17.03.2015

Verteufelung des Intellekts?

Typische Missverständnisse modern sein wollender Steiner-Interpreten.


Inhalt
Eggerts jüngstes „Statement“
Denken und Offenbarung
Das „Gesonderte“ und der Christusbegriff
Hochmut und Ungeistigkeit
Schwammiges Herzdenken und Verteufelung des Intellekts?
(Nachtrag: Reaktion ... eine Kakophonie der Sinnlosigkeit)


Eggerts jüngstes „Statement“

Es gibt Menschen, die mit selbstsicherster Überzeugung andere Menschen diffamieren können, ohne zu merken, was sie tun und ohne ihre eigenen Fehlschlüsse zu bemerken. Zu solchen Menschen gehört immer wieder auch Michael Eggert.

Da er einen offenbar gut besuchten Blog betreibt, der den Anspruch erhebt, mit Anthroposophie zu tun zu haben, obwohl er im Grunde in Vielem der immer wieder unsäglichen „Info3“ ähnelt – symptomatisch ist allein schon der Titel: „Egoisten – die bloggenden Anthropotanten“ –, muss ich an dieser Stelle wieder einmal kurz auf seine Äußerungen eingehen.

Leider typisch für Eggert sind Äußerungen wie die Folgende:

Ich bin ja wirklich erstaunt, mit welcher Inbrunst - nach 100 Jahren Steiner- hier von vielen Lesern immer noch das Credo der Zweiheit von Denken und "Offenbarung" hoch gehalten wird. Teilweise von Menschen, die seit Jahrzehnten Steiner gelesen haben! Dasselbe gilt für das Hochhalten eines gesonderten "Spirituellen", einer Religion oder eines Christusbegriffs. Denen, die Steiners Denken über das Denken folgen, wird Hochmut und "Ungeistigkeit" vorgeworfen. Es ist schlimmer als in einem tief katholischen Milieu ( das heutzutage im übrigen viel liberaler ist, zumindest in den Städten). Man versteht die Verzweiflung eines Georg Kühlewinds. Das Hochhalten eines schwammigen "Herzdenkens", das in der Art testamentarischer Offenbarung vorgestellt wird, findet man in dieser Gesellschaft allerorten. In den Köpfen geistert immer noch das Milieu der Theosophischen Gesellschaft. So schlimm, wie es sich heute darstellt, war es schon eine oder zwei Generationen zuvor; da bewegt sich einfach nichts.
16.3.2015, 20:59 Uhr. o


Und:

Meine Meinung ist auch: Wer heute noch die Verteufelung des "Intellektuellen" betreibt - siehe Niederhausen, Kromme, Röhr, usw- hat offenbar den Nationalsozialismus nicht mit bekommen. Oder das Pol Pot Regime. Oder die Mao- Revolution. Oder den ganzen Irrsinn der Post- und Anti- Intellektuellen, das Ganze fürchterliche Anti- Humane. Wenn dann in diesem Blog die Hatz gegen den "intellektuellen" Christian Clement eröffnet wird, denke ich schon immer: Wie viel Pol Pot schwingt da mit?
16.3.2015, 21:12 Uhr. o


Mit solchen Äußerungen meint Eggert also immer wieder, sämtliche Menschen, die seine Art Anthroposophie-Verständnis nicht teilen, unwiderleglich auf die Stufe der Für-immer-prämodern-zurückgebliebenen Nicht-Versteher Rudolf Steiners verwiesen zu haben.

Was ist solchen Äußerungen eigen und gemeinsam? Schärfste Urteile, gefällt mit dem für Eggert typischen jovialen bis genüsslichen Sarkasmus, gesteigert bis hin zu Pol Pot. Das erinnert unmittelbar an die Taktik, mit der Helmut Zander versuchte, Rudolf Steiner zu diffamieren: Er rückte die Dreigliederung ganz in die Nähe von Adolf Hitler (siehe hier).

Aber gehen wir Eggerts eigentlichen Aussagen jenseits der gröbsten Tiefschläge einmal nach. Was behauptet er?

• Viele Leser halten (gegen Steiner) das Credo der Zweiheit von Denken und Offenbarung hoch.
• Ebenso unanthroposophisch sei das Hochhalten eines „gesonderten“ Spirituellen, einer Religion, eines Christusbegriffs.
• Denen, die Steiners Denken über das Denken folgen (also sich z.B. in seine „Philosophie der Freiheit“ vertiefen, gemeint ist hier z.B. Christian Clement), wird Hochmut und Ungeistigkeit vorgeworfen.
• Ein schwammiges „Herzdenken“, vorgestellt wie eine (alt?/neu?-)testamentarische Offenbarung, wird hochgehalten.
• Dies entspricht dem Milieu der Theosophischen Gesellschaft (deren Trägerinnen Rudolf Steiner auch später manchmal als „Tanten“ zu bezeichnen pflegte).
• Angesichts dessen kann man die Verzweiflung eines Georg Kühlewind verstehen.
• Wer heute das „Intellektuelle“ (c.s. Clement) verteufelt, hat offenbar den (anti-intellektuellen) Nationalsozialismus oder das Pol-Pot-Regime nicht mitbekommen – bzw. trägt in sich selbst im Grunde Elemente dessen.

Alle diese sieben einzelnen Gedanken hängen natürlich miteinander zusammen. Sie bilden aber bei Eggert ein schwammiges Gemisch, in dem unglaublich viel durcheinandergeht. Ich werde einzeln darauf eingehen.

Denken und Offenbarung

Eggert möchte offenbar sagen, dass sich mit der „Philosophie der Freiheit“ die Trennung von Denken und Offenbarung erübrigt habe – da sich im Denken selbst bereits der Weltengrund und das Wesen der Dinge offenbare und da auch alle Offenbarung nur vom Denken erfasst und begriffen werden könne.

Soweit kann man mit Eggert sicherlich ganz einig sein – und um diese Erkenntnisse zu haben, braucht man Eggert in keiner Weise. Er rennt sozusagen offene Türen ein. Sein Fehler ist jedoch, dass er ignoriert, dass Rudolf Steiner etwa zehn Jahre nach der „Philosophie der Freiheit“, mit etwa vierzig Jahren, eine Geisteswissenschaft zu begründen begann, deren Erkenntnisse über die „Philosophie der Freiheit“ weit hinausgingen – bzw. die nun da begann und weitermachte, wo die letztere zunächst aufgehört hatte.

Eggert ignoriert, dass Rudolf Steiner immer wieder betont hat, dass man sich für diese Erkenntnisse vorbereiten müsse. Eggert hätte hierfür einfach nur den Blog-Beitrag unmittelbar vor seinen eigenen verbalen Entgleisungen lesen müssen. Dort zitierte ein Teilnehmer folgende Worte Rudolf Steiners:

Wer in solchen Dingen klar sieht, der erkennt, wie tief eingewurzelt gegenwärtig der „Hochmut“ des auf die sinnlichen Tatsachen gerichteten Verstandes ist. Er sagt: ich will nicht Entwickelung der Kräfte, damit ich zu höheren Wahrheiten gelange, sondern ich will mit meinen Kräften, so wie ich bin, über die höchsten Wahrheiten entscheiden.
April 1904, GA 34, S. 148. 


Dies ist der Kerngedanke, um den es geht. Und man kann noch folgende Sätze für das kritische (!) Verstandesdenken hinzufügen, die Steiner wenig später schreibt:

Das Leben im Geiste kann nur begriffen werden, wenn der Mensch es nicht nach dem äußerlichen Verstande kritisieren, sondern wenn er sich in seinem Innern dazu entwickeln will.
Ebd.


Dafür genügt es nicht, sich nach dem äußerlichen Verstande einige Thesen zurechtzulegen und dann mit eben demselben Verstande zu glauben, man sei Steiner so nah auf die Spur gekommen wie noch niemand vor einem (Stichwort „ideogenetisches Grundgesetz“). Ein solches Verstandesdenken bleibt ein solches – und der Hochmut und der Unwille, andere Kräfte zu entwickeln, ist dann offensichtlich, es zeigt sich letztlich in allen Äußerungen. Hinzu kommt, dass es ja sogar ein „wissenschaftliches“ Ideal ist, keine anderen Kräfte zu entwickeln – sondern eben gerade mit dem abstrakten, hochmütigen Verstand, den im Grunde jedermann hat, zu „forschen“.

Nein, hinter den kritischen Verstand will niemand zurück – weder Rudolf Steiner wollte das, noch diejenigen, die ihn recht verstehen. Dennoch kann man mit Rudolf Steiner immer wieder betonen, dass es bei diesem Verstand auch nicht bleiben darf, wenn höhere Erkenntnisse gewonnen werden sollen ... und wenn die Menschheit überhaupt eine Zukunft haben soll (was der hochmütige, kritische, „moderne“ Verstand natürlich überhaupt nicht ernst nimmt, sondern verspottet).

Wenn Rudolf Steiner immer wieder darüber gesprochen hat, dass man seine „Philosophie der Freiheit“ wie ein Kochbuch oder wie ein anderes, übliches Buch gelesen habe, dann meint er damit natürlich auch ein kritisches Denken –, das schon damals weiter verbreitet war, als es sich Eggert vielleicht träumen lassen würde. Was hat man nicht alles gegen die „Philosophie der Freiheit“ eingewandt! Kritisches Denken allerorten – aber gelesen hat man es nicht, nicht so, wie Rudolf Steiner es erwartet hatte. Und wie hat er es erwartet? Nicht etwa kritik-los, sondern in einer ganz neuen Art, die jenseits von kritisch und kritik-los liegt – nämlich so, dass man selbst in ein Leben des Geistes hineinkommt.

Das, was heute unter „Selbstreflexion der eigenen Voraussetzungen und Methoden“ läuft, kann ein allererster Ansatz dazu sein, es kann aber auch einfach nur eine weitere Stufe eines völlig abstrakt bleibenden Denkens bleiben, das nicht einen einzigen Schritt zur „Entwicklung neuer Kräfte“ vollzieht. Entscheidend ist nicht ein Denken über das Denken, das selbst als solches völlig abstrakt und selbst-entfremdet bleiben kann. Entscheidend ist, dass die Rückkehr des Denkens auf sich selbst zu einem Erlebnis wird – zu einem einschneidenden Erleben, das einer Geburt gleichkommt: einer Geburt eines ersten zarten Keimes, der dann weiter entwickelt werden muss.

Erst wenn die innere Tätigkeit erlebt wird – und dann geht es primär nicht mehr um Inhalte –, beginnt das Denken einen solchen Charakter zu bekommen, dass sich in ihm Kräfte entwickeln lassen, mit denen „zu höheren Wahrheiten gelangt“ werden kann.

Es ist somit ganz klar, dass nach Steiner

• Denken nicht gleich Denken und kritisches Denken nicht gleich kritisches Denken ist, sondern dass es hier entscheidendste Unterschiede gibt;

• kritisches Denken selbst (im vor- und im üblich-wissenschaftlichen Sinne) nicht zu höheren Wahrheiten kommen kann;

• dasjenige Denken, das zu höheren Wahrheiten kommen kann, keineswegs un-kritisch ist, weil es die Essenz jeder Kritik, nämlich volles Selbstbewusstsein, in sich bis in die Tiefe wahrgemacht hat.

Der Unterschied von Denken und Offenbarung ist gerade deshalb notwendig, weil andererseits alles Offenbarung ist. Jede Wahrnehmung und jeder Begriff, jede sich einstellende Intuition ist zugleich auch eine Offenbarung. Das kann man gewiss auch bei Kühlewind lernen.

Zugleich kommt nicht jeder Hinz und Kunz zu jeder Wahrnehmung oder jeder Intuition und Erkenntnis. Hinz und Kunz kommen über gewisse, recht enge Grenzen nicht hinaus. Der kritische Verstand im vor-wissenschaftlichen Sinne hat ebenfalls seine Grenzen. Der kritische Verstand im üblich-wissenschaftlichen Sinne ebenfalls – und, man kann es wiederholen: Er steckt sie sich ja selbst. Eine Wissenschaft, die nicht einmal beurteilen will, ob Steiner selbst hellsichtig war oder nicht, hat erst recht kein Interesse daran, wie man denn zu denjenigen Erkenntnissen kommt, von denen die Hellsichtigkeit als Voraussetzung ausgesagt wird. Ihr Untersuchungsgebiet ist also eng begrenzt.

Wenn eine solche Wissenschaft dann zu Thesen kommt (etwa „ideogenetisches Grundgesetz“), dann können das auf den ersten Blick sehr einleuchtende Thesen sein, mit denen sich auf den ersten Blick auch sehr viel erklären lässt – sie bleiben abstrakt. Und ihre Abstraktheit erweist sich daran, dass sie völlig unfruchtbar werden, wenn das Untersuchungsgebiet ausgeweitet wird. Wenn auf den ganzen Steiner übertragen auf einmal gewaltige Widersprüche auftreten bzw. man gar große Teile des Lebenswerkes Steiners vergewaltigen muss, um bei seiner These bleiben zu können. Dann wird alles, wirklich alles, unter diese These „ideogenetisches Grundgesetz“ oder unter die These „Frühwerk“ (bzw. natürlich dessen Verstandes-Interpretation) gezwängt – und alles andere existiert nicht, ja wird „Rückschritt“ genannt oder eben „spirituelle Märchenstunde“ etc. etc.

Hier offenbart (!) sich die Abstraktheit des kritischen Verstandes – und das Denken (!) kann sehr genau einen Begriff dieses abstrakten Verstandes fassen, mitsamt dem ihn durchdringenden Hochmut, genau, wie Steiner es so exakt beschrieben hat.

Offenbarung ist so gesehen einfach ein Begriff für etwas, was sich nur einem entwickelten oder einem für diese Offenbarung würdigen Denken zeigt – was aus Sicht der geistigen Welt sehr oft ein und dasselbe ist.

Dass die geistige Welt nicht einfach ein „Steinbruch“ ist, in dem sich das Denken bedienen kann, wie es mag, sondern dass die geistige Welt selbst dem am weitesten fortgeschrittenen Geistesforscher manche Tatsachen entweder offenbart oder nicht, das hat Rudolf Steiner in eindrücklichster Weise mehrfach wiederholt. Die erschütterndste Offenbarung (!) dieser Tatsache war vielleicht sein Verhalten bei den Vorträgen über das Fünfte Evangelium in Kristiania im Oktober 1913. Andrej Belyi hat seine persönlichen Eindrücke dieser Tage in unvergleichlicher Weise für die Nachwelt festgehalten.

Ein kritisches Bewusstsein, das selbst von Hochmut durchtränkt ist, würde gleichsam automatisch auch die These heranziehen, dass Steiner hier vielleicht geschauspielert haben könnte. Doch daran zeigt sich zugleich die ganze Abstraktheit eines solchen Bewusstseins. Denn die Menschen, die dabei waren, konnten an der echten Erschütterung Rudolf Steiners keinerlei Zweifel haben – es sei denn, sie hätten sich dafür blind gemacht. Gerade das ist aber die Eigenschaft des Hochmutes in diesem kritischen Bewusstsein: Er macht blind für die Wirklichkeit – er macht die eigenen Thesen übermächtig, während die Wirklichkeit gerade vor dem Blick verschwindet. Und es gibt für dieses „moderne“, kritische, hochmütige Bewusstsein Unzähliges, was es nicht ertragen kann. Das beginnt schon mit der höchst unangenehmen Tatsache, dass ein Mensch weiter, viel weiter sein könnte als man selbst. Nicht wenige Menschen reagieren schon allergisch auf den Gedanken der Entwicklung überhaupt! Ein Mensch wie Rudolf Steiner, der ganz offensichtlich (wenn man diese Wahrnehmung, diesen Gedanken, diese Erkenntnis zulässt) viel weiter war als all seine Mitmenschen, kann nicht anders, als größte Widerstände aufzurufen – weil ein wesentliches Element, von dem der „kritische Verstand“ heute einfach nicht frei ist, sich mit aller Macht dagegen erhebt.

Also auch deswegen gibt es die Ergänzung des Begriffes „Denken“ durch den der „Offenbarung“: Weil in dem gewöhnlichen Denken und auch in dem geübt wissenschaftlich-kritischen Denken jede Menge Kälte und Hochmut steckt, die das Denken gerade blind für wesentliche Bereiche der Wirklichkeit machen. Diese Bereiche der Wirklichkeit beginnen sich erst zu offenbaren, wenn das Denken bereit ist, die für diese blind-machenden Elemente abzulegen bzw. ganz zu verwandeln. Hingedeutet ist damit auf eine Läuterung des Denkens, auf eine Verwandlung des Denkens selbst. Ein Denken, das sich bereit machen will, dasjenige zu erkennen (Offenbarung), was demjenigen Denken, welches es zunächst ist, verschlossen bleibt, muss bereit sein, die Ehrfurcht in sich aufzunehmen. Denn diese gerade ist die „heilende Arznei“ gegen den Hochmut, das blindmachende Gift, das im Denken zunächst wirksam ist. Sie ist aber zugleich auch eine erste Arznei gegen die Kälte des heutigen Denkens – die ein weiteres Gift für jedes höhere Erkennen ist.

Man kann all diese Tatsachen auf einen Punkt bringen und sagen: Wenn das Denken von den Einflüssen der Widersacher gereinigt wäre, würde es wahrhaft beginnen, mit dem übereinzustimmen, wie es heute von den guten geistigen Mächten gewollt wird – würde es beginnen, wahrhaft rein erkennend zu werden ... und dann fiele nach und nach wirklich aller Unterschied zwischen „Denken“ und „Offenbarung“ fort. Wirklich fort fiele dieser jedoch erst, wenn das Denken sich nicht nur von der Macht der Widersacher befreien könnte, sondern sich auch mehr und mehr mit der Kraft erfüllen könnte, die wirklich die Kraft des Erkennens ist – und die ebenfalls mit einem Wesen zu tun hat, das das Mysterium des Erkennens bis in seinen Namen hinein trägt.

Läuterung und Erkraftung – das sind die Bedingungen, die den Unterschied zwischen Denken und Offenbarung überwinden können.

Das „Gesonderte“ und der Christusbegriff

Wenn man bis hierhin folgen konnte, kann auf die nächste Aussage Eggerts übergegangen werden.

Eggert wundert sich über das „Hochhalten“ eines „gesonderten“ Spirituellen, einer Religion, eines Christusbegriffes. Was will er mit dem letzteren eigentlich sagen? Mit dem ersteren will er offenbar sagen, dass, wenn bereits das Denken die Vereinigung mit dem Weltengrund ist, es keinerlei weiterer Spiritualität oder Esoterik bedarf – und einer Religion natürlich schon gar nicht.

Darauf ist zu erwidern: Sagen kann man viel – das abstrakte Denken sagt sogar gern besonders viel –, doch davon wird das, was Rudolf Steiner gesagt und geschrieben hat, nicht automatisch auch eine allgemeingültige, verwirklichte Wahrheit für alle Menschen. Hier liegt übrigens auch ein Kritikpunkt Clements. Er will ja ebenfalls zum Ausdruck bringen, dass diejenigen, die Steiner verstanden haben, durchaus noch nicht das verwirklicht haben, wovon er spricht. Doch das behaupten diese Menschen zumeist ja auch gar nicht. Dennoch ist es sehr wesentlich, Steiner überhaupt erst einmal richtig verstanden zu haben – denn wenn man ihn falsch oder unzureichend verstanden hat, wird man gar nicht erst in der Lage sein, überhaupt verwirklichen zu können, wovon er spricht und schreibt.

Wenn also Menschen Clements Auffassung und Herangehensweise kritisieren, tun sie dies nicht aus Dogmatismus oder gänzlich unkritischem, religiösem Glauben an Steiner, sondern weil sie (a) vollkommen ernst nehmen, was Rudolf Steiner über höhere Erkenntnis, die Anthroposophie und das notwendige Herangehen an diese sagt, und weil sie (b) zumindest so weit gekommen sind, die Wahrheit des von Steiner (über diese Bedingungen) Gesagten selbst erlebend nachvollziehen zu können. Es ist also nicht Glaube, sondern Erkenntnis, was die Kritik an Clements Herangehensweise und Grundthesen so scharf macht. Es wird unmittelbar erkannt, dass der spätere Steiner hier vergewaltigt wird und dass man mit dieser Art „Erkenntniswerkzeug“ überhaupt nicht weiter kommt.

Wenn Steiner an anderen Stellen auch sagte, dass der normale wissenschaftliche Verstand die Anthroposophie erfassen könne – und wenn er immer wieder dazu aufforderte, diese zu prüfen, und wenn er sich immer wieder bemühte, die höheren geistigen Erkenntnisse in eine solche Sprache zu bringen, dass sie von dem gewöhnlichen wissenschaftlichen Denken anerkannt werden könnten ... dann beruht dies auf Steiners Hoffnung, dass dieses gewöhnliche Denken zumindest die allerersten Schritte tun könnte, sich von seinem Hochmut und seinen Vorurteilen zu befreien.

Dass diese Hoffnung bis auf ganz, ganz wenige individuelle Ausnahmen aber trügerisch gewesen ist und auch noch für lange Zeit sein wird, zeigt die Tatsache, dass selbst Clement natürlich weiß, dass allein schon das Wort „Hellsichtigkeit“ auch in unserer Zeit noch ein absolutes Verdikt ist. Kein „vernünftiger“ Wissenschaftler wird sich daraufhin ein Buch anschauen – dies zeigt aber nicht die Wissenschaftlichkeit eines solchen Menschen, sondern nur die Begrenztheit dessen, wofür er Interesse entfalten und was er ernst nehmen kann. Wissenschaftlichkeit, wie Steiner sie verstand, besteht jedoch gerade in Unbefangenheit und in echter, aufrichtiger, wirklich nicht hochmütiger Forscher-„Neugier“ im besten Sinne. Doch die heutige Wissenschaft durchschaut nicht einmal selbst-kritisch (!), in welch enges Gefängnis sie sich inzwischen eingemauert hat und durch soziale (Diskurs-)Zwänge auch immer wieder und weiter eingemauert wird. Allein an einem solchen Phänomen, was jeder Wissenschaftler aus eigener Anschauung „kennen“ müsste, könnte man bereits eine Phänomenologie der Widersachermächte entfalten...

Am Begriff der Widersacher kann man aber auch erläutern, welchen Sinn das „gesondert Spirituelle“ hat. Einerseits ist man, wie wir sehen, bereits in der herkömmlichen Wissenschaft mitten im Spirituellen – nämlich in den Abgründen, die aber vom Wissenschaftler gar nicht erkannt werden. Andererseits ist das Spirituelle im engeren Sinne gerade dasjenige, was mit der Überwindung der Widersacher zu tun hat – wodurch man den guten geistigen Mächten und den höheren Erkenntnissen näher kommt bzw. sich mit diesen immer mehr verbinden kann. Das Spirituelle ist überhaupt nicht gesondert – aber es hat Bedingungen, um zu ihm kommen zu können. Und diese Bedingungen sind gerade die Überwindung der Hindernisse, die das gewöhnliche Denken, Bewusstsein, Erleben, Seelen-Sein von ihm fernhalten.

Nun kann man darauf natürlich noch erwidern: Und dennoch, warum sonderst du das? Es ist doch alles innig verbunden, es geht doch um das Jetzt und Hier? Die Mysterien finden doch auch am Hauptbahnhof statt? Warum sprichst du von einer geistigen Welt, die gar nicht „da oben“ ist, sondern in uns – alles, wovon du sprichst, findet doch in uns statt? Es geht um den Menschen! Warum sonderst du eine geistige Welt davon ab?

Nun, diese Frage kann man dann gleich an Rudolf Steiner selbst richten. Dass man es nicht tut, ist schon Teil derjenigen Tendenz, die den ganzen späteren Rudolf Steiner (das heißt die zweiten zwei Jahrzehnte seines öffentlichen Wirkens) am liebsten stillschweigend ad acta legen will. Es ist heute eben „modern“, nicht mehr von einer geistigen Welt zu sprechen. Auch die höheren Wesenheiten sind nicht mehr modern. Man würde heute am liebsten ohne sie auskommen. Es gefällt dem gewöhnlichen und auch dem sich spirituell dünkenden Denken nicht, dass es „über“ einem höhere Wesenheiten geben könnte. Wenn der Mensch doch ohnehin der Mittelpunkt des Kosmos und das Götterziel ist – warum dann nicht gleich alle „höheren“ Wesenheiten weglassen!?

Rudolf Steiner hat es aber so geschildert – und damit wird sich jeder „Kritiker“ auseinanderzusetzen haben. Diese Aussage ist nun nicht gleichbedeutend damit, zu sagen: „Aber der Doktor hat gesagt...“. Sondern sie will nur betonen, dass man nicht darum herumkommt, den späteren Steiner ehrlich und ganz offen ad acta zu legen, wenn man damit nicht fertig wird (weder emotional noch im Denken). All die anderen Begründungen, Steiner habe Rücksicht nehmen müssen, auf die Menschen, die sein Frühwerk nicht verstanden und vertrugen, sind Schein-Begründungen, mit denen man nur sich selbst die Verabsolutierung des Frühwerks begründet und absichert – es sind Selbst-Überredungskünste, mit denen man sich und anderen begründen will, warum man im späteren Steiner am liebsten nur einen „Märchenonkel“ oder einen „Verpackungskünstler“ sehen will. Dass man mit diesem Rätsel einfach nicht zurande kommt, dafür reicht das eigene (selbst-)kritische Denken nicht. Man greift zur erstbesten These, die alles scheinbar ganz einfach und völlig widerspruchsfrei erklären kann – und fertig ist ... der nächste SKA-Band (zum Beispiel, oder auch der nächste gehässige Eggert-Kommentar).

Der Ernst, mit dem Rudolf Steiner zwanzig Jahre seines Lebens von diesen Dingen sprach – bis hin zu den tiefsten Offenbarungen (!), die nicht er gab, sondern die geistige Welt ihm gab, bis hin zu seinem Vermächtnis in den „Leitsätzen“; und zwanzig Jahre geben noch viele, viele weitere Beispiele –, sollte jeden seichten Kritiker für mindestens eben dieselbe Zeit verstummen lassen, um in dieser Zeit einmal alle Punkte zu prüfen, die seine ach so seichten Thesen völlig umstoßen würden, wenn er sie nur ernst nähme.

Doch Christian Clement ist keine These zu billig, und so hat er auch diese noch:

Ist der "Gott" in Steiners Spätwerk der "Gott" der Religionen, oder der "Gott" des steinerschen Frühwerks? DAS scheint mir die Gretchenfrage zu sein. Steiner hat es versäumt, seinen Anhänger diese Frage ganz klar zu beantworten, sei es, weil er seinen Anhängern das Selberdenken nicht abnehmen wollte, sei es, weil er sich am Ende in der Rolle des Propheten verloren hat.
29.10.2014, 13:56 Uhr. o 


Es mag ja sein, dass Clement wirklich mit diesen Fragen ringt – und das sollte man ja auch –, und der Wissenschaftler kann auch jede These formulieren und prüfen, die er mag. Die Frage ist nur, ob man damit der Wahrheit näher kommt – oder sich immer weiter von ihr entfernt. Nochmals: Für das gewöhnliche, kritische, aber auch hochmütige Bewusstsein liegt es unendlich nahe, zu der bequemen These zu greifen, dass sich der späte Steiner eben „in der Rolle des Propheten verloren“ habe. Schnell gedacht, schnell geglaubt, schnell Überzeugung geworden ist so eine These. Und zugleich kann man sich unglaublich sicher sein, den frühen Steiner vollkommen verstanden zu haben. Ja, man kann sogar überzeugt sein, den ganzen Steiner verstanden zu haben und die volle Ehrenrettung des frühen Steiners zu betreiben, der ja der wichtige und entscheidende gewesen sei... Man kann sogar die Überzeugung gewinnen, Steiner als Einziger wirklich verstanden zu haben und nun die Aufgabe zu haben, der Welt die Wahrheit zu verkünden... Man kann sogar überzeugt sein, Steiner besser verstanden zu haben, als er selbst, und die Aufgabe zu haben, ihn zu berichtigen, seine wahren Intentionen der Welt mitzuteilen, was er nicht vermocht habe... Man kann überzeugt sein, Steiner habe sich bis in seinen „Lebensgang“ hinein in Grund und Boden geschwindelt, und, ja, wirklich „in der Rolle des Propheten verloren“...

Wenn man einmal in aller Ruhe und meditativ durchdenken, durch-erleben würde, was das eigene Denken, Fühlen und Wollen hier eigentlich tut, würde man schon einen wirklich esoterischen, spirituellen Weg beschreiten und die „Sonderung“ teilweise aufheben und heilen... Dies würde aber wirklich nur gelingen, wenn man all die feinen Bewusstseinsprozesse erleben könnte – also etwa, wie schnell eine solche Anfangsthese bei der Hand ist. Wie eindrücklich das Erleben ist, wenn sie auf einen Schlag ganz viel zu erklären scheint. Wie gern man eine solche These dann festhält. Wie sie von selbst Weiteres zu erklären scheint (was allerdings bereits die Brille ist, durch die man mit dieser These alles betrachtet). Wie der Hochmut angestachelt wird, wenn man auf einmal etwas entdeckt zu haben meint, was bisher immer übersehen wurde. Wie man schließlich sogar die Vorstellung vom Propheten und Märchenonkel scheinbar ganz widerspruchslos in das entstandene Gedanken- und Gefühls-Gebäude integrieren kann...

Und ich habe hier nur die wesentlichsten Stationen aufgezählt – in Wirklichkeit müsste eine solche Selbstbesinnung ganz, ganz langsam und tiefgehend stattfinden, wenn man wirklich zu einer Prüfung, Selbstreflexion und Selbsterkenntnis kommen wollte, die immer so schnell und leicht bei anderen gefordert und vermisst wird, die man aber selbst immer nur nach wissenschafts-üblicher Weise betreibt, nie aber in dem Sinne, wo man wirklich die Wahrheit – oder eben wieder: die höhere Wahrheit – erkennen könnte.

Auch hier kann man alles wieder sehr gedrängt zusammenfassen: Das Spirituelle müsste überhaupt nicht gesondert werden oder bleiben, wenn es wirklich erkannt werden würde. Das zuvor Gesagte zeigt aber, dass jemand wie Eggert zwar schnell über das Spirituelle spricht, dass man aber überhaupt erst bis in die geschilderte Tiefe dringen müsste, um wirklich zum Spirituellen zu kommen. Und selbstverständlich wird das Spirituelle so lange etwas Gesondertes bleiben – einfach als Faktum –, so lange Menschen nicht bereit sind, bis zu dieser Tiefe in die (letztlich eben spirituelle) Realität vorzudringen.

Es ist selbstverständlich, dass man, wenn man den späteren Rudolf Steiner ernst nimmt, hinzufügen kann und muss, dass die Christus-Wesenheit und eine Beziehung zu dieser dem Menschen bei diesem Schritt helfen kann, ja, dass dieser Schritt ohne eine solche Beziehung gar nicht möglich sein wird. Wer also bereits den Begriff der Christus-Wesenheit ablehnt oder mit ihm nicht viel anfangen kann, der wird auch bei dem geschilderten Schritt größte, ja unüberwindliche Hindernisse erleben. Er wird vielleicht meinen, in das Spirituelle hineinzukommen, aber es wird allenfalls dessen Vorhof sein. Die Hindernisse werden ihm auch dies verschleiern.

Man kann den Begriff zunächst ganz ablehnen oder außen vor lassen, weil man ihn ja auch gar nicht von Anfang an wahr fassen kann. Doch dann muss die spirituelle Suche schon sehr aufrichtig und rein sein oder mit der Zeit werden ... dann wird die Suche selbst zu diesem Begriff (und zum Wesen dieses Begriffes) hinführen. Rudolf Steiner hat ihn rein entfaltet. Und wenn man die „Philosophie der Freiheit“ so liest, wie Rudolf Steiner es gehofft hat, dann führt auch sie zu ihm hin, denn sie führt in ein Erleben des Geistes hinein. Und wenn dieses Erleben rein genug ist, um in der Seele die Sehnsucht nach Läuterung zu entfachen, weil sie erlebt, dass sie ohne diesen Schritt niemals weiter kommen wird, führt einen der Weg der „Philosophie der Freiheit“ dem Erkennen der Christus-Wesenheit entgegen. Von nichts anderem handeln ja die Bücher von Mieke Mosmuller: davon dass das Frühwerk Rudolf Steiners, lebendig aufgenommen, das heißt, das Geistige erweckend, gerade zu jenem Wesen hinführt, dass der spätere Steiner dann als das Mittelpunkts-Wesen der Erdenevolution geschildert hat.

Hochmut und Ungeistigkeit

Eggert kritisiert, dass „denen, die Steiners Denken über das Denken folgen“, Hochmut und Ungeistigkeit vorgeworfen wird.

Die vorangegangenen Ausführungen sollten zur Genüge gezeigt haben, inwiefern dies geschehen ist. Man kann in vielerlei Weise „Steiners Denken über das Denken folgen“. Clement tut dies, und andere Menschen, die sich der Anthroposophie und Rudolf Steiner verbunden fühlen, tun dies ebenfalls. Es ist im Vorangegangenen mehrfach gesagt worden, in welcher Weise dies geschehen muss, wenn das eintreten soll, worauf Rudolf Steiner gehofft hat. Man kann jahrzehntelang „Steiners Denken über das Denken folgen“, ohne dass das eigene Denken lebendig wird.

Das ist natürlich sehr unangenehm, wenn gesagt wird, dass mit dem Denken etwas geschehen soll, und man nicht genau weiß, was. Ist denn nicht schon genügend geschehen, wenn man „erlebt“, dass man Steiner tiefgehend verstanden hat, ja, vielleicht sogar mehr als jeder andere? Nein, das reicht eben nicht! Bei der Frage, ob man die „Philosophie der Freiheit“ richtig gelesen hat, ist nicht entscheidend, ob man Rudolf Steiner „verstanden“ hat, sondern ob das eigene Denken lebendig geworden ist – zu einer Realität, die es vorher in keinster Weise war. Das ist die entscheidende Prüfung, ob man Rudolf Steiner verstanden hat! Zumindest verstehen sollte man, dass es hierauf ankommt und auf nichts anderes.

Wenn man dieser Realität zumindest nahekommt oder sie zumindest ahnen kann oder zumindest durch und durch versteht, was gemeint ist – dann kann es nicht mehr sein, dass man den späteren Rudolf Steiner derart verdreht, wie es zum Beispiel Clement tut. Denn sobald das Denken wirklich etwas Lebendiges wird – in dem Sinne, wie es Steiner selbst immer wieder beschrieben hat –, hat ein solches Denken keine Schwierigkeit mehr damit, den frühen und den späten Steiner beide widerspruchslos und ohne Vergewaltigung denken zu können. Denn ein solches Denken erlebt dann selbst, dass es einen Entwicklungs- und Erkenntnisweg durch seine nunmehr geschehene Geburt überhaupt erst betreten hat – und es hat dann nichts mehr mit Monismus oder Dualismus oder sonst etwas zu tun, dass dieses Denken auch erlebt, wie man sich dazu bereit machen kann, eine Welt zu erkennen, die einem bisher verborgen geblieben ist; wie man dazu kommen kann, dass sich einem diese bisher verborgene Welt und ihre Wesenheiten zu offenbaren beginnen. Rudolf Steiner hat diese Wege schließlich selbst immer wieder beschrieben – und das lebendig werdende Denken kann diese Wege voller Vertrauen betreten, weil es ja selbst erst durch das Befolgen der von Rudolf Steiner gebahnten Wege ins Dasein getreten ist...

Dieses lebendig werdende Denken erlebt auch unmittelbar den ganzen Charakter des gewöhnlichen Denkens in der heutigen Zeit. So etwas wie die Widersachermächte verliert nach und nach alle Abstraktheit – es wird zum Erlebnis. Damit aber ist deutlich, dass es nicht darum geht, Clement Hochmut und Ungeistigkeit vorzuwerfen – es geht darum, dass das gewöhnliche Denken heute hochmütig und ungeistig ist. Clement macht sozusagen einfach keine Ausnahme – so kann man es auch formulieren. Indem er, wie andere Wissenschaftler und normale Menschen keinen besonderen inneren Schulungsweg betritt, bleibt sein Denken so, wie es heute allgemein-gültig immer ist, das heißt, Clement macht einfach keine Ausnahme von der Regel.

Rudolf Steiner hoffte zu seiner Zeit, als er sich an die Wissenschaft wandte, noch, dass einzelne Wissenschaftler diesen Grundcharakter des heutigen Denkens so weit überwinden könnten, dass Unbefangenheit und eine doch auch im Menschen verborgene Sehnsucht und Suche es „auch“ einem Wissenschaftler ermöglichen könnten, über seinen individuellen und – durch die vom System gezogenen Grenzen – auch den allgemeinen Schatten zu springen und so in die Geisteswissenschaft hineinzuwachsen. Aber auch hier braucht man nur wiederum Rudolf Steiner selbst ernst zu nehmen, um zu wissen (und auch selbst zu erleben), wie diese Hoffnung in unserer Zeit in vielerlei Hinsicht noch fadenscheiniger geworden ist.

Es ist heute noch viel schwieriger als vor hundert Jahren, in die Anthroposophie hineinzufinden. Nicht etwa deshalb, weil unsere Zeit ganz unspirituell geworden ist. Äußerlich ist sie das gewiss nicht. Auch die Wissenschaft hat in manchem den krassen Materialismus umstoßen müssen. Und doch laufen Wissenschaft und Spiritualität in Wirklichkeit ganz nebeneinander her, sind nach wie vor wie Feuer und Wasser. Das Denken hat aber immer mehr von dem verloren, was es früher noch als Erbschaft gehabt hat – wodurch es doch noch einen Zugang zum Geistigen wiederfinden konnte. Man braucht nur einmal auf sich wirken zu lassen, wie Rudolf Steiner über jemanden wie Hermann Grimm sprach, und wie er dann schon damals einen starken Verlust der Geistigkeit erlebte. Und heute sind wir nun einmal wirklich nochmals hundert Jahre weiter. Wer es sehen will, kann es überall sehen: diesen immer weiter zunehmenden Verlust der Geistigkeit. Es gibt natürlich auch die andere Tendenz. Die Sehnsucht danach ist in vielen Menschen durchaus stark da. Nur muss diese Sehnsucht heute mit der ganzen Art des Denkens ringen, wie es mittlerweile geworden ist: schwach, abstrakt... Und auch der Hochmut hat weiter zugenommen, oder man kann auch sagen, immer subtilere Wege gefunden, sich zu äußern und fest im Sattel zu sitzen, selbst da, wo man es nicht glaubt.

Die Schwierigkeiten sind ungeheuerlich. Deswegen ist es wirklich unnötig, Clement im Speziellen und persönlich Hochmut und Geistlosigkeit vorzuwerfen. Im Grunde wird hier von der Natur des Denkens überhaupt gesprochen, die dieses im Laufe der Menschheitsentwicklung immer mehr angenommen hat. Was geschehen muss, um diese Natur wieder zu überwinden und zu verwandeln, ist zuvor ausführlich beschrieben worden. Wenn man dazu nicht bereit ist – entweder, weil es mit dem wissenschaftlichen „Ideal“ kollidiert, oder unnötig erscheint, oder weil man meint, man hätte das Geforderte längst erreicht oder würde es zur Genüge üben etc. etc. – dann muss man mit den Folgen leben und wird es ja zweifellos auch sehr gut können. Nur soll man nicht glauben, man nähme Rudolf Steiner ernst (genug), der gerade über diesen Punkt immer und immer und immer wieder gesprochen hat...

Schwammiges Herzdenken und Verteufelung des Intellekts?

Mit dem Argument, ein schwammiges „Herzdenken“ werde hochgehalten, vorgestellt wie eine (alt?/neu?-)testamentarische Offenbarung, verrennt sich Eggert nun völlig. Die vorangegangenen Ausführungen mögen ausführlich gezeigt haben, dass es hier in keinster Weise um ein „schwammiges Herzdenken“ geht, wie es möglicherweise tatsächlich hier und da in der Literatur und auch von Menschen vertreten wird.

Der einzige Anlass, den Eggert zu seiner merkwürdigen Auslassung haben kann, wäre die Betonung der Ehrfurcht. Dabei geht es jedoch in keinster Weise um etwas Schwammiges, und es hat auch nichts mit irgendeiner bloßen Emotionalität zu tun, die sich gläubig einem Guru zuwendet (in diesem Zusammenhang fällt mir Eggerts andere Äußerung ein, wo er ebenfalls schon nicht zwischen zwei völlig verschiedenen Arten der Ehrfurcht unterscheiden konnte). – Die Ehrfurcht, die Steiner als Grundbedingung jeder inneren Entwicklung betont hat, hat einzig und allein den Zweck, Erkenntnisorgane zu eröffnen. Sie soll sehend machen, nicht blind. Und sie macht sehend, weil sie den ungeheuren Hochmut des heutigen Denkens überwindet. Sie macht das Denken gerade nicht schwach, sondern stark. Sie erst ermöglicht den richtigen Standpunkt.

Aber um dies zu erleben, muss man eine innere Entwicklung eben beginnen wollen – sonst kann man auch hierüber unendlich lange reden und diskutieren. Es ist eine Willensfrage, ob man die Begründetheit dieser starken Betonung, die Steiner auf diese Seelenstimmung legt, einzusehen und zu erleben vermag oder nicht. Mit „schwammigem Herzdenken“ hat dies nichts zu tun.

Es sollte völlig deutlich sein, dass alles zuvor Gesagte auch das absolute Gegenteil von dem „Milieu der Theosophischen Gesellschaft“ ist, das Eggert kritisiert. Und es ist sicherlich ebenso deutlich geworden, dass man zwar Kühlewinds Verzweiflung angesichts verschiedener Zustände in sogenannten „anthroposophischen Zusammenhängen“ verstehen kann, dass aber wiederum alles zuvor Gesagte damit nichts zu tun hat.

Zu Eggerts letztem Argument, dass eine Verteufelung des Intellektuellen sich in die Nähe des Nationalsozialismus oder des Pol-Pot-Regimes bringen würde, ist ebenfalls nicht mehr viel zu sagen. Dies ist nur Eggerts völlig überzogene Reaktion auf etwas, was er bisher und vielleicht auch weiterhin nicht verstehen will. Eggert malt schwarz-weiß, ohne sehen zu wollen, dass niemals „das Intellektuelle“ schlechthin verteufelt wurde – sondern dass immer nur darauf hingewiesen wird, dass der Intellekt in der Form, wie er sich heute offenbart (!), nicht in der Lage sein wird, Rudolf Steiner und seine Anthroposophie ihrem Wesen nach zu erfassen.

Rudolf Steiner hat natürlich ganz und gar auf den Intellekt gehofft – aber eben darauf, dass der Mensch den Intellekt verwandeln kann, läutern, erkraften und verwandeln, auf dass er wieder zu einer „kosmischen Intelligenz“ werden kann. Das ist aber nicht möglich, wenn dieser Weg nicht betreten wird.

Der Intellekt ist sozusagen das A und O der menschlichen Entwicklung, des Messers Schneide, auf der sich die Zukunft der Menschheitsentwicklung entscheiden wird. Der Nationalsozialismus war ebenso irrational wie zugleich auch furchtbar rational, das wird auch ein Eggert nicht bestreiten. Jedes Terrorregime der Neuzeit hatte ein solches rationales Element, in dem sich die unverwandelte Seite des menschlichen Intellekts in furchtbarster Weise mit niederen Emotionen, Instinkten, Vorurteilen etc. verband, nicht zuletzt aber auch mit einem unermesslichen Hochmut.

Wenn das heutige Denken und – als ein Vertreter dessen – Christian Clement bzw. sein Ansatz kritisiert wird, dann nicht deshalb, um diesen Ansatz zu „verteufeln“ oder „eine Hatz“ zu beginnen oder dergleichen, sondern im Gegenteil: Um darauf hinzuweisen, dass diejenige Geisteswissenschaft, die allein das völlige Gegenteil zu jedem Terrorregime sein kann, die allein die volle Menschlichkeit und Mensch-heit bringen kann, niemals wirklich verstanden werden kann und wird, wenn das Denken noch Elemente in sich trägt, die gerade auch so etwas wie den Nationalsozialismus oder das Pol-Pot-Regime möglich gemacht haben.

Es muss einfach dazu kommen, zu erkennen, dass das heutige Denken diese Elemente in sich trägt und dass auch die schlimmsten Regime aus etwas hervorgegangen sind, was in der heutigen Menschheit im Denken, Fühlen und Wollen – aber vor allem auch im Denken – lebt. Rudolf Steiner hat betont, dass heute jeder Mensch zu allem Bösen fähig ist. Das heißt nicht, dass man sich das konkret vorstellen muss, zunächst ist dies eine Realität ganz im Unterbewussten. Was aber sehr wohl sehr genau bedacht, besonnen, erlebt und meditiert werden sollte, ist, wie sehr im Denken wirklich einerseits ein unermesslicher Hochmut und andererseits eine unermessliche Kälte und schließlich auch eine unermessliche Schwäche und Abstraktheit leben.

Wenn man dies wirklich könnte – dies zu erleben und zu meditieren –, dann wäre man mittendrin in der Esoterik. Dann würde die Frage auch allen persönlichen Bezug verlieren. Dann wäre es egal, ob jemand Clement oder Eggert oder sonstwie heißt, es wäre einfach eigenes Erlebnis, dass man mit diesen und jenen umschriebenen Methoden an das Wesen der Geisteswissenschaft nicht herankommt. Vielleicht an den Vorhof, vielleicht an gewisse Punkte, vielleicht auch nah an manche entscheidende Punkte – aber nicht an das Wesen und nicht an den ganzen Rudolf Steiner.

Hiermit schließe ich diese sehr langen Ausführungen, die doch wiederum nur vieles verdeutlichen wollten, was längst auch an anderen Stellen gesagt wurde, was aber offenbar immer wieder (mit Absicht?) nicht verstanden werden will.

Nachtrag: Reaktion ... eine Kakophonie der Sinnlosigkeit

Nachdem ich auf dem Eggert-Blog selbst auf meinen Aufsatz hingewiesen und betont hatte, Eggert möge nicht mehr behaupten, Kritiker von Clements Verständnis- und Herangehens-Ansatz würden die Intellektualität verteufeln, da diese Behauptung das Niveau bloßer Phrasen habe, schloss ich mit den Worten: Erheben Sie sich lieber zu dem Niveau meines letzten Aufsatzes, anstatt auch diesen mit wenigen, unwahren Phrasen abzutun, und gehen Sie mit mindestens derselben Tiefe und Substanz darauf ein.

Weit entfernt davon, dass daraufhin auch nur irgendeine bescheidene Diskussion in der und um die Sache – um die eigentlichen Fragen – eingesetzt hätte, entbrannte nun stattdessen im Laufe des Tages eine Kakophonie von Beiträgen, die im Ganzen nur einmal mehr die drastische Sinnlosigkeit solcher Blogs vor Augen führen können. Mehr als therapeutische Nabelschau kann ich darin nicht erkennen. Hier eine kleine Zusammenstellung der symptomatischen Reaktionen:

Christian Clement, 17:57 Uhr
P.S. [Clement hatte vorher darauf hingewiesen, dass seine Blog-Kommentare, als nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, einen anderen Charakter hätten als seine Äußerungen in seinen Büchern]
Danke, lieber Herr Niederhausen, für Ihre nette Humoreske über "Clements Begegnung mit Rudolf Steiner" . Ich hab mir buchstäblich in die Hosen gepinkelt vor Lachen!!!

Michael Eggert, 18:19 Uhr
"Erheben Sie sich lieber zu dem Niveau meines letzten Aufsatzes.." Glückwunsch, Herr Niederhausen, diese Selbstironie steht Ihnen wirklich gut. Ein großer Fortschritt gegenüber diesem ansonsten oft pompösen Gehabe und dieser aufgeblasenen Rechthaberei. Natürlich werde ich Ihr Niveau nie wirklich erreichen, strebe dies aber auch nicht an. Schuster bleiben bei ihren Leisten, selbstverständlich. Daher bestehen ernsthafte Zweifel, ob irgend ein Blog dieser Welt Ihre "Tiefe und Substanz" je wird erreichen können. Meine Demut, Meister!

M. Butty, 18:41 Uhr
..ich find es auch alles komisch. Andererseits macht es mich ein wenig depressiv. Es gab mal in den 80ern ein Lied "Zwickts mi, i gloab i droam, döss derf ned woar sai, wo sammer dahoam?"... und das sind alles ehrfurchtgebietende seriöse Leute, mit würdevoll aufrechtem Gang... und auf der Astralebene dann, nachts ... Mit einem lachenden Auge, und ... so weiter.. puh, grüßt (oben beim Stubenarrest etc. ist mir meine unterschrift vom karren gefallen..), ohne kitschige "herzchen-denke" mit: Alles Liebe, ... wünsch ich

Stephan Birkholz, 19:58 Uhr
Ich möchte alle Beteiligten (einschließlich mich selbst) damit trösten, dass nichts in der Welt anders als durch sich widerstrebende Prinzipen entstanden ist. Damit darf sich jeder innig darüber freuen, dass er am Schöpfungsprozess beteiligt ist- egal, wie sehr er sich über die anderen ärgern muss...

matthijs, 20:08 Uhr
Beste Christian jetzt 17-03-2015 stimm ich mit dieser Mitteilung ein.
Aber ...später wenn wir weiter gestolpert, aufgestanden, gestolpert usw. sind ja denn?
Heimgemachte Handbuch mit potentierten recepturen?

Michaela, 22:01 Uhr
"...in die Hose gepinkelt vor Lachen !!!"
Was ist dazu zu sagen, außer : panta rhei ???


Egoistisch bloggende Anthropotanten – der Name des Eggert-Blogs ist wirklich gut getroffen. Eggert macht seiner sarkastischen Natur alle Ehre, die Übrigen sondern nichtssagende Kommentare ab, um überhaupt etwas zu sagen – und S. B. taucht mit einer allgemeinen Lebensweisheit alles in den süßen Trank allgemeiner Einigkeit. Eine gemeinsame Nabelschau seichter Blogger, die sich alle wunderbar verstehen und sicher noch Jahrzehnte viel Spaß miteinander haben können. Demonstrative Geistlosigkeit...

Die beiden „widerstrebenden Prinzipien“ können sich die Hände reiben. Die ausgleichende Kraft, ohne die nichts von allem Entstandenen entstanden ist, ist erfolgreich ausgetrieben.