnimmt, so daß es dennoch zu einem geschlossenen Ganzen wird. Und sobald man Teile davon ausschließt und ablehnt, sobald man eigenmächtig und willkürlich dies eine vom Leben annimmt, jenes andere aber nicht, ja, dann wird es in der Tat sinnlos, weil es nun kein Ganzes mehr ist und alles willkürlich wird.

06.07.1942 | Und jetzt frage ich mich: Sollten wir uns nicht auch schon von unseren Wünschen verabschieden? Wenn man beginnt, sich abzu­finden, muß man sich dann nicht mit allem abfinden? Er lehnte sich gegen die Wand in Dickys Zimmer, und ich schmiegte mich sanft und zärtlich an ihn. Äußerlich gab es keinen Unterschied zu zahllo­sen ähnlichen Augenblicken in meinem Leben, aber mir war plötz­lich, als spannte sich über uns ein Himmel wie in einer griechischen Tragödie: Einen Augenblick lang verschwamm alles vor meinen Sinnen, und ich stand mit ihm zusammen in einem unendlichen Raum, der von Bedrohungen, aber auch von Ewigkeit durchdrun­gen war. Vielleicht war dies gestern der Augenblick, in dem sich eine große Wandlung für immer in uns vollzog. [...] Und zwischen unseren Augen und Händen und Mündern fließt ununterbrochen ein Strom sanfter Zärtlichkeit, in der jede kleinliche Begierde ausgelöscht ist, es geht nur noch darum, gut zueinander zu sein mit aller Güte, deren wir fähig sind. Und jedes Zusammensein ist auch ein Abschiednehmen. [...]

07.07.1942 | Die meisten Menschen haben Klischeevorstellungen über das Leben im Kopf, man muß sich innerlich von allen gewohnten Vorstellungen und Parolen befreien, man muß jegliche Geborgenheit aufgeben und den Mut haben, auf alles zu verzichten, jede Norm und jeden kon­ventionellen Halt loszulassen und den großen Sprung in den Kos­mos zu wagen, und dann, erst dann wird das Leben überreich und unerschöpflich, auch im tiefsten Leid. [...] Es ist, als fielen jeden Augenblick mehr Lasten von mir ab, als wären alle Grenzen für mich aufgehoben, die heutzutage die Menschen und Völker trennen. In manchen Augenblicken kommt es mir vor, als wäre das Leben für mich durchsichtig geworden, und auch die Her­zen der Menschen, ich schaue und schaue, und begreife immer mehr, und ich werde innerlich immer friedvoller; in mir ist ein Ver­trauen auf Gott, das mich zunächst durch sein rasches Wachstum fast ängstigte, das mir nun aber immer mehr zu eigen wird.

11.07.1942 | Ich lebe täglich in einer harten Ungewißheit, die für meine Per­son jeden Augenblick zur Gewißheit werden kann, wie sie schon für viele, allzu viele Menschen zur Gewißheit geworden ist. Ich lege mir bis in die kleinsten Einzelheiten Rechenschaft über alles ab, und ich glaube, daß ich bei meinen inneren „Auseinandersetzungen“ mit beiden Füßen auf dem härtesten Boden der härtesten Realität bleibe. Meine Ergebung ist keine Resignation oder Willenlosigkeit. Es ist immer noch Raum darin für die elementare moralische Entrüstung über ein Regime, das so mit den Menschen umgeht. Aber die Eregisnise, die uns überrollen, sind zu gewaltig und dämonisch, als daß man darauf mit persönlichem Groll und erbitterung reagieren könnte. Das käme mir kindisch vor und wäre diesem „schicksalhaf­ten“Geschehen nicht angemessen.
Die Leute regen sich oft darüber auf, wenn ich sage: Es ist doch nicht entscheidend, ob ich gehe oder ein anderer, entscheidend ist doch nur die Tatsache, daß soviel Tausende gehen müssen. Und es ist keineswegs so, daß ich mit einem gelassenen Lächeln geradezu in meinen Untergang hineinrenne, nein, so ist es auch nicht. Es ist ein Gefühl des Unabwendbaren, ein Sich‑Abfinden mit dem Unab­wendbaren in dem Wissen, daß uns in letzter Instanz nichts genom­men werden kann. [...]

12.07.1942 | Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute nacht geschah es zum erstenmal, daß ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorbeizogen. Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigk­eit: ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen, Gott, daß du mich nicht verläßt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: daß du uns nicht helfen kannst, sondern daß wir dir hel­fen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst auch du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben. Ich fordere keine Rechenschaft von dir, du wirst uns später zur Rechenschaft ziehen. Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, daß du uns nicht helfen kannst, sondern daß wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen.

20.07.1942 | Unbarmherzig, unbarmherzig. Aber um so barmherziger müssen wir innerlich sein, das ist das einzige, um das sich mein Gebet heute morgen in der Frühe drehte: Mein Gott, diese Zeiten sind zu hart für so zerbrechliche Men­schen wie mich. Ich weiß, daß danach wieder andere, humanere Zeiten kommen werden. Ich möchte so gern am Leben bleiben, um all die Menschlichkeit, die ich trotz allem, was ich täglich mitma­che, in mir bewahre, in diese neue Zeiten hinüber zu retten. Es ist die einzige Möglichkeit, die neue Zeit vorzubereiten, indem wir sie schon jetzt in uns vorbereiten. Irgendwie fühle ich mich innerlich ganz leicht, ohne jede Erbitterung, ich spüre soviel Kraft und Liebe in mir. Ich würde gern am Leben bleiben, um die neue Zeit vorbe­reiten zu helfen und das Unzerstörbare in mir für die neue Zeit auf­zubewahren, die sicherlich kommen wird. Sie kommt ja täglich näher, ich spüre es doch. So etwa lautete heute morgen mein Gebet. Ich kniete spontan auf die harte Kokosmatte im Badezimmer nie­der, und die Tränen strömten mir über das Gesicht.

23.07.1942 | Gestern abend, nach dem langen Weg durch den Regen mit mei­nen Füßen voller Blasen, bin ich noch ein Stück weitergegangen, um einen Blumenkarren zu suchen und kam mit einem großen Strauß Rosen nach Hause. Und da stehen sie. Sie sind genauso wirklich wie all das Elend, das ich jeden Tag miterlebe. In meinem Leben ist Platz für viele Dinge. Und ich habe viel Platz, mein Gott. Als ich heute durch den übervollen Korridor ging, verspürte ich plötzlich den Drang, dort auf dem Steinfußboden, inmitten all der Menschen nie­derzuknien. Das einzige menschenwürdige Verhalten, das uns in dieser Zeit noch geblieben ist: das Knien vor Gott.

24.09.1942 | Immer wieder steigt wie eine kleine, wärmende Welle das Gefühl in mir auf, auch nach den schwersten Augenblicken: Wie ist das Leben doch schön. Es ist ein unerklärliches Gefühl. Es findet auch keinerlei Halt an der Realität, in der wir jetzt leben. Aber es gibt doch auch andere Realitäten außer denen, die man in der Zeitung liest und in den gedankenlosen, erregten Gesprächen aufge­schreckter Menschen findet? Es gibt auch die Realität dieser klei­nen, rosaroten Zyklame und des großen Horizontes, die man auch im Lärm und im Wirrwarr dieser Zeit immer wieder entdecken kann.
Schenke mir eine Gedichtzeile am Tag, mein Gott, und wenn ich sie nicht immer aufschreiben kann, weil es kein Papier und kein Licht gibt, dann werde ich sie abends leise unter deinem großen Himmel aufsagen. Aber schenke mir ab und zu eine einzige kleine Gedichtzeile.

03.07.1943 | Das Elend, das hier herrscht, ist wirklich unbeschreiblich. Wir hau­sen in den großen Baracken wie Ratten in einem Abwasserkanal. Man sieht viele dahinsterbende Kinder. Aber man sieht auch viele gesunde Kinder. Vorige Woche kam in der Nacht ein Gefangenen­transport bei uns durch. Wachsbleiche und durchsichtige Gesichter. Ich habe noch nie so viel Erschöpfung und Müdigkeit auf Men­schengesichtern gesehen wie in jener Nacht. [...]
Das Elend ist wirklich groß, und dennoch laufe ich oft am späten Abend, wenn der Tag hinter mir in die Tiefe versunken ist, mit federnden Schritten am Stacheldraht entlang, und dann quillt es mir immer wieder aus dem Herz herauf – ich kann nichts dafür, es ist nun einmal so, es ist von elementarer Ge­walt –: Das Leben ist etwas Herrliches und Großes, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen – und jedem weiteren Verbre­chen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stück­chen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen. [...]

18.08.1943 | Du hast mich so reich gemacht, mein Gott, laß mich auch mit vollen Hän­den davon austeilen. Mein Leben ist zu einem ununterbrochenen Zwiegespräch mit dir, mein Gott, geworden, zu einem einzigen großen Zwiegespräch. Wenn ich in einer Ecke des Lagers stehe, die Füße auf deiner Erde, das Gesicht zu deinem Himmel erhoben, dann laufen mir manchmal die Tränen über das Gesicht, entsprun­gen aus einer inneren Bewegtheit und Dankbarkeit, die nach einem Ausweg sucht. Auch abends, wenn ich im Bett liege und in dir ruhe, mein Gott, rinnen mir manchmal die Tränen der Dank­barkeit übers Gesicht, und das ist mein Gebet. Ich bin sehr müde, schon seit einigen Tagen, aber auch das wird wieder vorbeigehen, alles verläuft nach einem eigenen, tieferen Rhythmus, und man müßte die Menschen lehren, auf diesen Rhythmus zu horchen, es ist das Wichtigste, was ein Mensch in diesem Leben zu lernen hat. Ich kämpfe nicht gegen dich, mein Gott, mein Leben ist ein großes Zwiegespräch mit dir.