24.09.2012

Leidenschaftlichkeit muss erwachen für das Individuelle

Gerald Hüther auf Seiten von Bertelsmann? Entgegnung auf einen unsinnigen Vorwurf. 

Eine Antwort auf: Marc Erang: „Prechtig“ philosophiert & reformiert? Herolde und Hintermänner aktueller Bildungsoffensiven. NachDenkSeiten, 22.9.2012.


Inhalt
Diffuse Abwertung – worum geht es eigentlich?
Hüther als Verteidiger des Sozialdarwinismus?
Georg Lind und Gerald Hüther
Begeisterung und das reale Individuum


Diffuse Abwertung – worum geht es eigentlich?

Am 22. September erschien auf den NachDenkSeiten ein Beitrag von Marc Erang zur Sendung: „Skandal Schule – Macht Lernen dumm?“ mit dem Hirnforscher Gerald Hüther, der seit Jahren leidenschaftlich auf die Notwendigkeit tiefgreifender Veränderungen des Schulsystems hinweist. Erang beginnt seinen Artikel damit, dass er Hüthers Mahnrufe massiv abwertet und lächerlich macht, ohne dass zunächst klar wird, warum:

Und das, was der besorgte Professor uns verkündet, kann richtig Angst einjagen:
Ein ganzes Land krankt an seinem „unglaublich ineffizienten, maroden Schulsystem“: Das, wenn es ein Wirtschaftsunternehmen wäre, längst hätte Konkurs anmelden müssen. Das wichtigstes Potenzial wie Kreativität und Entdeckerfreude restlos vernichtet. Das Kinder zu sinnlosem Bulimielernen verdammt. Das am Ende nur diejenigen belohnt, die sich am besten angepasst haben. Das Jugendlichen die Lust raubt, einen Beruf zu ergreifen und sie dazu bringt, später im Alkohol ihr Heil zu suchen. Das Hartz-4-Empfänger produziert. Das alles Individuelle hasst. [...] usw.


Dank vieler hoch aktueller Bücher über das deutsche Schulsystem wissen wir, dass es tatsächlich so schlimm steht. Nun wirkt dieses Schulsystem natürlich parallel zu unserem heutigen Wirtschaftssystem, in das es letztlich nahtlos übergeht. Weder die Schule noch das heutige Wirtschaftsleben bieten den jungen Menschen irgendeine lebenswerte, menschliche Perspektive. Die Besten werden es schaffen – und die übrigen...? Man kann die unmenschliche Welt, in der wir heute leben, nicht in Gänze dem Schulsystem anlasten. Da hat Marc Erang sicher Recht. Aber was in den ersten Jahren eines jungen Menschen gefördert oder aber zerstört wird, hat dennoch die wichtigsten Wirkungen auf sein gesamtes Leben.

Ein Schulsystem, das wesentlich dazu beiträgt, einem jungen Menschen die Freude auf das Leben zu rauben, ist für eine Gesellschaft eine der größten überhaupt denkbaren Katastrophen. Ein Schulsystem, das es nicht schafft, dass die jungen Menschen immer mehr aus Freude am Lernen und an der inneren Entwicklung lernen, sondern in dem sie immer mehr nur für die Schule lernen, hat seine essentielle Aufgabe verfehlt.

Bei der anstehenden Kulturrevolution vertraut Hüther ganz auf das gesunde Volksempfinden: „Es geht nicht mit Argumenten, wenn was passieren soll, sondern Leidenschaftlichkeit muss erwachen in der Gesellschaft! (…) Gegen diese Barrieren werden nicht die Politiker anrennen. (….) Dagegen müssen Bürger im Land anrennen.“


Warum muss Marc Erang dies kritisieren? Wir wissen doch, dass die wirklichen Erneuerungen nicht aus einer immer starrer und einheitlicher werdenden Politik kommen können. Wir wissen doch, dass in einer immer unmenschlicheren Gesellschaft nur eines helfen kann: das Erwachen einer neuen Leidenschaftlichkeit, die das Wesentliche, das wesentlich Menschliche ersehnt. Das mag in manchen Ohren pathetisch klingen – aber nur deshalb, weil die angedeutete Entwicklung, die einem jede Hoffnung rauben kann, bereits so weit vorangeschritten ist. Die Menschen haben resigniert oder sind mit den Sorgen und Pflichten ihres oft prekären Alltagslabens beschäftigt. Eine gesellschaftliche Leidenschaftlichkeit, wie sie in den 68er Jahren da war, ist heute nicht zu finden – die gesellschaftlichen Verhältnisse haben diese erfolgreich erstickt.

Helfen kann dennoch nichts anderes als ein neues Gefühl für das wahrhaft Menschliche. Dieses müsste aus einer starken, klaren Erkenntnis hervorgehen, dass wir unser ganzes Menschentum verfehlen, wenn wir diese Welt, so wie sie ist und sich entwickelt, weiter zulassen. Hüther hat mit seinem Satz vollkommen Recht. Die Frage ist nur: Wo soll diese Erkenntnis wachsen? Wie kann diese Erkenntnis wachsen, wenn der Mensch heute schon in der Schule das Erlebnis bekommt, dass es nicht um die Entwicklung des Menschenwesens und der Individualität geht, sondern um weniger?

Wie kann der junge Mensch irgendein Vertrauen in die Gesellschaft entwickeln, wenn er nie die Erfahrung machen darf, dass auch die Lehrer unter den Regularien, der Vereinheitlichung und den Anforderungen des Systems Schule leiden – sondern wenn er sie vor allem als Repräsentanten dieses Systems erlebt? Unzählige Male muss ein Schüler in unserem Schulsystem die Erfahrung machen, dass es nicht um ihn geht, dass er vielleicht sogar als Störfaktor gilt. Später, im Wirtschaftsleben, ist diese Realität meist noch vielfach verstärkt. Und die Schüler spüren in zunehmendem Alter zumindest unbewusst, dass die Schule sie nur auf diese Realität vorbereitet. Dies ist letztlich gleichbedeutend mit der Erkenntnis, dass die Welt der Erwachsenen unmenschlich, sinnlos und verlogen ist. So extrem mögen es vielleicht noch die wenigsten jungen Menschen empfinden, aber die Tendenz zu diesem Erleben ist in der Seele da, weil dies in vielerlei Hinsicht die Realität unserer heutigen Welt ist.

Hüther als Verteidiger des Sozialdarwinismus?

Nun aber sagt Hüther etwas, was ihm Erang massiv vorwirft – weil dies ganz die heutige neoliberal und sozialdarwinistisch wirkende Wirtschaftswelt zu unterstützen scheint. Erang weist dann im Folgenden kenntnisreich auf das Wesen dieser heutigen Wirtschaftswelt hin und schildert erschreckende Hintergründe über einen der Haupt-Propagandisten des neoliberalen Dogmas, die Bertelsmann-Stiftung. Was aber hat Hüther gesagt?

„An Unis und in der Wirtschaft hat es sich herumgesprochen, man kann sich auf die guten Zensuren gar nicht verlassen. Abitur reicht nicht. Was hast du sonst noch gemacht? Wenn da nichts kommt, nützt das schönste Abitur nichts. Was kannst du denn sonst noch? Die großen Unternehmen, die weltweit operieren, haben das schon vor Jahren gemerkt und ein Programm für ihre Absolventen eingeführt, die sie von den tollsten Universitäten in Oxford, Cambridge (...) bekommen. Sie sagen, wir nehmen weiterhin die Besten, aber bevor die bei uns anfangen, sollen sie zunächst mal zeigen, ob sie was können und das Programm heißt „Teach first“. Ein Oxford-Absolvent wird in eine Stadtteilschule in der Bronx geschickt und muss aus einem zusammengewürfelten losen Haufen ein leistungsorientiertes Team machen.“


Was liegt hier vor? Wir stehen hier vor der Tatsache, dass jede noch so individuell ausgerichtete Förderung im Bildungswesen pervertiert werden kann, wenn sie vom Wirtschaftsleben bloß ausgenutzt wird. Das höchste Ideal – individuelle Entwicklung und ihre Förderung um des Individuums willen – kann sehr leicht missbraucht werden, indem die Entwicklung zwar gefördert wird, aber auch deshalb, weil damit eine Reservearmee von Spitzenkräften zur Verfügung steht, die sich auf dem „Arbeits-Markt“ dann auch gegen die harte Konkurrenz verkaufen und ihre Fähigkeiten zu Markte tragen müssen.

Es ist etwas Wunderbares, wenn man als Absolvent einer pädagogischen Ausbildung fähig ist, in einer Stadtteilschule der Bronx aus einer Klasse ein leistungsorientiertes Team bzw. eine Gemeinschaft zu machen. Wenn dies aber heißt, dass dies nur getan wird, um dieses Team wieder zu einer Reservearmee fähiger Nachwuchskräfte zu atomisieren – oder wenn dies heißt, dass der Absolvent, dem dies nicht gelingt, nichts wert sei – dann herrscht nicht das Ideal der Förderung jedes einzelnen Individuums, sondern dann herrscht die Doktrin der optimalen Ausnutzung jedes einzelnen Individuums.

Ich behaupte aber, dass Hüther nicht eine Sekunde daran denken würde, einer sozialdarwinistischen Welt das Wort zu sprechen. Wenn er darauf hinweist, dass man heute sogar schon in der Wirtschaft nichts mehr von formellen Abschlüssen und Zensuren hält, sondern auf die realen Fähigkeiten der Menschen schaut, dann deshalb, um die Sinnlosigkeit dieser ganzen Formalien zu untermauern. Denn diese Zensuren und diese zentralisierten, vereinheitlichten Abschlüsse sind es, die die Individualität leugnen und die Schüler fortwährend nach gröbsten, demütigenden Kriterien beurteilen, die den individuellen Fähigkeiten überhaupt nicht gerecht werden.

Hüther redet nicht einer immer stärkeren Selektion der Spitzenkräfte das Wort, sondern er möchte, dass endlich die Notwendigkeit der ganz individuellen Förderung erkannt wird; dass der Schüler endlich nicht mehr zu einem Zensurempfänger reduziert, sondern als ganzer Mensch gesehen und gefördert wird.

Gerald Hüther ist Hirnforscher und setzt sich mit aller Leidenschaft für ein anderes Bildungswesen ein. Von ihm zu verlangen, auch noch das Wirtschaftsleben ändern zu können, wäre absolut ungerecht. Diejenigen, die wie Marc Erang seine Äußerungen kritisieren, weil er nicht auch die Katastrophe unserer heutigen Wirtschaftswelt beachtet, missachten ihrerseits, dass Hüther einer derjenigen Menschen ist, die durch ihre leidenschaftliche Stimme überhaupt immer wieder ein reales Bewusstsein für die heutige Katastrophe des Bildungswesens schaffen.

Wie könnte es je Hüthers Schuld sein, dass jedes Ideal missbraucht werden kann? Hüther tritt für ein ideales Bildungswesen ein. Die Verwandlung unserer heutigen Wirtschaftswelt müssen Andere einfordern, sonst wird diese Wirtschaftswelt die jungen Menschen weiter ausnutzen und in ihrem Menschsein demütigen. Mögen diese Anderen aber ähnlich kraftvoll und leidenschaftlich wirken wie Hüther!

Es gibt aber noch eine andere Hoffnung – und auch aus diesem Grund fordern Menschen wie Hüther derart eindringlich eine völlige Veränderung des Bildungswesens. Wenn es einst in einem solchen ganz verwandelten Bildungssystem ganz um den individuellen Menschen gehen würde, dann könnten junge Menschen in einem realen Bewusstsein ihrer Würde als Menschen aufwachsen. Sie würden nicht schon in frühen Jahren die sichere Ahnung haben, welcher Welt sie entgegengehen, weil die Schule bereits ein Spiegelbild dieser Welt ist. Sondern sie würden in den entscheidenden Jahren ihres Lebens bis zum Erwachsenwerden das Erleben haben können, was es heißt, als Individualität gesehen zu werden, geschätzt zu werden, gefördert zu werden. Sie würden als erste Generation die reale, tiefe Erfahrung machen können, was es heißt, das Lernen zu lieben – und zwar ohne, dass dahinter wieder ein Verwertungsgedanke steht. Diese jungen Menschen würden eine tiefe Liebe zur inneren Entwicklung entfalten können – und eine tiefe Liebe zur Welt.

Eine solche Generation junger Menschen, die in einem solchen Bildungswesen aufwachsen könnte, würde von der Realität des sie empfangenden Wirtschaftslebens tief schockiert werden. Diese jungen Menschen würden aber den demütigenden Charakter dieses Wirtschaftslebens auch von Grund auf erkennen, und sie würden in ihrer Seele und ihrem Willen auch die Stärke haben, diese Demütigung und Missachtung ihrer Individualität nicht hinzunehmen – und diese Tatsache würde das Wirtschaftsleben selbst verwandeln müssen.

Vom Prinzip her ist dieses Szenario nahezu die einzige Hoffnung auf eine wirkliche Verwandlung der Verhältnisse. Die heute im Wirtschaftsleben wirkenden Kräfte sind zu stark, um sich von Einzelnen beeindrucken zu lassen. Diese Einzelnen geraten hoffnungslos unter die Räder. Es braucht tatsächlich eine ganze Generation, die das vollkommen Unmenschliche unseres heutigen Wirtschaftslebens nicht mehr mitmachen wird.

Wenn allerdings heute gerade die wichtigsten Mahnrufer der Gegenwart angegriffen werden, weil sie angeblich nicht alles beachten würden, dann besteht tatsächlich keine Hoffnung mehr. Marc Erang kritisiert an Hüther, er hätte die Illusion, mehr selbstbestimmter Unterricht würde Wunder vollbringen – aber Erang selbst erwartet noch viel größere Wunder. Er sieht nicht, dass das Wirtschaftssystem wahrscheinlich noch sehr lange junge Menschen zu Humanressourcen machen und ausnutzen wird. Diese Tragik ist notwendig und wird so lange anhalten, bis die Veränderungen im Bildungswesen so stark geworden sind, dass die anschließende Perversion im Wirtschaftsleben nicht mehr möglich sein wird, weil die aus diesem Bildungswesen entlassenen Menschen selbst durch ihre innere Stärke die Veränderung herbeiführen werden.

Georg Lind und Gerald Hüther

Am Ende von Erangs Artikel werden dann auch Gedanken des Konstanzer Psychologieprofessors Georg Lind zitiert, der schreibt:

Auch wenn ich mit vielem sympathisiere, was Hüther zum schulischen Lernen zu sagen hat, lösen seine Ideen bei mir auch Unbehagen aus. Eine nachhaltige Reform sollte sich nicht gegen etwas (die jetzige Schule) richten, sondern für etwas. Natürlich kann man alles in kurzer Zeit abschaffen. Aber was kommt danach? Was ist das Leitbild der Reform? Wie kann sie landesweit es so umgesetzt werden, dass nicht neue Ungleichheiten und Benachteiligungen entstehen? Wenn Reform-Schulen die besten Lehrkräfte anziehen, dann fehlen diese anderswo. Ohne ein wirksames Konzept für eine bessere Lehrerbildung, entsteht leicht ein “Absahn-Effekt”. Wie man als Lehrer die Schüler beim Unterricht interessiert und wach hält, kann man lernen. Die Belohnung heißt: effektiver und störungsfreier Unterricht. Das weiß ich aus eigener Erfahrung als Lehrerausbilder. Ob dann noch Begeisterung dazu kommt, lässt sich nicht steuern. Man sollte Begeisterung auch nicht zu steuern versuchen.
Die Schule ist eine gesellschaftliche Einrichtung, die einerseits dazu dient, den Menschen die Dinge lernen zu lassen, die er für ein erfülltes Leben als Person, als Mitglied der Gesellschaft und als Teilnehmer im Wirtschaftsleben benötigt. Zudem ist sie dazu da, zur Erhaltung und Weiterentwicklung unserer demokratischen Gesellschaft beizutragen und das demokratische Zusammenleben mit anderen Gesellschaften und Kulturen beizutragen, indem sie die dafür erforderlichen Fähigkeiten fördert. [...]
Die meisten Schulen versuchen auch heute schon, beiden Zielen gerecht zu werden. Aber das ist verbesserungsfähig und von daher hat die heutige Reformdebatte ihre Berechtigung. Die Trennung der Kinder in zig Schulformen und die ständig steigende Flut von Vergleichsbewertungen (sprich: Noten und Tests) ist mit beiden Zielen nicht vereinbar. Das sind aber Systemprobleme, die nicht durch isolierte Reformmaßnahmen gelöst werden können. Anders gesagt: Eine Gemeinschaftsschule ist keine “Gemeinschafts”-Schule, wenn sie nur für ein paar Prozent der Kinder eingerichtet wird. Sie muss für die ganze Gemeinschaft sein, also für alle Kinder.
Wenn die Reform der Schule nicht auf relativ wenige Schulen begrenzt bleiben soll und wenn sie nicht mehr als eine symbolische Reform sein soll, muss dafür ein in sich stimmiges Konzept für das gesamte Schulsystem in Deutschland und am Ende auch für Europa erarbeitet werden — wie das vor Jahren in Schweden und Finnland geschehen ist. Das Buch von Rainer Domisch ‚Niemand wird zurückgelassen. Eine Schule für alle’ ist eine wahre Fundgrube für alle, die an einer nachhaltigen Reform unseres Schulsystems interessiert sind.


Ich frage mich nur, wo Hüther und Lind sich wirklich uneinig sind! Selbstverständlich kritisiert Hüther die jetzige Schule, weil er für etwas anderes eintritt – und er hat doch ganz klare Leitbilder der von ihm angemahnten Reform! Ich bin auch überzeugt, dass dieses Leitbild kaum anders aussehen wird als es das am Ende erwähnte Buch „Niemand wird zurückgelassen“ entwirft!

Lind fürchtet, dass, wenn Reform-Schulen die besten Lehrkräfte anziehen, diese anderswo fehlen. Damit aber unterliegt auch er der Illusion, dass Zauberei möglich wäre. Wenn an guten Lehrkräften zunächst absolut zu wenige da sind, muss zwangsläufig ein Mangel da sein – ob mit oder ohne Reform-Schulen! Doch ohne dass Reform-Schulen zeigen, wie Pädagogik heute wirklich den Menschen in den Mittelpunkt stellen kann, werden sich niemals genügend starke Impulse der Veränderungen ergeben.

Es wäre doch eine wirkliche Tragik der Geschichte, wenn die Veränderung dadurch unmöglich gemacht wird, dass Reform-Schulen als vermeintliche Elite-Schulen verhindert würden. Sie sind Elite-Schulen – weil sie die Elite im heutigen Schulsystem wären. Ihr Sinn aber wäre es gerade, durch diesen Beweis die Bresche dafür zu schlagen, dass sich das ganze Schulsystem nach ihrem Muster umgestaltet, damit eines Tages auch im ganzen Schulsystem das Leitbild gelten kann: „Niemand wird zurückgelassen.“

Reform-Schulen können immer nur Zeugnis eines Ideals ablegen. Ob dieses Ideal dann politisch aufgegriffen wird, hängt dann von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ab, mit denen dieses Ideal dann vertreten und eingefordert wird. Damit diese Kraft aber genügend groß sein kann, müssen die Reform-Schulen erst einmal genügend stark leuchtende Beispiele geben!

Wenn Lind behauptet, „die meisten Schulen versuchen auch heute schon, beiden Zielen gerecht zu werden“ (individuelle Förderung und gesellschaftliche Integration), würde das heißen, es gibt gar keinen Reform-Bedarf. Wenn die Schulen dies heute jedoch zwar versuchen, darin aber viel zu stark scheitern, würde sich diese Feststellung wiederum nicht von Gerald Hüther unterscheiden.

Begeisterung und das reale Individuum

Abstrakt versucht natürlich jede Schule, jeder Pädagoge, „diesen Zielen gerecht zu werden“. Zweifel sind aber angebracht, wenn nicht einmal klar ist, was es überhaupt hieße, das Individuum in den Mittelpunkt zu stellen. Lind formuliert dazu:

Die Schule ist eine gesellschaftliche Einrichtung, die einerseits dazu dient, den Menschen die Dinge lernen zu lassen, die er für ein erfülltes Leben als Person, als Mitglied der Gesellschaft und als Teilnehmer im Wirtschaftsleben benötigt.


Was braucht der Mensch für ein erfülltes Leben als Teilnehmer im Wirtschaftsleben!? Hier ist der Mensch nicht Individuum, sondern „Teilnehmer von etwas“. Wo es unmittelbar um die Person geht, stellt sich die Frage: Was benötigt ein Mensch für ein „erfülltes Leben als Person“, und was muss er dafür lernen?

Bei mir lösen diese Formulierungen ein tiefes Unbehagen aus! Im Grunde empfinde ich hier die Person nur als Zweck. Sie scheint Selbstzweck zu sein, aber die ganze Formulierung läuft darauf hinaus, dass etwas mit der Person getan wird, damit sie abstrakt ein „erfülltes Leben als Person“ führen kann. Obwohl der wörtliche Inhalt von Selbstbestimmung spricht, erlebe ich diesen Satz als Fremdbestimmung und wie die technische Vorschrift eines Fabrikationsprozesses. Das reale Individuum ist in ihm nicht zu finden!

Dies gerade ist aber die Katastrophe des heutigen Bildungssystems! Jede Schule mag heute schon versuchen, der obigen Formulierung gerecht zu werden – aber selbst dann wird ein Schüler sich nicht als individueller Mensch gesehen fühlen, denn noch immer wird er als solcher nicht gesehen. Er wird zwar als „Person“ gesehen, die ein „erfülltes Leben“ führen soll und dafür einiges lernen muss – aber all das ist abstrakt. Jeder Schüler ist eine „Person“. Man kann diesen Satz völlig unterschreiben und das Individuum noch immer nicht sehen!

Dies spiegelt sich auch in den Sätzen zur Pädagogik wieder:

Wie man als Lehrer die Schüler beim Unterricht interessiert und wach hält, kann man lernen. Die Belohnung heißt: effektiver und störungsfreier Unterricht. [...] Ob dann noch Begeisterung dazu kommt, lässt sich nicht steuern. Man sollte Begeisterung auch nicht zu steuern versuchen.


Man kann guten, störungsfreien Unterricht machen, ohne dass es auch nur einen Moment lang um die Schüler geht. Dieser störungsfreie, durchaus gute Unterricht kann im eminentesten Sinne auch bloß dem Lehrer dienen, denn Störungsfreiheit ist ja angesichts der ungeheuren Belastungen des Lehrerberufs ein hohes, auch sehr eigennütziges Ziel eines jeden Lehrers.

Doch wo beginnt ein solcher Unterricht, wirklich auch den individuellen Schülern zu dienen? Ich meine nicht jenen Schülern, die mit Hilfe des Gelernten später ein Leben als integriertes „Mitglied der Gesellschaft und als Teilnehmer im Wirtschaftsleben“ führen können, sondern ich meine die real in diesem Moment vor diesem Lehrer anwesenden Schüler-Individualitäten!

Ein solcher Unterricht beginnt erst da, wo der Lehrer wirklich die werdenden Menschen sieht; wo ihm der einzelne Schüler nicht nur „Person“ ist, sondern Individualität wird, die eine so große Bedeutsamkeit und Einmaligkeit gewinnt, dass sie in jedem Moment seine ganze pädagogische ... Leidenschaft fordert.

Vielleicht ist das der Unterschied zwischen Hüther und Lind. In den Sätzen von Lind finde ich diese Leidenschaft jedenfalls nicht. Sein Ziel ist störungsfreier Unterricht – der bereits „gut“ sein muss, denn sonst wäre er nicht störungsfrei –, aber es fehlt jenes Etwas, das erst den entscheidenden pädagogischen Ethos und Eros ausmachen würde.

Welchen Unterschied gibt es zwischen Interesse und Begeisterung? Begeisterung soll man nicht steuern wollen, das ist wahr. Aber in letzter Hinsicht kann man Begeisterung auch gar nicht steuern. Das Einzige, was man tun kann als Pädagoge, ist, sich selbst innerlich so zu entwickeln, dass man immer wieder neue starke Begeisterungskräfte in sich selbst wecken kann. Mit diesen Kräften wird man dann auch die jungen Menschen begeistern können! Das hat dann absolut nichts mit „steuern“ zu tun, denn wenn die eigene Begeisterung des Pädagogen wahrhaftig ist, dann ist der gesamte pädagogische Prozess wahrhaftig. Der werdende Mensch kann seine eigene Begeisterung dem Unterricht nur frei entgegentragen. Er wird es aber tun, wenn er erlebt, dass der Lehrer ein Mensch ist, der selbst innerlich an sich arbeitet, und wenn der Unterricht so geschieht, dass jenes Mehr spürbar ist, das über bloßes „Interesse“ hinausgeht.

Der Schüler wird sich ganz gesehen und gemeint fühlen, wenn er spürt, dass der Lehrer sich selbst als vollen Menschen mit aller Kraft und aller Begeisterung in den Prozess hineingibt – und wenn er spürt, dass es nicht nur die eigene Begeisterung des Lehrers für sein Fach ist, die mit ihm, dem Schüler, gar nichts zu tun hat, sondern dass dieser ganze Einsatz des Lehrers zugleich ihm gilt, ihm und allen seinen Mitschülern.

Ja, wir brauchen eine Lehrerbildung, in der wirklich diejenigen Fähigkeiten entwickelt werden können, die einen guten, störungsfreien Unterricht hervorrufen können, in dem die Schüler Interesse entwickeln. Aber wir brauchen ebenso sehr eine Lehrerbildung, in der es noch tiefer um den Menschen geht – sowohl um den individuellen Schüler, als auch um den individuellen Lehrer.

Ohne dass wir wirklich durchstoßen zu einem vollen Erleben der Individualität, werden wir das Bildungswesen nicht reformieren können. Nicht in der Weise, dass es dann wirklich um den Menschen ginge und dass das so verwandelte Bildungswesen dann auch die Kraft hätte, das übrige gesellschaftliche Leben zu verwandeln. Dies muss aber geschehen. Und darum ist das Entscheidende die Begeisterung, die Leidenschaft – denn diese wird das Wahrnehmungsorgan für das wahrhaft Individuelle, das sonst niemals voll in den Blick kommen würde.

Dieser Blick allein aber ist es, der unsere Welt verwandeln und retten kann. Die ganze Welt sehnt sich nach diesem Blick – aber er muss entwickelt werden. Alles hängt davon ab, ob die jungen Menschen sich gesehen fühlen, denn dann werden sie diesen Blick auch selbst entwickeln. Dieses Gesehenwerden reicht aber viel tiefer als man denkt. Wo immer der junge Mensch weniger bedeutsam wird als das große System Schule – und dies geschieht täglich –, ist das Gesehenwerden doch gescheitert. Das gesamte System Schule darf eigentlich nur für den jungen Menschen da sein, niemals umgekehrt. Erst wenn dies eine Realität wird, wird die Verwandlung des Bildungssystems real geworden sein.

Dann aber wird auch das Wirtschaftsleben durch diesen neuen, realen Impuls geheilt werden können, denn dann wird dieser Impuls unüberwindbar sein.