Wer war Rudolf Steiner?

Dieses Buch sucht Menschen, die sich für die Frage interessie­ren: Wie war Rudolf Steiner als Persönlichkeit? – und die dar­über lieber von einem Augenzeugen etwas hören wollen als von Fernstehenden und Gegnern. Ihnen wird erzählt, wie ein Mensch mit protestantisch‑theologischer Vorbildung aus der Geistesgeschichte unserer Zeit heraus zu Rudolf Steiner kam und was er an ihm erlebte. Die Schilderung hat ihre Grenzen: Intim‑Persönliches gehört nicht in die Öffentlichkeit, obwohl gerade oft das überzeugendste erlebt wird; und Okkult­-Geistiges kann nicht immer für weite Kreise ausgesprochen werden, obwohl hier wiederum die stärksten Erlebnisse liegen können. Innerhalb dieser Grenzen aber will ich sagen, was sich nur irgend sagen läßt, und werde mich nicht abhalten lassen durch den Mißbrauch, der mit solchen Erzählungen von Gegn­ern getrieben wird. [...]

Wer sich heute umschaut, der ist immer wieder erschüttert darüber, wie die Menschheit überall an Stellen steht, an denen ihr nur noch die Anthroposophie helfen kann. Fast kein Tag vergeht, an dem man dafür nicht neue Beispiele erlebt. Aber die Menschheit weiß nichts von dieser Hilfe oder will nichts von ihr wissen. Daß es so geworden ist, daran ist zum großen Teil schuld der Giftnebel der Verleumdung, der über den Urheber der Anthroposophie aus­gebreitet worden ist, um ihn nicht nur unsichtbar, sondern ver­ächtlich zu machen. Die zunehmende Not auf allen Gebieten, trotz glänzender äußerer Entdeckungen, und das Versagen der anderen Hilfen wird die Menschheit schon heranführen an die Anthroposophie. Daß dies etwas eher geschieht, zum Vorteil der Menschheit, dazu möchte dieses Buch mitwirken. Nicht um einen Beweis für die Anthroposophie kann es sich hier handeln – der muß auf andere Weise geführt werden –, sondern nur um ein Wort für ihren Begründer. Dies aber mag um so notwendiger erscheinen, als die Anzeichen sich mehren, daß man nach alter Räuberart verfährt: den Menschen, den man getötet hat, her­nach zu plündern. Man hat das Seinige dazu getan, Rudolf Stei­ner geistig tot zu machen. Nun nimmt man ihm noch seine geistigen Güter ab und trägt sie als eigenen Besitz zur Schau. [...]

(S. 12-13)

Das Größte erkennen – ohne Neid

Jahre hindurch hatte ich gesagt: Wenn ich an das Schicksal einen Wunsch freihabe, so ist es dieser, daß ich an dem Größten, was in meiner Zeit geistig geschieht, nicht vorübergehe; ich möchte am wenigsten das Geschick Friedrichs des Großen haben, der gleichzeitig mit Goethe lebte und ihn nicht erkannte. Wie entstehen solche Wünsche im Menschen?

Sind sie Vorgefühle dessen, was kommen soll? Sind sie dunkle Erinnerungen an einen Auftrag, den uns unser Engel zuflü­sterte, als wir in die Erdenwelt entlassen wurden? Aber gerade diese Gesinnung ist mir von „wohlmeinenden Freunden“ ins Üble gedeutet worden. „Warum weisen Sie immer auf andere hin? Sie sind doch selber einer!“ Eben dieser Wunsch „selber einer“ zu sein ist für viele bedeutendere Geister unter unseren Zeitgenossen das entscheidende Hindernis gewesen, Rudolf Steiner zu erkennen. Es fehlte – ich spreche es mit Nachdruck aus – der letzte Wahrheitswille. Es fehlte auch das sichere Selbst­gefühl, das sich nicht verliert, wenn es sich an die rechte Welten­stelle rückt. Es fehlte auch das Verantwortungsbewußtsein, das ohne das Fieber der Eifersucht einem Allertüchtigsten die freie Hilfe aller Tüchtigen schuldig weiß.

Damals also saß Michael Bauer mir gegenüber. Ich versuchte das Gespräch einzuleiten mit der im Ton lächelnder Überlegen­heit vorgebrachten Frage: „Sie glauben also an Wiederverkörpe­rung?“ Aber ich sah sofort, daß ich diesen Ton ein für allemal abzulegen hatte. Ein Schatten ging über das offene geistig-­leuchtende Gesicht. Nicht unfreundlich, aber im Ton sicherer Abwehr kam die Antwort: „Ich kann nicht anders.“ Nun erzählte er mir, in diesen und in den folgenden Gesprächsstun­den, wie sein innerstes Suchen immer nach Christus gefragt habe. Daß er Christus als Gottessohn verehrend in sich tragen könne, bei allem unbefangenen Drinstehen in dem Wissen und Forschen der Zeit, das verdanke er der „Theosophie“. Selbst wenn alles andere, das sie ihm gebracht habe, ihm wieder genommen werden könnte, dies Höchste sei ihm unverlierbar durch sie geworden,

Der beste Beweis für die Wahrheit seiner Worte war der Mensch selbst. Hier war ein Christ‑Sein noch anderer Art als selbst bei Friedrich von Bodelschwingh oder Christoph Blumhardt, denen ich auch gegenübergesessen habe. Dort lebte Christus in der Tiefe des Herzens und im reinen Wahrheitsgefühl für eine höhere Welt. Hier wohnte Christus im Licht des klaren Geistes und im Allerheiligsten eines freien Ich. Das war etwas Höheres. Blumhardt besonders war eine vereh­rungswürdige Edelblüte protestantischer Gläubigkeit. Michael Bauer war ein unerwarteter Bote eines Zukunfts‑Christentums. Das Christ‑Sein als Gipfel der vollen Weltwachheit und der durchdringenden Geistesklarheit und der höchsten Ich‑Frei­heit: das ahnte ich damals.

Später hatte ich in einer Berliner Versammlung einmal erlebt, daß mir der Satz entgegengeschleudert wurde: „Wir haben doch Christus! Was brauchen wir den Dr. Steiner?“ Darauf erwiderte ich: Es sollte mich wundern, wenn unter uns nicht Menschen wären, die von sich sagen müßten: Ohne Rudolf Steiner hätten wir Christus nicht gefunden. Und vier oder fünf Menschen in der Versammlung sprachen sich mit Wärme in diesem Sinn aus. [...]

(S. 17-19)

Beginn der Auseinandersetzung

Da hatte ich nun auf einmal einen Stoß „theosophischer“ Lite­ratur im Haus. Auch die Bücher der amerikanischen Richtung Catherine Tingleys, die ich vom deutschen Vertreter dieser Theosophie, der zufällig auch in Nürnberg wohnte und wirkte, erhalten hatte. Aber diese Bücher legte ich nach kurzem Ein­blick seelenruhig auf die Seite. Ich hätte mich von Hegel und Fichte verachtet gefühlt, wenn ich diese kindliche Geistigkeit ernstgenommen hätte. Hier hatte man die Welterkenntnis in altertümlichen Schachteln schön auf geteilt und lebte in anmuti­gen Gefühlen. Auch Annie Besant und ihre Geistesverwandten machten mir keine Unruhe. Da bestand auch der Geist in einer Mischung von alten Überlieferungen und subjektiven Gefüh­len. Es stieg eine Wolke aus diesen Schriften auf, aus der allerlei Ungesundes, Gewolltes, Glücksgieriges mir entgegenschlug.

Der einzige, der mich interessierte, war Rudolf Steiner. Aber freilich – war er nicht wie von einem anderen Stern herunterge­schneit? Wie kann man solche unerhörten Dinge behaupten, eines nach dem anderen, immer wieder Neues? Wie kann man solche unerhörten Dinge mit der Miene eines nüchternen Registrators vortragen? Damals hatte ich noch keine Ahnung, daß Rudolf Steiner sich durch philosophische Werke geschichtli­cher und grundsätzlicher Art bewiesen hatte, ehe er als Geistes­forscher vor die Menschen trat, hatte noch keine Ahnung, daß ihm das Reich der naturwissenschaftlichen Forschungen wohl­vertraut war. Ich fühlte nur: Dieser Mann war ernst zu nehmen. Der Geisteston seiner Aussagen war so, daß das Schämen vor Hegel und Fichte aufhörte.

Man hatte mir von Anfang an den Zugang zu den intimen Vorträgen – den sogenannten Zyklen – freigegeben. So nahm ich vor allem in die Hand, was den Theologen in mir herausfor­derte. Manches Blatt Papier beschrieb ich, um mir die Stellen anzumerken, an denen Rudolf Steiners Bibelerklärung ganz unmöglich schien. In meiner Ratlosigkeit gegenüber einer sol­chen „Geistesforschung“ suchte ich nach einem Punkt, wo ich unwiderleglich hätte sagen können: „Hier ist ein offenkundiger Fehler! Damit ist auch alles andere verdächtigt!“ Hat irgendein Theologe einen solchen nachweisbaren Fehler gefunden? Ich fand keinen. Wohl blieben mir manche Auslegungen unzugäng­lich, ja recht unwahrscheinlich. Die Fremdheit, mit der mich vieles berührte, auch unsympathisch berührte, konnte kaum größer sein. Ließ ich es aber bei diesem Eindruck nicht bewen­den, sondern dachte unbefangen weiter, so tauchten neue Mög­lichkeiten auf. Allerdings mußte ich dem Redner den Zuhörerkreis, vor dem er damals sprach, und die Mangelhaftigkeit der Nachschrift zugute halten. Aber das war ja billig. So endeten solche Versuche damit, daß ich meist mir sagen mußte: Vielleicht hat er doch recht! Und neben den wenigen dunklen Stellen, auf die man dann leicht hinstarrte, standen überraschende neue Erleuchtungen in solcher Fülle, daß man vorsichtig und bescheiden wurde – und immer wißbegieriger.

Vor allem war mir als Theologen interessant die unerhörte Selbständigkeit, in der hier die Bibel betrachtet wurde aus einem ganz anderen Geist heraus. Man hatte nur die Wahl: Entweder hat dieser Mann gar keine Ahnung von dem, wie wir die Bibel als Theologen anse­hen, oder er bringt ein völlig Neues! Oft bin ich später dann doch mit einer Liste in der Tasche zu Rudolf Steiner gegangen, auf der die anfechtbaren Bibelauslegungen verzeichnet standen. Aber wenn ich mit ihm sprach, schien mir anderes viel wichti­ger. Meine Bibelstellen blieben als unwesentlich in der Tasche gegenüber dem, was ich dann fragen und erfahren konnte. Nur hin und wiederüberzeugte ich mich durch eine kurze Frage, daß doch diese Bibelauslegungen sehr gewichtige Hintergründe hat­ten. Der Geist Rudolf Steiners hatte zu mir gesagt: Sieh doch, was hier alles zu dir sprechen will! Lebe dich einmal mit gutem Willen in diese Welt ein! Wenn du erst vom Ganzen mehr ver­stehst, wird sich manches klären, was dir jetzt Beschwerde macht! Und wenn nicht: ist es wirklich so wichtig? Kann eine neue Geistigkeit anders kommen, als daß sie an Altgewohntem hart anstößt? Wird man ihr gerecht, wenn man an solche Stellen sich heftet und von ihnen aus mit dem Ganzen „fertig“ zu wer­den sucht? Muß man nicht erst einmal das Ganze aus seinem eigenen Leben und Wesen heraus erfassen?

(S. 20-22)

„Wenn dieser Mann hier recht hat...“

Auf meinem Schreibtisch lag damals „Die Geheimwissen­schaft“. Ich sehe sie noch liegen. Sie verdroß mich. Ich konnte nicht durchkommen. Hatte ich eine Welle darin gelesen, so ergriff mich Übelkeit. Wie unverdaute Speisen lagen alle diese „Erkenntnisse“ mir im Magen. Vorsichtig mußte ich essen, immer nur ein paar Seiten, wenn mir nicht alles leid werden sollte. So habe ich wohl ein Jahr gebraucht, bis ich wußte, was drinstand. Ich hatte damals noch nicht die rechte Weise gefun­den, wie ich solche Schriften aufzunehmen hatte. Heute weiß ich, daß die Menschen eine ganz neue Art zu lesen aufbringen müssen, wenn ihnen solche Werke sagen sollen, was sie sind.

Hier liegt meines Erachtens für fast alle Menschen der älteren Generation ein entscheidendes Hindernis, an Rudolf Steiner auch nur heranzukommen. Man muß frei lesen können, mit viel größerer Unbefangenheit, als sie anderen Schriften gegenüber nötig ist, um weder etwas voreilig anzunehmen noch etwas vor­eilig abzulehnen; man muß mit größter Seelenruhe etwas dahin­gestellt sein lassen und abwarten, ohne Aufregung darüber, daß Altgewohntes zu wanken beginnt. Man muß aktiv lesen kön­nen, indem man unablässig das Gelesene am Leben prüft und das Leben am Gelesenen, so daß man sich gegen die Überflut der neuen Behauptungen seinen festen Standort im Leben sichert. Man muß auch meditativ lesen können, indem man immer wie­der längere Pausen einschiebt, das Gelesene gleichsam in sich selbst nachbildet und ihm, in aller Ruhe und vorurteilsloser Freiheit, seinen eigenen Geist und sein eigenes Leben ablauscht.

Tut man dies nicht, so überläßt man es kommenden Generatio­nen, den Geist und das Leben dieser Bücher zu entdecken. Sie bleiben einem dann abstruse Literatur. [...] Alle Wider­sprüche und Widerstände, denen ich später bei meinen Herren Mittheologen begegnete, habe ich in jenem ersten Jahr selbst durchgemacht. Und mein einziges Verdienst war nur – daß ich bei ihnen nicht stehenblieb. Irgend etwas in mir sagte: Du bist nicht ehrlich gewesen gegen das Unbekannte, wenn du dich jetzt abwendest! Du mußt vor allem anderen fragen: Was ist wahr? Du darfst nicht rasch entscheiden wollen, welche Wahrheit du dir wünschest und für die Welt für nützlich hältst! Du mußt es verstehen, deine unmittelbaren Lebensaufgaben nicht liegenzu­lassen und doch eine neue Welt langsam zu verarbeiten! Du mußt Geduld haben, wie sich dies alles geistig und seelisch in dir entwickelt! [...]

Eines war mir bald klar: Den von mir erbetenen Vortrag über die religiösen Strömungen der Gegenwart, für den ich mich nun auch mit Theosophie beschäftigt hatte, kann ich nicht halten! Oder nur so, daß ich offen sage: Hier ist etwas, das wir noch nicht verstehen! Denn wenn dies hier Wahrheit enthält, dann wird der ganze Anblick der Gegenwartsgeistigkeit anders. Da war ich nun am wichtigsten Wendepunkt. Während ich in den Schriften Rudolf Steiners las, sprach oft eine leise Stimme in mir. Erst nach und nach wurde ich auf sie aufmerksam. Sie sagte: „Wenn dieser Mann hier recht hat, dann bist du mit all deinem Wissen ein ganz kleiner Knirps! Dann kannst du gerade noch einmal von vorn anfangen! Und dahin wirst du doch nie kom­men, dies alles nachprüfen zu können mit den versprochenen höheren Organen! So wirst du, wenn du dies überhaupt in dich hereinläßt, für immer zu einem Schüler herabsinken! Du mußt deine ganze Geistesart von Grund auf neu aufbauen, in dem Augenblick, wo du geglaubt hast, als Lehrer vor den Menschen zu stehen, wo sie dich als Lehrer suchten und brauchten! Und viel wirst du in dem Neuen auf keinen Fall mehr erreichen!“

Wer diese Stimme aus eigener Erfahrung kennt, der hört sie dann auch bei anderen – die sie selber nicht hören. Da schreibt einer zum Beispiel ein gelehrtes Buch, worin er nachweist, daß die Menschheit all diese neue Weisheit gar nicht braucht, daß sie dasselbe ja schon immer in ihrer Religion habe, „wenn sie sie nur ernst nehmen wolle“, oder er weist nach, daß sich zu all dem Neuen geschichtliche Analogien finden lassen, die er längst kenne, oder er weist nach, daß man „seit Kant“ von dem „Ding an sich“ ja nichts mehr wissen könne, oder erweist nach, daß alle diese neuen Erkenntnisse durchaus nicht so wichtig seien und an dem Wichtigsten, an „Gott“ nur vorüberführten, und derglei­chen mehr. Wer feiner hinhört, vernimmt oft die Stimme, die vom kleinen Knirps spricht. Er vernimmt sie aus dem Unwillen, mit dem man eine wirkliche Prüfung des Neuen nach seinen eigenen Gesetzen abweist, aber auch aus der Scheinüberlegenheit, in der man sich dem Neuen gegenüber gefällt, um die eigene Schwäche zu verbergen.

Ganz besonders, wenn ich die Theolo­gen sagen hörte, sie vermissen in der Anthroposophie „die rechte Erkenntnis der Sünde“, den „Ruf zur Buße“ – da hätte ich immer fragen mögen: Steht es nicht vielleicht so, daß ihr nicht „Buße tun“ wollt? Auch die Buße hat viele Gestalten: einem „intellektuellen“ Zeitalter, einem geistesstolzen Geschlecht könnte gerade die Buße zugemutet werden, daß man die Ehr­lichkeit und den Mut hat, vor neuen Erkenntnissen klein zu werden. Hier ist die Prüfung unserer Geistesart! Vielleicht das Gericht unserer Zeit! Wo sind die Menschen, die sagen: Dies alles ist uns noch zu neu, wir müssen es erst gründlich verarbei­ten!? Einige wenige habe ich doch gefunden, auch unter den Universitätsgelehrten, die unter vier Augen etwa sagten: „Dar­auf kann ich mich nicht mehr einlassen! Wenigstens nicht gründlich genug. Und anders will ich nicht. Dazu aber fehlt mir die Zeit und die Kraft! Das muß eine jüngere Generation tun! Doch ich werde auch nicht ungeprüft dagegen reden.“ Das war ehrlich, wenn auch nicht die Antwort, die man von einem radi­kalen Wahrheitsforscher erwartet.

Jedem, der Rudolf Steiner wirklich sehen will, kann man nur ernstlich raten, auf die Stimme vom kleinen Knirps zu achten und ihr nicht zu erlauben, daß sie sich hinter Gelehr­samkeit oder Frömmigkeit versteckt. Wäre sie nicht da, so hätte zum Beispiel das Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ eine ganz andere Aufnahme erfahren müssen. Hier hat Rudolf Steiner klar gesagt, wie er zu sei­nen Ergebnissen gekommen ist. Aber dieses Buch wird im Grund totgeschwiegen. Keiner ist aufgetreten und hat gesagt: Ich kenne diese Erlebnisse auch, aber sie sind Täuschung. Keiner ist aufgetreten und hat gesagt: Ich habe diese Organe mir erworben, aber ich bin mit ihnen zu anderen Resultaten gekom­men. Man geht wohlweislich an dem entscheidenden Punkt vor­bei. Oder man hilft sich mit Hohn.

(S. 23-26)

Erste Begegnungen und eigene Erfahrungen

Als ich nun vor der Tatsache stand, Rudolf Steiner ganz per­sönlich gegenüberzustehen, sagte ich zu meinem Freund „Es ist mir doch etwas unbehaglich zumute. Wenn der Mann wirklich die Aura sieht?“ Fein und vergnügt lächelte Michael Bauer: „Der liebe Gott weiß es ja doch“, sagte er. Da bäumte sich das Selbstgefühl auf. „Es ist mir überhaupt ganz einerlei, was der sieht. Der kann sehen, was er will.“ Vor dem Hotel Maximilian, wo Steiner damals wohnte, ging es mir noch durch den Sinn: Nun ja, heute hast du eine große Gemeinde und dieser Mann eine kleine; wenn er recht hat, dann wird in zwanzig Jahren er eine große Gemeinde haben, und du eine kleine; aber er hat Anspruch darauf, Menschen zu begeg­nen, die danach nicht fragen.

Oben in der halbgeöffneten Tür stand Rudolf Steiner, der eben einen anderen Gast entlassen hatte, und schaute mir höchst aufmerksam zu, wie ich langsam die Treppe heraufstieg. Ich habe nie einen Menschen so aufmerksam beobachten sehen, wie er es konnte. Es war, als ob er – ganz unbeweglich, aber selbstlos hingegeben – den anderen sich selbst gleichsam noch einmal erschaffen ließe, in einem feinen Element der eigenen Seele, das er ihm zu diesem Zweck darbot. Es war kein Nachdenken über den anderen, sondern mehr ein inneres geistiges Nachbilden, in dem das ganze Werden des anderen offenbar werden konnte.

(S. 35)

Fast ein dreiviertel Jahr verging, ehe ich Rudolf Steiner wie­dersah. Mir war es damals recht, daß ich so in einem gewissen Abstand meine Studien machen und meine Freiheit sicherer wahren konnte. Mehr noch als das Lesen der anthroposophi­schen Werke führten mich die Erlebnisse an den Übungen in die neue Welt ein. Abgesehen davon, daß ich ein Reich heilender Geistigkeit entdeckt hatte, von dem ich mich nur zu meinem eigenen großen Schaden nicht hätte stärken lassen können, abgesehen davon, daß ich erkennen mußte: sie erweisen sich als im gesunden Entwicklungsgang des Menschen und der Mensch­heit liegend, offenbarte es sich immer mehr, daß ich eine ganz unbegründete Furcht vor dem „Okkulten“ gehabt hatte. Wenn auch die Eindrücke aus der geistigen Welt zunächst höchst pri­mitiv waren, so trugen sie doch gar nicht das Unheimliche an sich und Nervengefährliche, das ich erwartet hatte, sondern waren wie aus einem Reich des Lichts, in dem alle Furcht aufhö­rte. Auch dies stärkte mein Vertrauen, daß ich niemals das erlebte, was ich zu erleben dachte und erwartete, sondern ganz anderes. Auch die Vorstellungen, die ich mir nach den Schilderu­ngen Steiners selbst gemacht hatte, zeigten sich als nicht entsprechend. ­Dagegen fanden seine Schilderungen oft dann von einer ganz anderen Seite her ihre Bestätigung. Zu suggerieren vermochte ich mir gar nichts. Es gab Übungen, die ich viele Jahre hindurch fast täglich versuchte und niemals fertigbrachte. Dies alles, das natürlich nicht im einzelnen eingehend erzählt werden kann, zerstreute allmählich den Verdacht der Suggestion und Autosuggestion, den ich so lang wie möglich in mir wachhielt, und gab ein Gefühl der Sicherheit und Selbständig­keit. Am meisten Vertrauen aber erweckte mir, daß ich auf mei­nem persönlichsten Lebensgebiet, der Religion, durch die Übungen unerwartete Hilfe erfuhr. Die religiösen Eindrücke wurden reiner, tiefer, stärker. Schon dies allein würde mich Rudolf Steiner zum tiefsten Dank verpflichten. Und die Men­schen, für die ich in meinem Lebensberuf zu sorgen hatte, emp­fingen unmittelbar den Segen davon, auch wenn sie gar nicht wußten, woher er kam.

(S. 42-43)

In der Zwischenzeit hatte sich bei den Übungen immer deutlicher heraus­gestellt, daß es so etwas wie einen Lebensleib (Ätherleib) wirk­lich gibt. Er hat seine eigenen Lebenszentren, die nicht mit den körperlichen Organen zusammenfallen und von ihnen wohl zu unterscheiden sind durch viel geistigere Lebensgefühle. Er hat auch seine eigenen Lebensströmungen, die der Mensch bis zu einem gewissen Grad in seine Gewalt bekommen kann. Der Mensch kann seinen eigenen Lebensleib wahrnehmen lernen und bemerkt dann deutlich, wo er besser ausgebildet, wo er mehr unentwickelt ist. Nun interessierte mich brennend, ob Steiner beim einzelnen Menschen dasselbe sieht, was dieser von sich aus wissen kann. Nach seinen Schriften mußte das unbe­dingt der Fall sein. Aber vielleicht sagte er das Richtige, doch nicht, weil er es unmittelbar wahrnahm, sondern weil er irgend­wie an dem Menschen ablas, der ihm gegenüberstand, was dieser dachte und erwartete, weil er es aus dessen Bewußtsein heraus­holte? So suchte ich mich zu sichern, indem ich zu Hause genau niederlegte, was ich zu empfinden glaubte, was besser, was schlechter war nach meiner Meinung, daß ich aber dann jeden Gedanken daran in mir tilgte. Wie nebenbei fragte ich dann Steiner, wie es eigentlich um den Ätherleib stehe – und dachte krampfhaft an andere Dinge. Aber ich erschrak doch fast, wie er nun anfing zu beschreiben, exakt und sicher wie ein Naturfor­scher, der das Objekt vor sich hat, genau so, wie es mir allein bewußt sein konnte. Meine Vorsicht war jedoch noch nicht zufriedengestellt. Ein Jahr später wiederholte ich das Experi­ment. Dazu reizte es um so mehr, als sich in der Zwischenzeit vieles geändert hatte in diesem Lebensleib, ja direkt ins Gegenteil umgeschlagen war. Wieder sicherte ich mich und fragte. Steiner ging in allen solchen Fällen immer bereitwillig und ohne jedes Zögern auf meine Fragen ein. Er sagte wohl auch gelegent­lich: „Ich weiß ja, daß Sie aus wirklichem Wahrheitsinteresse fragen.“ Als ich fragte, begann er sofort: „Zu meiner Überra­schung hat sich in der Zwischenzeit vieles geändert; ich habe das nicht erwartet ...“ Und wieder beschrieb er exakt wie ein Naturforscher, mir nur noch deutlicher machend, was mir selbst schon deutlich war. [...]

(S. 47-48)

Die Wiederverkörperung als Tatsache

Will ich beschreiben, was man in der Umgebung Rudolf Stei­ners erlebte, so darf ich auch die Gespräche über Wiederverkör­perung nicht ganz verschweigen. Ein gegenwärtiges Geschlecht mag mit solchen Erzählungen Unfug treiben, ein kommendes Geschlecht hat das Recht darauf, auch hier einiges mehr von der persönlichen Seite herzu erfahren, und wird dafür dankbar sein.

In der weiteren Beschäftigung mit der Anthroposophie war mir aufgegangen, daß ich ja als Kind und später immer wieder bis zum einundzwanzigsten Jahr in dem Gedanken gelebt hatte, daß ich schon mehrmals dagewesen sei auf der Erde. Dieser Gedanke lebte gleichsam ein zweites Leben neben dem Geistes­leben, das ich als Sohn eines evangelischen Pfarrhauses empfing, und war von mir niemals mit irgend jemand besprochen wor­den. Weniger um Persönlichkeiten der Vergangenheit handelte es sich, in denen man dagewesen zu sein glaubt, oder dies nur vorübergehend mehr spielerisch und ohne Überzeugung, als vielmehr um Zeiten und Menschenkreise, denen man sich inner­lich verwandt fühlte. Wie ich zum erstenmal eine Weltge­schichte las – es war im Alter von acht Jahren –, war mir diese Verwandtschaft aufgegangen und hatte sich seitdem von ver­schiedenen Seiten her immer wieder aufgedrängt.

Erst vom ein­undzwanzigsten Jahr an, als man ganz bewußt in den Geist der Zeit eingegangen war und keine Möglichkeit mehr hatte, solche Seeleneindrücke mit den Anschauungen der Gegenwart zu verbinden, war dieser Wiederverkörperungsgedanke ganz versun­ken. Ja, ich hatte eben einen Aufsatz in den „Süddeutschen Monatsheften“ geschrieben, worin ich ausführte, daß dieser Gedanke – ich kannte ihn damals nur in der indisch‑theosophi­schen Form – den christlichen Jenseitsvorstellungen gegenüber in seiner Konkretheit und Anschaulichkeit zwar manchen Vor­zug habe, aber doch mit dem Christentum unvereinbar sei und nur in seinen Tendenzen manche Bedürfnisse der Seele zum Ausdruck bringe, auf die geachtet werden müsse. Nun tauchte aber die Grundfrage neu auf. Und ich mußte mir gestehen, daß gegenüber der Wiederverkörperungslehre in der Form Steiners meine christlichen Widersprüche nicht aufrechterhalten werden können.

Jetzt war ich gespannt, wie sich das, was Steiner mir auf diesem Gebiet persönlich zu sagen hatte, zu dem ver­halte, was ich selbst geglaubt hatte. Er nannte auf meine Frage sofort die Zeit, die mir vertraut war, fügte aber gleich hinzu: „Mehr möchte ich darüber nicht sagen. Solche Eindrücke wer­den auch für mich selbst zu fest, wenn ich sie ausspreche. Ich möchte erst noch genauer prüfen.“ Nach der Zeit hatte ich ihn gefragt, nicht etwa nach irgendeiner Persönlichkeit. Der gei­stige Takt, der sich in der Gegenwart Steiners bildete, sagte mit aller Deutlichkeit, daß man danach nicht zu fragen habe. Etwas mehr wollte ich aber doch wissen, und so fügte ich hinzu: „Ihre Lehre ist mir so fremd, daß ich nicht glaube, dazu jemals in einem vorigen Leben schon eine Beziehung gehabt zu haben.“ – „Das haben Sie auch nicht“, war die Antwort. Und nun wies er mich auf das Christentum hin und auf gewisse Eigenschaften des Charakters, die er klarer sah, als ich sie damals sah, und die mir tiefe Vorgänge des eigenen Lebens erklärten, zum Beispiel die Wahl meiner ersten Predigttexte, von denen er ja nichts wußte. [...]

Wie solche Gespräche über Wiederverkörperung mit Rudolf Steiner verliefen, darüber mag wohl noch ein Wort am Platz sein. Anzunehmen, daß es Wiederverkörperung gibt, erscheint ja den meisten Menschen unseres Kulturkreises heute noch als halber Irrsinn, trotz Lessing und Goethe, und noch verrückter erscheint ihnen die Behauptung, daß jemand etwas über frühere Verkörperungen wissen kann. Wenn nun auch das Persönlich­ste auf diesem Gebiet nicht der Öffentlichkeit gehört und darum der Erzählung eine letzte Lebendigkeit und Anschaulichkeit fehlen muß, so liegt doch in der Art, wie Rudolf Steiner die Gespräche über Wiederverkörperung führte, ein solches Ver­mächtnis an die Menschheit, daß es ihr nicht vorenthalten wer­den darf. Nicht mit dem leisesten Hauch hat er hier der mensch­lichen Eitelkeit geschmeichelt. Im Gegenteil, man sah ihn mit der größten Sorgfalt alles ausdrücklich tilgen, was diese mensch­liche Eitelkeit hätte begünstigen können. Ebenso war er unzu­gänglich für jede Frage menschlicher Neugier. Ich habe ihn mehrmals gesehen, wenn andere ihn fragten. Wie ein ganz siche­rer Geistesfechter ließ er alle Versuche, direkt oder indirekt etwas „herauszubringen“, ohne viel Anstrengung unwirksam abgleiten. Er lenkte auf die sachlichen Zusammenhänge und bog von persönlichen Sensationen unweigerlich ab. [...]

Mit das Merkwürdigste an ihm war mir immer, wie viele Geheimnisse er auf diesem Gebiet ganz fest verschlossen mit sich herumzutragen sich bewußt war und schließlich, ohne daß ein einziger Mensch etwas davon erfuhr, mit in den Tod nahm. Nicht nur, daß er sich niemals verlocken ließ, irgendeine Andeutung zu machen. Es hätte ja vorkommen können, daß man aus zufälligen Nebenäußerungen etwas hätte schließen können. Aber auch dies ist ihm niemals begegnet. Er sagte nur, was helfen konnte, und vermied, was, auch in Zukunft, schaden konnte. Man muß ihn nur gesehen haben, wie er im ganzpersön­lichen Gespräch über diese Fragen redete. Seine großen dunklen Augen wurden noch wacher. Mit einer Verantwortungsbe­wußtheit, die man sich gar nicht größer und reiner hätte denken können, sprach er zögernd jedes Wort. Es war, als ob er ungese­hen in einen Tempel getreten sei, wo er vor den Augen höherer Mächte handelte. Man hätte alle Empfänglichen der Menschheit herbeigewünscht, damit sie wenigstens dieses menschliche Schauspiel sehen. Wenn die Wiederverkörperungslehre in christlichem Sinn erneuert werden sollte, so konnte sie von kei­nem gewissenhafteren Geist getragen werden. Noch ganz abge­sehen von allem, was man über die Wiederverkörperung selbst denkt: ich habe mir oft, wenn ich Rudolf Steiner über diese Fragen sprechen hörte, innerlich gesagt: wäre ich die Vorsehung und würde einen Menschen suchen, der sittlich hoch genug steht, um über diese Fragen etwas wissen und darüber reden zu dürfen, der den Gefahren bei sich und anderen auf diesem Gebiet gewachsen ist, so könnte die Wahl auf keinen Besseren fallen. Aber seine Art, dieses Lebensgebiet zu behandeln, ist auch wie ein heiliges Vermächtnis, nicht nur an die Anthroposo­phische Gesellschaft, sondern an die ganze Menschheit.

(S. 48-54)

„Haben Sie sich eigentlich niemals getäuscht?“

Als damals zu Beginn des Winters [1913] Rudolf Steiner wieder nach Nürnberg kam, hatte ich schon viel zu fragen. Die Gespräche verliefen immer so, daß ich eine ganze Stunde lang Frage auf Frage stellte, wie ich sie mir vorher zurechtgelegt hatte. Er antwortete immer bereitwillig. Der Schatz von Wissen, aus dem heraus er das tat, wurde mir immer erstaunlicher. Und das Erstaunlichste war mir, daß er mir niemals vorher mit ihm zu imponieren gesucht hatte. Es kam immer nur so viel heraus, als die Antwort auf die Frage es nötig machte. Ganz selten kam einmal die Antwort: „Das habe ich noch nicht untersucht.“ – „Darf ich Sie etwas fragen, Herr Dok­tor?“ begann ich oftmals. „Fragen Sie, was Sie wollen“, antwor­tete er dann wohl. Nun war die Frage zurückgegeben, und man war selbst gefragt, ob man fragen könne und was man zu fragen habe. Wie sehr habe ich später bedauert, daß man nicht klüger gefragt hat. Man hätte noch unglaublich viel Interessantes erfah­ren, das man ja dann ganz frei hätte verarbeiten können. Denn Zustimmung verlangte Steiner niemals. Er erzählte nur und ließ es durch sich selbst wirken. Es kam wohl auch vor, daß ich, überrascht durch seine sicheren Antworten, fragte: „Haben Sie sich eigentlich in Ihren Forschungen niemals getäuscht und sich nachträglich korrigieren müssen?“ „Was ich nicht sicher wußte, habe ich niemals gesagt.“ Ich war noch nicht zufrieden. „Ich meine, daß Sie selbst nachher bei genauerer Forschung die ersten Eindrücke und Forschungsergebnisse bei sich richtigstellen mußten?“ „Ja, dann muß aber ein Grund dafür erkennbar sein. Wenn ich Ihnen zum Beispiel im Nebel begegne und Sie nicht erkenne, so ist eben der Nebel eine Tatsache, die noch ins Auge gefaßt werden muß.“ Noch nicht gab ich mich zufrieden. „Ist es Ihnen gar niemals begegnet, daß Sie sich nachher sagen mußten, da habe ich mich doch getäuscht?“ Er sann einen Augenblick friedlich nach. „Doch“, sagte er, „in Menschen habe ich mich manchmal getäuscht. Aber bei Menschen kommt manchmal durch das Leben etwas von außen herein, das man vorher nicht wissen kann.“

Gelegentlich kamen wir im Gespräch an einen Punkt, wo ich verwundert fragte: „Wenn dies so ist, warum sagen Sie das eigentlich den Menschen nicht?“ „Weil in der Menschheit heute noch kein Aufnahmevermögen da ist für solche Wahrheiten.“ Solche Worte sagte er ruhig und sachlich und ohne alle selbstge­fällige Tragödenpose. Das waren dann auch Wahrheiten, von denen man verstehen kann, daß es einer langen Erziehung der Menschheit bedarf, bis sie auch nur reif ist, sie unbefangen zu prüfen. Nach meinem Eindruck, der sich im Lauf der Jahre immer mehr verstärkte, trug Rudolf Steiner manches ernste Weltwissen in sich, von dem nie einer seiner Vertrauten auch nur ein Sterbenswörtchen erfahren hat. Er sprach immer als Erzie­her, niemals als bloßer Verkünder. Anderes war ausgeschlos­sen. Soviel er der Menschheit zumutete – ohne Rücksicht auf die Gegenschläge, die es für ihn brachte –, so schonungsvoll ließ er gerade nur das laut werden, was im Augenblick zur Not noch ertragen werden konnte.

(S. 56-58)

Das Fünfte Evangelium

Meine damalige Begegnung mit Rudolf Steiner endete damit, daß er wieder fragte: „Wollen Sie nicht heute abend zu meinem intimen Vortrag in der Theosophischen Gesellschaft kom­men?“ Er fügte freundlich hinzu, um mir die Zusage leichter zu machen: „Ich werde einiges aus der Jugendgeschichte Jesu erzählen, was in den Evangelien nicht steht.“ „Wie, das wagen Sie?“ fragte ich. „Glauben Sie, daß man das wagt, wenn man nicht muß?“ erwiderte er. „Es ist der Wille der geistigen Welt, daß die Menschheit jetzt mehr darüber erfährt. Es wird sich schon herausstellen, wozu das gut ist.“

Der Abend, der nun folgte, wird mir als einer der denkwür­digsten meines Lebens im Gedächtnis bleiben, weit über dieses Leben hinaus. [...] Es ist hier nicht unsere Aufgabe, nachzuerzählen, was uns damals durch Abende hindurch Rudolf Steiner erzählte aus dem „fünften Evangelium“ – dem Evangelium, das unvergänglich stehengeblieben ist in der feinen Geistigkeit, in der sich alle Vergangenheit, heute noch dem Vollerwachten lesbar, eingetra­gen hat. Unvergeßlich ist mir vor allem das Auge, in das wir damals schauen durften, wie es in die Vergangenheit blickte. Seine wachende Geistigkeit strahlte so viel Reinheit aus, so viel überzeugende Wahrhaftigkeit und Bescheidenheit, daß man sich vor dem größten menschlichen Ereignis fühlte. Manchmal schien es sich von innen her ganz leise zu feuchten, und dann war es, wie wenn flüssiges Gold in ihm glänzte. Plötzlich fiel mir ein, daß ich ja immer gedacht hatte: Wenn ich einmal in die höhere Welt nach dem Tod eintrete, dann wünsche ich mir für die ersten Jahre nichts anderes, als daß ich das Leben Jesu mit höheren Augen eine ganze Zeit lang ruhig betrachten darf. Ich suchte mir immer wieder das Unerhörte der ganzen Situation zum vollen Bewußtsein zu bringen. Draußen rasselte eine elektrische Bahn nach der anderen mit schrillem Geklingel vorüber, drinnen aber stand ein Mann, der den Anspruch erhob, die Vergangenheit in Bildern vor sich zu haben, und der in sicherer Selbstverständ­lichkeit davon redete. Wo bist du? fragte ich mich immer wie­der. Jede menschliche Prüfung, wenn sie unbefangen war, fiel zugunsten des Außerordentlichen aus. Gesundheit? Sie konnte nicht überzeugender dastehen. Jeder Gedanke an geistige Abnormität – ich hatte als Seelsorger viel damit zu tun – wäre von dieser Atmosphäre Lügen gestraft worden. Moralische Reinheit? Man lebte und atmete in ihr. Selbstlosigkeit? Wenn man sich fragte: wie muß ein rein übermitteltes göttliches Geschenk aussehen?, so konnte es nicht anders sein. – Aber was war es dann? Der Anfang ungeahnter menschlicher Zukunfts­größe? [...]

Mehrmals habe ich später Steiner gebeten, er möchte doch diese Erzählungen aus der „Akasha‑Chronik“ fortsetzen. Unter allen Umständen versprach ich mir für die Menschheit mächtigste Anregung davon, wenn die Bilder des Lebens Christi, die in Fülle vor seinem klar schauenden Geist aufstiegen, neben die Evangelien gestellt würden. Während des Weltkriegs antwortete mir Rudolf Steiner: die „Astralwelt“, die ganze gei­stige Atmosphäre um die Erde her, sei jetzt zu unruhig, als daß solche Forschungen von ihm gemacht werden könnten. Nach dem Weltkrieg erwiderte er, daß für die Menschheit andere Arbeiten im Augenblick dringlicher seien. Er sah die wirtschaft­liche Not kommen und baute seine Weltwirtschaftsgedanken aus. Er sah die große Hungersnot herannahen und begründete eine neue Landwirtschaft. Er sah die Geistesnot des herrschen­den wissenschaftlichen Materialismus und leitete seine Schüler an zu einer Naturwissenschaft im neuen Geist. Er sah die Not der heranwachsenden Jugend und widmete sich einem neuen Erziehungswesen. Er sah die Ratlosigkeit der heutigen Medi­zin, besonders wenn es sich um innere und geistige Erkrankun­gen handelte, und gab die Anregungen zu einer geisteswissenschaftlichen Hellkunde mit mächtigen neuen Gedanken. Er sah die religiös‑moralische Verwilderung und half ratsuchenden Menschen zu sicherem religiösen Wirken. So ist er von uns gegangen, ohne daß wir mehr als Bruchstücke hätten von dem, was als das leuchtende Leben Christi offen vor seinem Geiste lag. Aber was hat auch ein Geschlecht verdient, das seine ersten Gaben, in denen doch eine große Frage an die Menschheit lag, so aufnahm, daß es sein scheußlich verzerrtes Bild durch die illu­strierten Zeitungen zog mit der Unterschrift „Der fünfte Evan­gelist“? Und keiner der anerkannten religiösen Führer wollte auch nur wissen und prüfen, was dieser Mann als Geschenk aus der göttlichen Welt zu bringen hatte.

Rudolf Steiner hat mir später gelegentlich mehr menschlich von seinen Forschungen in der Akasha‑Chronik erzählt. Ich empfing da erst einen Eindruck von der Strenge, mit der er seine Fähigkeiten prüfte und seine Ergebnisse sicherstellte. [...] Über manche Gebiete betrieb Rudolf Steiner anscheinend jahrelang seine Forschungen, ehe er auch nur ein Wort davon sprach. Mitunter fehlten ihm Einzelheiten, die er durch lange Zeit hin­durch nicht finden konnte. Sein Forschen war oft ein Bitten zur geistigen Welt empor, und nicht immer wurde sein Bitten erfüllt. Dies alles wird hier selbstverständlich nicht erzählt, als ob damit ein Beweis geführt werden sollte. Es sollen nur subjek­tive Tatsachen mitgeteilt werden, aus denen der Geist einer sol­chen Forschung erschlossen werden kann. Niemals könnte es im Sinn echter Geistesforschung sein, daß etwa an Stelle eines dogmatisch hingenommenen Neuen Testaments nun eine ebenso dogmatisch hingenommene „Akasha‑Chronik“ tritt, die noch dazu zunächst auf den Geistesgaben eines einzelnen beruhen würde. Auch hier hat die Vorsehung dafür gesorgt, daß die Menschheit recht unbefangen prüfen kann, was ihr aus höheren Quellen mitgeteilt wird, mit allen Wahrheitsmitteln, die ihr zur Verfügung stehen. Nur daß sie nicht ablehnt, aus Vorurteil oder Selbstzufriedenheit oder Ängstlichkeit oder Bequemlichkeit, wird von ihr erwartet.

(S. 58-64)

Jede Sensation ... souverän aus der Hand gegeben

Ein Berliner Konzertbüro hatte ihn zu einer großen Vortragsreise durch Deutschland verpflichtet. Damals hätte Rudolf Steiner der Mann des Tages werden können ‑ wenn er gewollt hätte. Aber es kam anders. Ich habe die Berliner Versammlung in der Philhar­monie miterlebt. Der große Saal voll bis auf den letzten Platz. Draußen rissen sich die Menschen um die Eintrittskarten und zahlten Preise angeblich bis zu hundert Mark. Alles in gespann­tester Erwartung. Im Unbewußten wartete man auf den Pro­pheten der Zeit. Rudolf Steiner erschien und erzählte der atemlos lauschenden Menge von dreitausend Hörern über eine Stunde unerbittlich und gründlich von Imagination, Inspiration, Intuition. Immer wieder fragte ich mich: Hat je ein Mensch die Gelegenheit, der Menschenmasse zu imponieren, so sou­verän aus der Hand gegeben? Mir gegenüber in der Loge saß ein höherer Offizier, ein Angesehener des Wagnerkreises. Ich hatte ihn selbst für Steiner interessiert. Gutwillig aufmerkend saß er da und strengte sich an zu verstehen. Allmählich gab er es auf und lehnte sich zurück. Dann schüttelte er unwillig den Kopf, und lang vor Schluß des Vortrags war er verschwunden.

Wußte Rudolf Steiner, was er tat? Daß er diese seltene, für Sensationen aufgeschlossene Versammlung – langweilte? Kein Mensch, der Rudolf Steiner kannte, vermochte daran zu zwei­feln, daß er sich ganz bewußt war, was er tat. Verlegenheit vor der großen Versammlung? Unvermögen zum Volk zu spre­chen? Das alles kam gar nicht in Betracht für den, der wußte, wie donnernd zum Erbeben Rudolf Steiner reden konnte. Für wen redete er eigentlich? Ich rechnete mir während des Vortrags damals aus, wie viele Menschen jetzt einigermaßen zu folgen fähig und geneigt sind. Die Anthroposophen abgerechnet, schätzte ich fünf bis zehn. Für diese redete er, vollkommen bewußt. Geradezu grausam unterdrückte er alles, was ihn hätte zur Sensation des Tages machen können. Kein Flackerschein des Imponierenwollens huschte über die Versammlung hin. Den zehn, vielleicht zwanzig Menschen hoffte er durch den sachlichen Ernst, durch die ausführliche Gründlichkeit, mit der er über Gebiete sprach, die den meisten Menschen fremd sind, das geistige Interesse wachzurufen.

(S. 141-142)