09.03.2015

Das eigentliche Problem der SKA und verwandter Projekte

Anthroposophie, Rudolf Steiner und ihre Interpretatoren.


Seit Monaten flammt eine Diskussion um die Kritische Steiner-Ausgabe von Christian Clement. Von einigen Menschen, die sich der Anthroposophie verbunden fühlen, wird Clement heftig angegriffen, von der „anthroposophischen Mainstreampresse“ inzwischen im wesentlichen hofiert. Führende „Goetheanum-Anthroposophen“ sollen mit Clement nur unter Zusicherung der Verschwiegenheit in Kontakt stehen. Tatsachen wie die letzteren offenbaren wirklich Abgründe.

Zu unterscheiden ist bei alledem doch Folgendes:

  1. Es gibt verschiedene Auflagen von Steiners Werken.
  2. Es gibt Sekundärliteratur, die Rudolf Steiner gekannt und oft auch herangezogen hat.
  3. Es gibt Rudolf Steiners Geistesforschung.
  4. Es gibt Rudolf Steiners eigene Beschreibung seines Geistesweges, zum Beispiel in „Mein Lebensgang“.
  5. Es gibt die Interpretationen heutiger Forscher.
  6. Es gibt die eigenen Meinungen über all dies.
  7. Es gibt die Anthroposophie.
  8. Es gibt Wahrheiten und Irrtümer.
  9. Es gibt die Frage, was Anthroposophie eigentlich ist.
10. Es gibt Intentionen, die Rudolf Steiner gehabt hat.

Dies sind einige der wesentlichen Tatsachen, um die sich der ganze Streit dreht.

Die philologische Arbeit ist kein Problem. Wird sie sauber getan, stellt sie einfach nur Tatsachen fest: In verschiedenen Auflagen wurde dieses Wort oder dieser Absatz durch jenes Wort oder jenen Text ersetzt – und so weiter.

Sobald Interpretationen hinzukommen, tritt die Möglichkeit des Irrtums ein – also die Möglichkeit, dass die Interpretation nicht der wirklichen historischen Tatsache entspricht. Man kann interpretieren, warum Steiner etwas getan habe, was er sich dabei gedacht habe. Man kann interpretieren, warum Steiner etwas so oder so geschrieben habe. Man kann interpretieren, was er von Fichte gedacht habe, wenn er zu diesem oder jenem Zeitpunkt dies oder jenes über Fichte geschrieben hat. Man kann interpretieren, ob er damit etwas Bestimmtes erreichen wollte oder auch nicht. Immer sind es Interpretationen – die mehr oder weniger vollkommen den Zusammenhang berücksichtigen oder auch nicht; die wirkliche Intention Steiners treffen oder auch nicht; die der Wirklichkeit mehr oder weniger nahe kommen ... oder auch nicht.

Steiner hat auch teilweise scharf und überspitzt geschrieben. Dies erhöht die Irrtumswahrscheinlichkeit der diversen Interpretatoren – und auch die Zahl der möglichen Irrtümer. Man kann ein ganzes Netz von Indizien zusammentragen und sich seiner Sache und auch seiner wissenschaftlichen Gründlichkeit völlig sicher sein und dennoch winzige Details oder größere Zusammenhänge übersehen haben und so zu ganz schiefen und damit falschen Deutungen kommen.

Man könnte zeigen, wie heutige Wissenschaftler ganz individuell solche Fehler und Irrtümer begehen. Solche Fehler bekommen eine eigene Systematik, wenn erst einmal die Schlussfolgerungen fest stehen und auf dem eingeschlagenen Weg immer weiter gegangen wird. Natürlich gewinnt ein solcher Weg dann eine ganz eigene Überzeugungskraft – denn man stößt dann auf einmal auf verschiedenste Erkenntnisse, die alle die eigene Interpretation zu bestätigen scheinen. Die eigene Brille auf den Augen sieht man natürlich nicht. Also liest man mit ihr immer weiter...

Ich habe dies am Beispiel von Helmut Zander ausführlich gezeigt – aber bei ihm haben es natürlich auch viele Andere deutlich merken können. Dennoch bleibt es eine ungeheuer starke Tendenz, den Ergebnissen eines solchen Wissenschaftlers dennoch eine gewisse Gültigkeit beizumessen. Dies liegt zum einen an der generellen, nur zu unterschätzenden Suggestion, die alle „wissenschaftlich“ genannten Ergebnisse heute auf die Seele haben. Zum anderen liegt es daran, dass man die Fehler in den Schlussfolgerungen nicht in jedem Einzelfall erkennt und dann meint: ‚Hier hat er doch aber wohl recht?’ Zum dritten gibt es starke Tendenzen in den Seelen, die selbst wollen, dass bestimmte Schlussfolgerungen richtig sind, die selbst wollen, dass Rudolf Steiner ein letztlich doch sehr gewöhnlicher Mensch gewesen sei und so weiter.

Ohne eine genaue Erforschung all dieser einzelnen Gründe kann man stets nur weiter emotional an den verschiedensten Diskussionen um diese Fragen teilnehmen – oder auch nicht.

Die Interpretationen der Forscher haben anderen Positionen stets voraus, dass die Wissenschaft heute generell die Realität einer geistigen Welt und die Möglichkeit einer Geistesforschung, wie Rudolf Steiner sie beschrieb, leugnet. Die einzelnen Wissenschaftler können dabei noch so oft behaupten, dass sie diese Frage „ganz offen“ lassen, dass sie in diesem oder jenem Zusammenhang einfach gar nicht interessiert – und doch ist die eigentliche Existenzgrundlage der heutigen Wissenschaft nun einmal die Nicht-Existenz einer realen geistig-spirituellen Welt. Selbst das „Offenlassen“ ist eigentlich schon eine Negierung, denn selbst ein „Ich weiß nicht“ bedeutet nichts anderes als: In diesem Moment und bisher existiert dies für mich nicht.

Weil das in diesem Sinne reale Negieren der geistigen Welt also den Grundkonsens und den gemeinsamen Boden heutiger Wissenschaft bildet, ist auch die damit verbundene Suggestion einfach eine Tatsache. Jeder Standpunkt, der umgekehrt eine geistige Welt voraussetzt, ist von daher zunächst schwächer – denn die „Wissenschaft“ negiert ihn gerade, klammert ihn absichtlich aus, und jeder Standpunkt, der ihn absichtlich ein-klammert und nicht negiert, hat von vornherein den Stempel „unwissenschaftlich“. Die Position ist einfach schwächer, unendlich viel schwächer.

Wenn es aber eine geistige Welt nicht gibt, oder wenn man sie einfach ausklammert, weil man auch gar nicht weiß, was man sich darunter vorstellen soll – dann wird auch ein Mensch namens Rudolf Steiner fast automatisch ein gewöhnlicher Mensch, denn man weiß eben auch gar nicht, worin er sich von Anderen unterschieden haben soll. Das ganze Gespür dafür besitzt man gar nicht. Dann besitzt man aber auch keinerlei inneres Sinnesorgan für den Unterschied zwischen Steiner und Fichte, zwischen Idealismus und Geistesforschung, wie sie von Steiner gemeint und beschrieben worden war, und so weiter. Die Realitäten relativieren sich, weil man kein Organ für diese Realitäten hat. Der „Relativismus“ ist kein Vorwurf, sondern eine Tatsache. Er entsteht gerade dadurch, dass man einen Bereich verabsolutiert, der eben in einem viel umfassenderen Gesamtzusammenhang steht.

Den gleichen Fehler haben schon damals Menschen gemacht, die Steiner als Nietzscheaner, als Haeckelianer etc. bezeichnet haben – immer war der Blick nur auf einen durchaus wesentlichen Teil gerichtet, aber dieser Teil wurde verabsolutiert. Philologen, Historiker, Quellenforscher – sie alle verabsolutieren schon von Berufs wegen einen Teil des Ganzen und sind von Hause aus betriebsblind für dasjenige, was viel wesentlicher sein könnte und was nie vergessen werden dürfte, wenn man je zu einer wahren Interpretation kommen wollte. Richtig können alle Interpretationen dieser Spezialisten durchaus sein – aber richtig nur von ihrem Standpunkt aus; sie können richtig und dennoch völlig falsch sein...

Man könnte über diese Frage endlos weiter schreiben und auch unzählige Beweisführungen entfalten, aber darum geht es jetzt nicht.

Die eigentliche Frage ist: Was ist Anthroposophie? Was wollte Rudolf Steiner? Was ist die Aufgabe des Menschen, wenn es eine geistige Welt gibt und diese geistige Welt auf den Menschen wartet?

Rudolf Steiner hat in einem unvergleichlichen Lebenswerk darauf hingewiesen, dass es diese geistige Welt gibt und dass sie auf den Menschen wartet und was die Menschen tun können, um auf dieses Warten zu antworten... Dies ist also die Aufgabe derer, die sich der Anthroposophie verbunden fühlen und von Rudolf Steiners Person, Wirken und Werk tief berührt worden sind: Auf dieses Warten der geistigen Welt durch eigenes Streben und Ringen, durch eine innere Entwicklung hin zu einer wirklichen Spiritualisierung des Denkens zu antworten.

Man kann diesem Warten, diesem unhörbar-hörbaren Ruf der geistigen Welt nicht folgen, ohne gegenüber Rudolf Steiner eine große Ehrfurcht und Dankbarkeit zu empfinden. Dies hat nichts mit der ganzen „Kult-Diskussion“ zu tun, die etwa auch Michael Eggert sehen will und verspottet. Ehrfurcht ist die erste Fähigkeit der Seele, die errungen werden muss, wenn überhaupt ein innerer Entwicklungsweg betreten werden soll – diese Tatsache erlebt man um so tiefer, je mehr man sie selbst innerlich wahr macht. Wie aber könnte sich dann je diese Ehrfurcht nicht gerade auch auf jene Individualität richten, die diesen Weg so weit und klar eröffnet hat? Dass Rudolf Steiner nicht verehrt werden wollte, wissen die wahren Anthroposophen am allerbesten – aber alle anderen verstehen den Unterschied, um den es hier geht, offenbar nicht.

Eggert schreibt auch fast genüsslich-angewidert von der Selbstzerfleischung der „Anthroposophen“, die sich nur mit ihren internen Streitereien beschäftigen, was die große Welt zum Glück nicht interessiere. Dazu ist zu sagen: Die große Welt interessiert sich auch für die Anthroposophie überhaupt nicht – bis jetzt. Clement und andere interessieren sich nun zwar für das schriftliche Werk Rudolf Steiners, aber aus derjenigen Arbeit, die sie tun, geht nicht der kleinste Erkenntnisgewinn für das wirkliche Wesen spiritueller Geisteswissenschaft hervor. Alles, was sie tun können, ist interpretieren und relativieren – per se durch ihre Arbeit. Man kann nun das einem geschenkte Menschenleben dafür verwenden, zu interpretieren und zu relativieren (indem man verabsolutiert), oder man kann demjenigen Weg folgen, für den Rudolf Steiner die Tür aufgestoßen hat, um etwas zu tun, worauf die geistige Welt inständig wartet...

Mehr wäre zu dem Thema nicht zu sagen – wenn nicht selbst dies wieder in einen unheiligen Interpretationsstreit hinabgezogen würde. Selbstverständlich gehört es auch zum „Bewusstseinsseelen-Zeitalter“, nicht naiv und ungeprüft alles hinzunehmen und in eine blinde Verehrung zu verfallen. Doch wenn Michael Eggert nun die wissenschaftliche „Bearbeitung“ Rudolf Steiners mit einem wirklichen Hineinwachsen in die Bewusstseinsseele verwechselt, dann zeigt dies, wie weit der Relativismus und die Profanisierung in den Seelen bereits fortgeschritten ist. Wie man zugleich zutiefst prüfen kann und dennoch gerade dadurch in einen entgegengesetzten Prozess hineinkommt, hat schon Friedrich Rittelmeyer bewundernswert vorgelebt (siehe „Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner“).

Nicht profaner soll das Anschauen werden, sondern spiritueller – in allem. Wenn man Rudolf Steiner verstehen will, braucht man vielleicht zunächst die Schule des Novalis. Aber man kann sich wirklich alles zurechtlegen, wie es die eigene Brille einem sagt. Dazu stehen wir nun einmal im Zeitalter der Freiheit. Doch ob man damit überhaupt noch ansatzweise den Spuren Rudolf Steiners folgt, bleibt zweifelhaft und wird immer zweifelhafter.

Der Ruf der geistigen Welt ertönt fortwährend. Und er will nicht interpretiert werden...