15.11.2014

Was schreibt Christian Clement wirklich über Rudolf Steiner?

Über die Einleitung zur SKA 5. | Link


Inhalt

Einführung
Morphologische Betrachtungsart und „Selbstprojektion“
Synthese von Mystik und Wissenschaft
Mysterienwesen und Gotteserfahrung
Rudolf Steiners Christologie
Zu den Veränderungen der einzelnen Auflagen


Einführung

Inzwischen ist es möglich, im Internet selbst einen Eindruck von der gesamten Einleitung [o] zum ersten erschienenen Band der „Kritischen Ausgabe“ (Band 5) zu gewinnen, in der der Herausgeber Christian Clement die Entwicklung des Textes der beiden Frühwerke Steiners „Die Mystik im Aufgange...“ und „Das Christentum als mystische Tatsache“ im Verlauf ihrer verschiedenen Auflagen dokumentiert.

Nachdem im „Europäer“ bereits verschiedene Einzelheiten behandelt worden waren (u.a. bezüglich Steiners Griechisch-Kenntnissen, aber auch über Clements Beziehung zu den Mormonen) und auch Pietro Archiati in scharfer Replik auf Clement ein Büchlein veröffentlicht hatte („Geisteswissenschaft im 3. Jahrtausend“), kann man nun also von Clements Vorwort im Zusammenhang Kenntnis nehmen.

Um es vorwegzunehmen: Die obigen Reaktionen und auch das, was sonst verschiedentlich öffentlich wurde (siehe auch meinen eigenen Aufsatz „Zur ‚Kritischen Steiner-Ausgabe‘ (SKA)“ vom 29.11.2013), ließen sehr stark vermuten, dass Clement ein „zweiter Zander“ war, der aus intellektuellem Hochmut angetreten war, Rudolf Steiner durch ungezählte Unwahrheiten und Entstellungen völlig unkenntlich zu machen. Meine Buch über Helmut Zanders Vorgehen in seiner „Steiner-Biografie“ belegt ausführlich die ganze Vorgehensweise von Zander und macht erlebbar, wie restlos intellektuelle Redlichkeit zerstört werden kann und sich dennoch „wissenschaftlich“ gibt („Unwahrheit und Wissenschaft“, Occident 2013).

Bei Clement jedoch bekommt man einen vollkommen anderen Eindruck. Dieser Eindruck ist so, dass man sich in vollem Gegensatz zu Zander sagen muss: Hier schreibt jemand, der als nicht-anthroposophischer Denker wirklich weitgehend vorurteilslos an Steiner herangeht. Jemand, der Steiners Denken nachzuvollziehen und so urteilsfrei und objektiv wie möglich zu beschreiben versucht. Jemand, der es nicht nötig hat, wegen seines eigenen verzerrten Steiner-Bildes diesen in nahezu jedem Satz subtil oder ganz offen zu diskreditieren, sondern bei dem eine wirkliche, sogar engagierte Offenheit erlebbar wird.

Morphologische Betrachtungsart und „Selbstprojektion“

Aber lassen wir Clement selbst sprechen.

Die Gründe dafür, dass Mystik und Christentum hier in einem Band zusammengefasst erscheinen, ergeben sich aus deren äußerer und innerer Affinität. Beide Texte gingen aus Vortragsreihen hervor, die Steiner in den Jahren 1901 und 1902 auf Einladung einflussreicher Theosophen vor einem überwiegend theosophischen Publikum in Berlin gehalten hatte. In ihnen werden in einem großangelegten Wurf die Grundzüge einer Morphologie des europäischen Bewusstseins von der Antike bis in die Neuzeit skizziert, in der sich mystisch-religiöses und empirisch-wissenschaftliches Erkenntnisstreben als Geschwister darstellen, die aus einer tiefen inneren Verwandtschaft heraus in der Neuzeit nach einer Synthese streben. Die beiden Texte stellen somit ein zusammenhängendes Ganzes dar, in dem sich die konzeptionellen Umrisse der später ausgebildeten Anthroposophie bereits deutlich abzeichnen. Schon hier wird diejenige Methode angewendet, die Steiner später als wesentliches Charakteristikum anthroposophischen Forschens bezeichnete, nämlich die Weiterbildung der phänomenologisch-morphologischen Methode Goethes durch deren Anwendung auf Seelisches und Geistiges: [...]. [XXIXf]


Dann folgen die Sätze:

Wie Goethe versucht hatte, die Mannigfaltigkeit der pflanzlichen und tierischen Organe auf eine Grundgestalt zurückzuführen, so unternahm Steiner hier den Versuch einer morphologischen Rückführung der verschiedenen Formen des sich entwickelnden Bewusstseins – Mythos, Philosophie, Religion, Mystik, Kunst und Wissenschaft – auf eine einzige geistig-seelische Grundgestalt. Diese Grundgestalt, diesen ‚Proteus‘ aller menschlichen Vorstellungsbildung, sah er in der Selbsterfahrung des Geistes im Denk-Erlebnis bzw. im Ich-Erlebnis des Menschen. Die in diesem Band vorgelegten Schriften sind somit gedankliche Fenster, durch die sich die Genese und die erste praktische Anwendung dieses Grundgedankens und damit in gewisser Hinsicht der Geburtsakt der Anthroposophie beobachten lässt. [XXX]


Hierauf unter anderem gründet Archiati seine Kritik, Clement würde Steiners Anthroposophie als bloße Vorstellung bezeichnen. Darauf hat Friedrich Greub [o] sehr fundiert geantwortet.

Es folgt dann der Absatz, in dem Clement darauf hinweist, dass Steiner an vielen Stellen Gedanken aus Otto Willmanns „Geschichte des Idealismus“, aber auch anderen Werken paraphrasiert (ohne dies zu kennzeichnen) und dass er sich mit dem Mysterienwesen einem Bereich näherte, über den es damals kaum verlässliche Quellen gab und für deren Bearbeitung er auch „das nötige philologische Rüstzeug nicht besaß“, da er die entsprechenden griechischen und lateinischen Texte nicht „im Original hätte lesen können“. (Dieser Absatz wurde im „Europäer“ 11/2013 von Thomas Meyer und Irene Diet scharf angegriffen [o]).

Clement weist im Folgenden darauf hin, dass Steiner durch die Goethe-Ausgabe sehr wohl die „Standards wissenschaftlichen Arbeitens“ kannte, aber er macht zugleich deutlich, warum Steiner einen ganz anderen Weg ging:

Zum einen war ihm in der Arbeit mit Goethe dessen morphologische Betrachtungsart zum Vorbild geworden, ein Denken also, in welcher sich das Erkennen seines Objekts nicht anhand des abstrakten Begriffs zu bemächtigen versucht, sondern sich diesem geistig-seelisch anzuverwandeln bestrebt ist. Zum andern neigte er in den letzten Jahren vor der Jahrhundertwende zunehmend zu einem von Stirner und Nietzsche inspirierten radikalen Individualismus, der dem wissenschaftlichen Anspruch auf Objektivität und Allgemeingültigkeit gegenüber skeptisch war. Das Geistige, so heißt es oft in den Texten dieser Zeit, sei nur in seiner individuellen, persönlichen Erscheinungsform im Menschen wirklich und lebendig: im abstrakten wissenschaftlichen Begriff hingegen ersterbe es zum bloßen Schatten seiner selbst. Drittens ergab sich Steiners Methode der Interpretation durch Selbstprojektion aus der mystischen Grundhaltung selbst: Wer das menschliche Innere als denjenigen Bereich ansieht, in dem allein das Wesen aller Dinge sich offenbart, der ist schließlich nur konsequent, wenn er dieses Wesen auch dann aus dem eigenen Ich zu ziehen sucht, wenn er die Manifestation dieses Wesens im Denken anderer Persönlichkeiten darzustellen unternimmt. [XXXII]


Auch dies wird Clement immer wieder vorgeworfen: „Mystik“, „Selbstprojektion“... Dass das, worauf Clement hinauswill, jedoch weitaus mehr ist und mit dem frühen Steiner tatsächlich innig zu tun hat, wird erst im Zusammenhang deutlich.

Synthese von Mystik und Wissenschaft

In Bezug auf die Christologie referiert Clement dann zuerst die Kritik Zanders, dass es sich hierbei um taktische Schachzüge im innertheosophischen Machtkampf gehandelt habe, die zu vielen Brüchen in Steiners denken geführt hätten, die dieser später zu verschleiern gesucht habe. Dem stellt er daraufhin die Erwiderung Ravaglis gegenüber:

Auf diese Deutung folgte 2009, mit Zanders Erzählungen eine Replik Lorenzo Ravaglis, die zu zeigen versuchte, dass Zanders kompromittierende Deutungen sowie seine Darstellung Steiners als eines von Machtinteressen getriebenen, intellektuell unredlichen Opportunisten einer kritischen Prüfung im Lichte der historischen Fakten und Texte nicht standhalten. Ravagli argumentierte, dass Steiners eigene Darstellung der Quellen seiner Esoterik durchaus plausibel sei und dass seine Gedankenentwicklung um die Jahrhundertwende keinen Bruch gegenüber seinem philosophischen Frühwerk darstelle, sondern eine konsequente Weiterbildung desselben. [XXXIII]


Wohlwollend neutral – das ist wirkliches Referieren! Und, um es vorwegzunehmen: Clement gibt im Verlauf seiner eigenen Ausführungen Ravagli eigentlich in allen Punkten recht!

Im Folgenden erwähnt Clement, dass Steiner sein „Mystik“-Buch nicht als „Geschichte der Mystik“, sondern als Darstellung einer „Erkenntnis-Gesinnung“ verstand, die alle behandelten Denker verbinde. Dabei ging es um die Erschließung eines höheren, übersinnlichen Bewusstseins, ein neues Organ, dessen Inhalte „in energischer geistig-seelischer Selbsterziehung erst innerlich hervorgebracht werden müssten“:

Dieses grundlegende Postulat eines im Menschen als Potential schlummernden, nicht auf sinnlichen Inhalten beruhenden ‚höheren‘ Bewusstseins verbindet nach Steiners Auffassung seine eigene Philosophie mit so disparaten Geistesströmungen wie Platonismus und Neuplatonisrnus, der mittelalterlichen Mystik, mit Cusanus, Paracelsus und Böhme, mit den Anschauungen Goethes und Schillers und dem Idealismus eines Fichte, Schelling und Hegel.

Dieses mystische Grundpostulat sah Steiner eng verbunden mit einem zweiten: Dass nämlich einem solchen ‚höheren‘ Bewusstsein nicht nur das Wirkliche, sondern der Grund des Wirklichen selbst – der ‚Gott‘ der religiösen Traditionen,
Jakob Böhmes ‚Urgrund‘, das ‚Absolute‘ Fichtes oder Hegels – sich unverhüllt mitteile. Ja noch mehr, in solch höherem Erkennen erweise sich dieser Grund als von der ihn erkennenden Tätigkeit des Menschen nicht getrennt, sondern als mit dieser wesenseins und somit in gewisser Weise sogar von ihr abhängig. [XXXVf]


Dies laufe letztlich auf eine „Philosophie der Freiheit“ hinaus:

Für den konsequent denkenden Mystiker tritt somit nach Steiner, ähnlich wie in der Philosophie Nietzsches, der freie Mensch an die Stelle Gottes; nicht indem er dessen Existenz ableugnet und sich selbst absolut setzt, sondern indem er durch sein eigenes freies Denken und Handeln dem evolutiven Selbstschöpfungsprozess des ‚Absoluten‘ oder ‚Göttlichen‘ in der Welt die notwendige Grundlage zur Verfügung stellt. [XXXVI]


Um dies aufzuzeigen, ordnet Steiner in seiner „Mystik“-Schrift „in Anknüpfung an die naturwissenschaftliche Methode Goethes“ die verschiedenen Gedankengestalten „wie in einer morphologischen Versuchsreihe“ so an, dass

[...] in deren Betrachtung sich die Selbsterkenntnis des Weltgrundes im Menschen als das aller menschlichen Vorstellungsbildung zugrunde liegende Urphänomen erweisen sollte. Im Lichte dieser „Ur-Tatsache“ des Bewusstseins sollte eine Verbindung von Mystik und Wissenschaft, wie Anthroposophie sie anstrebt, als natürliches telos abendländischer Geistesentwicklung erscheinen. [XXXVII]


„Ausdrückliches Ziel“ Steiners sei es gewesen, „die mystische Erfahrung selbst, unter bestimmten Voraussetzungen, als den Anforderungen wissenschaftlichen Erkennens genügend auszuweisen“ [XXXVII]. Dabei zögerte Steiner lange, seine inneren Erlebnisse mit Mystik zu identifizieren und unterschied auch später eine „richtig verstandene“ von anderen Formen. Es ging ihm um eine Synthese zwischen Mystik und Wissenschaft, die jede für sich die Wirklichkeit in eine innere und äußere Hälfte zerreißen würden:

Wenn aber der Wissenschaftler seine empirischen Methoden nicht nur auf die in der Wahrnehmung gegebenen Bilder einer äußeren Natur, sondern konsequent auch auf die Tatsachen seines Innenlebens richte, und wenn andererseits der Mystiker nicht nur das Persönliche in seinem Innenleben, sondern auch die am äußeren Naturbild zu machenden objektiven Sinnesbeobachtungen zum Gegenstand eines vertieften inneren Erlebens mache; dann könnten beide Richtungen in einer mystisch vertieften Wissenschaft bzw. einer wissenschaftlich fundierten Mystik zusammenkommen, in welcher ‚Inneres‘ und ‚Äußeres‘ im Menschen wie in der Natur als Metamorphosen ein und desselben Wesens verstanden werden. [XL]


Clement zitiert aus der Mitschrift zu Steiners „Christentum“-Vorlesung:

Wir müssen daran festhalten: In der heidnischen Religion und in den wissenschaftlichen Vorstellungen reden wir von nichts anderem, indem wir von Außenwelt reden, als dass wir unser eigenes Innenleben in die Außenwelt und diese in unsere Innenwelt hineintragen – und dann die ganze Innen- und Außenwelt als Harmonie uns entgegenkommen sehen. [CMV(I) 47]


Und fasst dann zusammen:

In den mannigfachen Weltanschauungen, Mythologien und Philosophien [...] sah Steiner somit verschiedene, gesetzmäßig beschreibbare Metamorphosen des einen Ur-Vorgangs der Projektion des ‚Ich‘, in ein wie auch immer ausgestaltetes ‚Nicht-Ich‘. [...]
In seiner Ausweitung auf alle Gebiete des menschlichen Wissens hingegen wurde es [dieses ideogenetische Grundgesetz] zur grundlegenden Leitidee der Anthroposophie überhaupt, insofern diese sich selbst als Versuch einer umfassenden Dokumentation der Selbst-Erfahrung des Seinsgrundes im menschlichen (bzw. im steinerschen) Bewusstsein darstellt. [...] Wurde die steinersche Esoterik in der philosophischen Arbeit mit Goethe und dem deutschen Idealismus gedanklich gezeugt, so werden wir in seiner Auseinandersetzung mit der Mystik Zeuge ihrer eigentlichen Geburt. [XLII]


Es wird dann auch deutlicher, was Clement mit „Projektion“ meint, wenn er sagt:

Wendet man sich der Mystik-Schrift im Besonderen zu, so fällt zunächst die Art und Weise ins Auge, wie Steiner darin einen Zugang zu den verschiedenen Mystikern zu gewinnen sucht, indem er nämlich die in seinen philosophischen Frühschriften skizzierte eigene Innenerfahrung in die behandelten Denker hinein imaginiert.* [...]
* Wir verwenden den Begriff der Imagination oder ‚Ein-Bildung‘ hier in dem positiven Sinne, in dem er in der abendländischen Mystik oft gebraucht wird: nicht bildet der Mensch sich etwas ein und erschafft so eine bloß subjektive Fiktion, sondern der Grund des Seins selbst bildet sich im Menschen einen Spiegel seines eigenen Wesens. Vgl. etwa die Formulierung Böhmes, „In welche Welt sie [die Seele] sich nun eineignet und ergiebt, von derselben bekommt sie Wesen in ihrer Imagination. (Sex puncta phdosophica, 6, 25). [...] Ausgehend von einem solchen Verständnis von Imagination kann man Steiners methodischen Versuch verstehen, gerade dadurch, dass er sich in die Äußerungen der besprochenen Autoren selbst hinein imaginiert, das Wesen dieser Denker, genauer, das in seinem und ihrem Denken vorstellungsbildend wirkende Wesen überhaupt zur Erscheinung zu bringen. [XLIII]


In Bezug auf den Anspruch einer Geistes-Wissenschaft schreibt Clement:

Zwar wollte auch er, Steiner, das Geistige mit den Methoden der modernen empirischen Wissenschaft erfassen, doch bestand er darauf, dass die Organe einer solchen ‚geistigen Empirie‘ völlig andere seien als die der sinnlichen. Und nur wenn der Mensch sich dieser Organe, welche er freilich in sich erst zu entwickeln habe, in der rechten Weise bediene, dann könne die mystische Methode der Wirklichkeitserforschung ebenso empirisch, methodisch und exakt sein wie die (natur)wissenschaftliche. So wird in diesen Exkursen das eigentliche Ziel der Mystik-Schrift ganz besonders deutlich: die methodologische Fundierung einer modernen, aus mystischer Erfahrung schöpfenden Geisteswissenschaft, welche der modernen Naturwissenschaft gleichberechtigt zur Seite stehen, ja mit ihr eine Synthese eingehen kann. [XLV]


Dies ist am Ende nicht ganz richtig, denn Steiners Geisteswissenschaft wollte der modernen Naturwissenschaft nicht „zur Seite stehen“ oder mit ihr „eine Synthese eingehen“, sondern wollte diese moderne Naturwissenschaft selbst weiterführen. Die Naturwissenschaft selbst braucht gerade eine Synthese mit der Mystik – und dies wäre dann Geisteswissenschaft. Beide Einseitigkeiten, die nicht zur vollen Wirklichkeit führen, müssen miteinander verbunden werden, um zu einer Wissenschaft der vollen Wirklichkeit zu werden: zur Geisteswissenschaft oder Anthroposophie...

Mysterienwesen und Gotteserfahrung

Indem Clement dann auf das Mysterienwesen eingeht, macht er deutlich, dass Steiners Erkenntnisbegriff der Frühschriften, der bereits auf ein „höheres“ Bewusstsein orientiert ist, „ganz organisch auf den Initiations-Begriff und die Mysterientradition hin[führt]“ und es demzufolge kein Bruch ist, wenn der Erkenntnistheoretiker Steiner zum spirituellen Lehrer wird.

Auch gegen kirchlich-theologische Polemik angesichts von Steiners Vorträgen über die Evangelien oder gar eine „Selbststilisierung zum fünften Evangelisten“ (Zander) nimmt Clement Steiner in Schutz, indem er darauf verweist, dass Steiner nichts anderes tut als andere Mystiker, Seher und spirituelle Lehrer. Danach heißt es:

Und in seiner Autobiographie von 1924/25 knüpfte er noch einmal an diesen Topos an, als er von einem persönlichen geistigen „Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster ernstester Erkenntnis-Feier“ sprach und sich so in gut böhmescher Manier selbst in die Menge der unmittelbaren Zeugen der Kreuzigung Christi einreihte. Wer diesen mystischen Grundzug in Steiners Denken kennt, der kann nicht allzu überrascht sein, dass der Autor der Philosophie der Freiheit, welcher schon um 1894 das Denken als Element des Ursprungs der Welt identifizierte, ein Jahrsiebt später nicht davor zurückschreckte, seine eigenen Denkerlebnisse für Aussprüche des Weltgeistes zu erachten. [XLVIIf]


Auch letzteres ist von Clement offenbar nicht desavouierend gemeint, sondern vor allem als Feststellung eines echten, in Entsprechung zu Hegel und dem Idealismus erhobenen Anspruches. Dass mit Steiners Andeutung von einem „Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha“ eine tiefste bzw. höchste Erkenntnis-Erfahrung gemeint ist, die man keineswegs auf ein „Sich-Einreihen in die Menge der unmittelbaren Zeugen der Kreuzigung Christi“ reduzieren kann, versteht sich von selbst. Aber auch Clement kommt im Laufe der weiteren Besprechung der „Mystik“-Schrift zu deutlich fundierteren Beschreibungen.

In der Schrift „Das Christentum“ sei dann Steiners zentrale These im ersten Teil dass sowohl die Mythen als auch philosophische Anschauungen ursprünglich den Erkenntniserlebnissen in den Mysterien entspringen. In diesen wurde die Aufmerksamkeit des Schülers von den selbsterschaffenen Göttern auf die „götterschaffende Tätigkeit“ des eigenen Bewusstseins gelenkt, in der der Subjekt und Objekt umfassende Seinsgrund selbst wirksam ist. [XLIX]

Dazu Steiner selbst:

Dieselben Naturkräfte, dasselbe göttliche Element, die in der Natur schaffen, schaffen auch im Mysten. Und in ihm erzeugen sie Göttervorstellungen. Er will diese götterschaffende Kraft schauen. [...]
Durchtränke deine Phantasie mit religiösem Gefühl; du kannst die Bilder von Wesen schaffen, die du für Götter halten magst, doch dein Verstand zerpflückt sie dir, denn er weist dir nach, daß du sie selbst geschaffen und dazu den Stoff aus der Sinnenwelt entlehnt hast. Sofern du als verständiger Mensch die Dinge um dich herum betrachtest, mußt du Gottesleugner sein. Denn Gott ist nicht für deine Sinne und für deinen Verstand, der dir die sinnlichen Wahrnehmungen erklärt. Gott ist eben in der Welt verzaubert. Und du brauchst seine eigene Kraft, um ihn zu finden. Diese Kraft mußt du in dir erwecken. Das sind die Lehren, die ein alter Einzuweihender empfing. Und nun begann für ihn das große Weltendrama, in das er lebendig verschlungen wurde. In nichts Geringerem bestand dieses Drama als in der Erlösung des verzauberten Gottes. Wo ist Gott? Das war die Frage, die dem Mysten sich vor die Seele stellte. Gott ist nicht, aber die Natur ist. In der Natur muß er gefunden werden. In ihr hat er sein Zaubergrab gefunden. In einem höheren Sinne faßt der Myste die Worte: Gott ist die Liebe. Denn Gott hat diese Liebe bis zum äußersten gebracht. Er hat sich selbst in unendlicher Liebe hingegeben; er hat sich ausgegossen; er hat sich in die Mannigfaltigkeit der Naturdinge zerstückelt; sie leben, und er lebt nicht in ihnen. Er ruht in ihnen. Er lebt im Menschen. Und der Mensch kann das Leben des Gottes in sich erfahren. Soll er ihn zur Erkenntnis kommen lassen, muß er diese Erkenntnis schaffend erlösen. – Der Mensch blickt nun in sich. Als verborgene Schöpferkraft, noch Dasein-los, wirkt das Göttliche in seiner Seele. In dieser Seele ist eine Stätte, in der das verzauberte Göttliche wieder aufleben kann. Die Seele ist die Mutter, die das Göttliche aus der Natur empfangen kann. Lasse die Seele von der Natur sich befruchten, so wird sie ein Göttliches gebären. [...]
Die mystische Erkenntnis ist damit ein wirklicher Vorgang im Weltprozesse. Sie ist eine Geburt eines Gottessprossen. Sie ist ein Vorgang, so wirklich wie ein anderer Naturvorgang, nur auf einer höheren Stufe. Das ist das große Geheimnis des Mysten, daß er selbst seinen Gottessprossen schaffend erlöst, daß er sich zuvor aber vorbereitet, um diesen von ihm geschaffenen Gottessprossen auch anzuerkennen. Dem Nicht-Mysten fehlt die Empfindung von dem Vater dieses Sprossen. Denn dieser Vater ruht in Verzauberung. Jungfräulich geboren erscheint der Sproß. Die Seele scheint unbefruchtet ihn geboren zu haben. Alle ihre anderen Geburten sind von der Sinnenwelt empfangen. Man sieht und tastet hier den Vater. Er hat sinnliches Leben. Der Gottes-Sproß allein ist von dem ewigen, verborgenen Vater-Gott selbst empfangen. [GA 8, 35-37]

Rudolf Steiners Christologie

Clement weiter:

Eingebettet in diese ambitionierte und weit gespannte Konzeption einer Geistesgeschichte des Abendlandes als Geschichte der Metamorphosen des sich selbst erkennenden (bzw. verkennenden) Geistes hat Steiner die Grundzüge seiner Christologie entfaltet. [LII]


Clement skizziert, wie die historisch-kritische Bibelforschung im 19. Jahrhundert dazu führte, dass von Christus, dem logos und pantokrator letztlich nur noch „der schlichte Mann aus Nazareth“ übrig blieb, wie demgegenüber aber H.P.B. Blavatzky „Christos“ als kosmisches Schöpfungsprinzip beschrieb, das „sich in der Selbst-Erkenntnis besonders entwickelter Menschen wie Jesus und Buddha selbst realisierte“. Dem vergleichbar sei auch Annie Besants Vorstellung eines kosmischen Christus gewesen. Auch Steiner verweist in seiner „Mystik“-Schrift auf den Christus, „der in jedem Menschen als dessen tiefere Natur geboren werden kann“ (GA 7, 97). Für Steiner ist dies zugleich die Manifestation des Seinsgrundes, der logos von Platon und Philo von Alexandrien. Im Gegensatz zu Zander kommt Clement zu dem Schluss:

Aufgrund der Ähnlichkeiten zwischen der christologischen Konzeption Steiners und den Vorstellungen Blavatskys und Besants haben Kritiker immer wieder vermutet, dass Steiner sein Christus-Bild aus der Literatur der anglo-indischen Theosophie geschöpft haben muss. Dieser zunächst auf der Hand liegenden Annahme steht freilich entgegen, dass das hier in theologische Kategorien gekleidete Christus-Verständnis konzeptionell bereits eindeutig im Wesens-Begriff der steinerschen Frühschriften angelegt ist. Schon in den Grundlinien finden sich Sätze wie: „Unsere Erkenntnistheorie führt zu dem positiven Ergebnis, daß das Denken das Wesen der Welt ist und daß das individuelle menschliche Denken die einzelne Erscheinungsform dieses Wesens ist“ (GE, 58; GA 2, 79). [LIII]


Nun referiert Clement kurz zentrale Gedanken aus Steiners christologischen Zyklen: Die Jordantaufe; die Durchdringung und Verwandlung des Leibes Jesu durch die Christus-Wesenheit; die Verbindung des makrokosmischen Christus mit der Erde, deren Verwandlung und die fortan für jeden Menschen gegebene Möglichkeit, sich aus dem rein materiellen Weltbild zu befreien „und sich zu innerer Anschauung der Wirklichkeit des Geistigen im Materiellen bzw., theologisch gesprochen, der Wirksamkeit des Christus in der Welt zu erheben“ [LV].

Das Christentum war für Steiner eine „mystische Tatsache“ insofern, als er die in den Evangelien geschilderten Ereignisse und Gleichnisse in derselben Weise deutete, wie schon diejenigen des antiken Mythos, nämlich als Bilder für bestimmte geistige Entwicklungstatsachen. [...] Der Kern und das Einzigartige des Christentums bestanden daher für Steiner nicht in dem, was der historische Jesus lehrte – diese Inhalte seien sämtlich auch in anderen Religionen zu finden –, sondern in dem, was der ‚kosmische Christus‘ tatsächlich tue bzw. zu tun sich bestrebe: nämlich in der Verwirklichung der mystischen Selbst-Erkenntnis im Menschen zu sich selbst zu kommen und somit ‚aufzuerstehen‘. [LV]


Im Folgenden skizziert Clement die weitere Entwicklung ab 1907, als es zu offenen Spannungen gegenüber Steiners westlich-rosenkreuzerischem Weg und schließlich zur Proklamation von Krishnamurti als Reinkarnation Christi kommt. Dem stellt Steiner die Hintergründe der Wesensglieder des Jesus-Leibes, der zwei Stammbäume und die Wiederkunft im Ätherischen entgegen. – Dass sich hier bei Clement dann Begriffe wie „hochkomplexe Vorstellungen“ und „postulierte er“ ein wenig häufen, ist sehr verständlich, bleibt es doch immer, und gerade hier, die (berechtigte!) Außenperspektive. Festzuhalten bleibt, dass Clement selbst hier nie zu einem offenen oder subtilen eigenen Urteil übergeht – seine Sprache bleibt klar und objektiv, um sachliche Wiedergabe bestrebt.

Im Anschluss referiert Clement Lorenzo Ravagli und dessen gegen Zander und seine „Bruch/Plagiats“-Thesen gerichtete Argumentation, dass alle zentralen Gedanken der Anthroposophie (Reinkarnation und Karma, Wesensglieder des Menschen, Schulungsweg, Kosmogonie) sehr wohl bereits in den Frühschriften vorgebildet sind – und ergänzt Ravaglis Ausführungen noch durch eigene Bemerkungen. Etwas später sagt er dann dezidiert:

[D]ie These, dass Steiner sich die Reinkarnationsvorstellung erst nach Abfassung der Christentums-Schrift angeeignet habe, erweist sich im Lichte der Vortragsfassung als nicht haltbar. [LXVIII]

Zu den Veränderungen der einzelnen Auflagen

In dem Abschnitt „Zur Textentwicklung“ verweist Clement darauf, dass Steiner die Neuauflage von „Die Mystik“ aus dem Jahre 1910 als „im wesentlichen unverändert“ bezeichnet, und bestätigt dies. Eine wesentliche Änderung stelle nur der „Ausklang“ dar, in dem Steiner einen anderen Geist-Begriff fasst:

So heißt es etwa in der Erstauflage, dass man den Geist „nicht in der Wurzel der Natur, sondern in ihrer Frucht“ zu suchen habe, dass der „Geist ein Entwickelungsergebnis“ und dass „ein thatsächlich existierender Geist nur im Menschen zu finden“ sei (MA, 119). [...] Die Neuauflage hingegen schlägt einen ganz anderen Ton an, wenn es dort nun heißt, dass es sehr wohl einen „Geist in der Natur“ gebe, nur eben keinen „sinnenfälligen“, und dass die Rede vom Geist als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses sich nur auf den individuellen menschlichen Geist beziehe, nicht aber auf das Geistige als solches (MA, 119). [LXII]


Steiner selbst erklärte in Bezug auf die Fassung von 1901, er habe nur stark betonen wollen, dass der der Natur zugrunde liegende Geist, in ihr gefunden werden müsse und nicht von außen in sie hineingetragen werden dürfe. Clement setzt dies in Beziehung zu dem damals populären Spiritismus, von dem Steiner sich abgrenzen wollte, indem er ihm „die Rede von der ‚geistlosen‘ Natur“ entgegensetzte.

Abschließend schreibt Clement, auch unter Hinweis auf Steiners „Bologna-Vortrag“ (über das in der „Außenwelt“, in der „Gesetzmäßigkeit der Dinge selbst“ vorzustellende Ich):

Steiners Geist-Begriff hat somit eine ähnliche Metamorphose durchgemacht, wie sein Christus-Bild: Was in der philosophischen Diktion seiner frühen Darstellungen primär als im Menschen sich realisierendes immanentes Prinzip erschien, wurde später gewissermaßen von außen angeschaut bzw. als einem Äußeren immanent vorgestellt: Der logos ‚inkarniert‘ sich in Jesus, der Geist ‚manifestiert‘ sich in der Natur. Die steinersche Esoterik kann als eine zum Zweck der Anschaulichkeit vorgenommene ideelle Umstülpung seiner Philosophie verstanden werden, in welcher dasjenige, was zuvor Inneres war, als Äußeres angeschaut wird, und umgekehrt. Dass in einem solchen Denken in Umstülpungen, worauf Kritiker immer wieder hingewiesen haben, notwendig konzeptionelle Widersprüche auftreten, lässt sich nicht von der Hand weisen. Aber diese stellen aus Steiners Sicht nicht unbedingt eine Schwäche seiner Argumentation dar. Vielmehr kann, aus seiner Perspektive, gerade der konzeptionelle Widerspruch – wenn er nicht nur gedacht, sondern erlebt wird – den Denker in das im Widerspruch sich darlebende Wesenhafte hineinführen. [LXIIIf]


Auch die Neuauflage von „Das Christentum“ (1910) bezeichnete Steiner als bis auf einige Erweiterungen und Verdeutlichungen im Wesentlichen unverändert. Zander jedoch spricht von „massiven Eingriffen“, angesichts derer man sich fragen müsse, „ob Steiner bewusst gelogen oder das Ausmaß der Veränderung verdrängt“ habe.

Clement referiert dann die von Zander genannten Punkte: Das Christentum wurde zum „zentralen Ereignis der Menschheitsgeschichte“, die Mysterien und früheren Eingeweihten zu bloßen „Vorläufern“, gegenüber der innerlich-mystischen Deutung auch die historische Wirksamkeit Christi und des Christentums betont, gegenüber dem Eingeweihten Jesus der Christus. An die Stelle des Mysterienverrats Jesu trete das „Mysterium von Golgatha“. Dem stellt Clement erneut Ravaglis Argumentation gegenüber, dass auch schon 1901 das Christentum als Vollendung und Überwindung der Mysterientraditionen beschrieben werde, Jesus als „Ur-Initiator“ bezeichnet wird und der mystische Christus sehr wohl auch in seinem universell-makrokosmischen Aspekt gemeint sei.

In Bezug auf die Veränderungen der Auflage von 1925 erwähnt Zander, dass es zuvor hieß, der Mensch könne den „Gott in sich erwecken“, nun aber, er könne „das Leben des Gottes in sich erfahren“. Weiterhin hieß es zuvor, der Mensch müsse Gott „schaffend erlösen“, nun gelte dies nur noch der Erkenntnis von Gott. Drittens nehme Steiner pantheistische Äußerungen zurück, wenn er schreibt, Gott lebe zwar im Menschen, nicht aber in der Natur.

Zunächst kommentiert Clement, dass sich all dies auf ein einziges Zitat beziehe [siehe das lange Zitat weiter oben] und angesichts dessen „Zanders Postulierung einer grundsätzlichen Positionsveränderung auf Seiten Steiners überzogen“ sei [LXXI]. Zudem verkenne derjenige, der dadurch „die Autonomie des Menschen eingeschränkt“ (Zander) sieht, dass es in Steiners Anschauung letztlich keinen Unterschied mache, ob der Mensch „Gott“ oder die „Gotteserkenntnis“ schaffend erlöse, da die menschliche Erkenntnis der einzige Ort sei, wo „Gott“ bzw. der „Gottesspross“ im eigentlichen Sinne Dasein habe. Auch sei die „Erlösung Gottes“ an vielen anderen Stellen stehengeblieben. Und in Bezug auf den dritten Punkt impliziere keine der beiden Fassungen „irgendeinen Pantheismus“ [LXXII].

Psychotherapie oder Schulungsweg – Exkurs zur SKA 7

Auch ein Auszug aus der Einleitung zur SKA 7 (in der „Wie erlangt man...?“ herausgegeben werden wird) erschien bereits in der Juni-Ausgabe von „Info3“ [o]. Hier stellt Clement ausführlich Rudolf Steiners Ansatz eines inneren Schulungsweges und die Psychotherapie gegenüber. Und man darf vorwegnehmen, dass er mit sehr leiser, warmer Entschiedenheit darauf hindeutet, dass bei Rudolf Steiner wesentliche Erkenntnisse vorliegen könnten, die die Psychotherapie bisher nicht genügend gesehen hat.

Clement schreibt:

Denn dieses Seelenleben sei nicht nur durch vorgeburtliche und frühkindliche Erfahrungen geprägt, sondern trage zudem in jedem Augenblick auch die karmischen Ergebnisse früherer Inkarnationen und in gewisser Hinsicht sogar die Keime künftiger Lebensstufen in sich. [...] Der [...] signifikanteste Kritikpunkt an der Psychoanalyse jedoch ist, dass diese trotz eines prinzipiell richtigen Ansatzes mit „unzureichenden Erkenntnismitteln“ arbeite, indem sie glaube, mit Hilfe des analytischen Verstandes das Seelische in den Blick nehmen zu können. [...] Um aber seelische und geistige Phänomene in ihrer ureigenen Gestalt und somit auch die eigentlichen Ursachen psychischen Leidens in den Blick zu nehmen, bedarf es nach Steiner einer Steigerung und Verwandlung des gewöhnlichen Vorstellens, Fühlens und Wollens durch meditative Arbeit zur Imagination, Inspiration und Intuition.


Im Folgenden bezieht sich Clement dann insbesondere auf Arbeiten von Wolf-Ulrich Klünker (der übrigens soeben  an der Alanus-Hochschule zum „Professor für Anthroposophie“ ernannt wurde, wie Info3 vor drei Tagen meldete [o]).

Rudolf Steiner verstand zum Beispiel die heute so rapide zunehmende Erscheinung der Depression als ein Abgeschnittensein des Denkens vom Seelischen: „Gefühle, die von Vorstellungen nicht erfasst werden, sind depressiv“ (GA 317, 67).

[...] gerade im Erkennen und Aushalten der beschriebenen Erkenntnis-Ohnmacht, so argumentiert Steiner, entwickele die Seele jene Bewusstseinskräfte, die sie über die Ohnmacht letztlich hinausführen. Das individuelle und kollektive Auftreten der Depression kann somit als Symptom eines ganz naturgemäß erfolgenden Weckrufs an den Menschen aufgefasst werden, die im eigenen Wesen liegenden geistig-seelischen Entwicklungsmöglichkeiten zu ergreifen und zu verwirklichen.


Clement referiert dann kurz Ausführungen Klünkers, wonach das Üben der Urteils-Enthaltung und eines völlig „leeren“ Bewusstseins, aber auch das Herumführen des Kandidaten mit verbundenen Augen im erkenntniskultischen Ritual als ein Herbeiführen einer „künstlichen Depression“ verstanden werden kann, wobei aus dem Ohnmachts-Erleben heraus jene Kräfte angeregt werden, die zu den höheren Erkenntnisstufen führen können.

Als Mathilde Scholl im Verlauf ihrer Mediationspraxis Steiner über depressive Zustände berichtete, schrieb dieser ihr, sie möge sich keine Sorgen machen, solche Erlebnisse seien notwendige Begleiterscheinungen einer wirksamen esoterischen Arbeit und Zeichen des wirklichen Fortschrittes. Clement kommentiert dies:

Ob solche Äußerungen darauf hindeuten, dass Steiner in psychologischer und psychotherapeutischer Hinsicht völlig unerfahren war und insofern unverantwortlich gehandelt hat, wie Zander ihm unterstellt (vgl. Zander Anthroposophie in Deutschland, I, 715 f.) oder ob Steiner hier sachgemäß eine entwicklungspsychologisch bedeutsame Dimension der Depression beschrieben hat, werden künftige Untersuchungen zu ermitteln haben. Sollte Steiners Deutung sich als zutreffend erweisen, dann erschiene die heute weit verbreitete Praxis, dem Phänomen der Depression ausschließlich durch Psychopharmaka zu begegnen, als tragischer Irrweg, vergleichbar einer Therapie, welche die Geburtswehen einer werdenden Mutter als Krankheit interpretierte und diese mit kontraktionsunterdrückenden Medikamenten zu kurieren suchte.