13.04.2015

Clements Parallelwelt

Von neuen Versuchen, Rudolf Steiners Anthroposophie zurechtzustutzen.


Inhalt
Der heutige Intellekt: jenseits der Wahrheit
Clements neue Behauptungen
Mythos statt Geistesforschung
Unglaubliche Verdrehungen
Fazit: Clements „Anthroposophie“


Der heutige Intellekt: jenseits der Wahrheit

Christian Clement, der Herausgeber der SKA (Kritische Steiner-Ausgabe), hat in den letzten Wochen auf dem Eggert-Blog sein persönliches Verständnis der Anthroposophie offenbart.

Der Verlauf der Diskussion ist in den ganzen letzten Beiträgen auf meiner Webseite dokumentiert. In diesen findet man auch die ausführliche Widerlegung seiner sehr blassen, abstrakten Anschauungen. Es ist eigentlich erschütternd, wie man überhaupt meinen kann, den ganzen Kosmos der Geist-Anschauung, die als Geistes-Wissenschaft Rudolf Steiners vor uns liegt, auf einige wenige Kernthesen und Vorstellungen zurechtstutzen zu können. Wenn man erlebend mitverfolgt, was Christian Clement eigentlich als seine eigene Anschauung, Deutung und als Verständnishorizont vertritt, dann bleibt letztlich überhaupt nichts mehr. Die ganze reale Geisteswissenschaft rinnt einem bei Clement durch die Finger – und am Ende bleibt ein Abstraktum, ein Nichts, nichts als Worte.

Würde er mit innerem Staunen davor stehenbleiben, was Rudolf Steiner schon damals alles vertreten und beschrieben hat, und was heute mehr denn je hochaktuell ist (während etwa die Psychotherapie sich erst ganz allmählich an das Wesen des Menschen herantastet), dann wäre dies der Weg, auf dem man immer mehr wahrnehmen könnte, was Geisteswissenschaft ihrem Wesen nach eigentlich ist. Man würde mit dem eigenen Intellekt nicht fortwährend über das Ziel hinausschießen, sondern auf dem Punkt stehenbleiben, den man mit vollster Wahrhaftigkeit vertreten kann und zu dem eigentlich auch das Staunen gehören müsste.

Aber die sogenannte „kritische Wissenschaft“ schießt natürlich fortwährend über denjenigen Punkt hinaus, der noch ganz zu einem wahren Erkennen gehört – und schießt hinein in alle möglichen Urteile, Deutungen, Kontextualisierungen, Parallelisierungen und so weiter. Was der Intellekt dabei eigentlich tut, entgeht ihm völlig. Er meint weiterhin, sich auf relativ sicherem Terrain zu bewegen, aber es sind fortwährend seine eigenen Beziehungen, die er da zieht, seine eigenen Urteile, die er da fällt, seine eigenen Thesen, die er da bildet – und diese brauchen längst nicht mehr das Geringste mit der Wirklichkeit zu tun zu haben.

Das Unterscheidungsvermögen der heutigen „kritischen Wissenschaftler“ ist bei weitem nicht so groß, wie es für die lebendige Geisteswissenschaft notwendig ist, die Rudolf Steiner vertreten hat. Dazu fehlt dem modernen Intellekt eben auch die notwendige Ehrfurcht vor der Wahrheit und Erkenntnis. Was damit gemeint ist, wird heute gar nicht mehr verstanden; es wird allenfalls mit Spott übergossen. Diese Ehrfurcht beginnt jedoch schon damit, gewahr zu werden, wie man sich innerhalb von zwei Sätzen selbst völlig widersprechen kann. Dies kann man jedoch nur gewahr werden, wenn man nicht mehr phrasenhaft denkt, sondern wenn die Wahrhaftigkeit und die Ehrfurcht vor der Wahrheit in jeden einzelnen Satz einzieht, wenn das Denken etwas immer Substantielleres, damit aber auch Behutsameres, damit aber auch Ehrfürchtigeres wird. Das Denken als ein ehrfürchtiges Tasten nach der Wahrheit...

Dafür aber müsste überhaupt empfunden werden, dass man sich der Wahrheit nähern kann, dass sowohl Wahrheit als auch Unwahrheit etwas sehr, sehr Reales sind. Der heutige Intellekt ist aber durchtränkt von jenem Hochmut, der glaubt, über die Wahrheit verfügen zu können; sie in wenigen Thesen umreißen und erfassen zu können. Die Wahrheit ist dem modernen Intellekt nichts Reales, es ist ein Abstraktum. Diese moderne Intellekt ist gegenüber der Wahrheit ganz und gar Nominalist. Man „hat“ die Wahrheit umrissen, wenn die Thesen „stimmen“. Man nähert sich der Wahrheit im „Diskurs“ an – aber das, dem man sich da annähert, gilt überhaupt nicht als etwas Reales. Wahrheit ist „Übereinstimmung mit der Wirklichkeit“, und auch das bleibt völlig abstrakt.

Mit dieser Stimmung jedoch kann man Geisteswissenschaft nicht begreifen. Man kann dann nicht einmal ihren Vorhof betreten, man hat selbst die ersten Bedingungen noch gar nicht erfüllt, geschweige denn begriffen. Die Wahrheit der Geisteswissenschaft liegt fern, fern, unsichtbar hinter mächtigen Bergen...

Clements neue Behauptungen

Aus einer solchen Stimmung heraus versucht Clement nun auf anderem Wege, Steiners Anthroposophie zurechtzustutzen und mit Schelling, Fichte usw. zu parallelisieren. Nachdem er mit dem Versuch, sein „Verständnis“ von Anthroposophie zu verdeutlichen (Stichwort „Universal-Ich“, Ich und Engel), grandios gescheitert ist, weil eigentlich nur der ungeheure Widerspruch zur Geisteswissenschaft Rudolf Steiners immer deutlicher hervorgetreten ist, bringt er auf dem Eggert-Blog nun Zitate von Schelling und Fichte, die den Leser in eine ganz bestimmte Richtung drängen sollen. Dies geschieht jeweils mittels weniger einleitender Zeilen.

Dem Zitat von Schellings „Weltaltern“ stellt Clement die Behauptung voran, dass

„Rudolf Steiner mit seiner Freiheitsphilosophie in die abendländische Mystik und insbesondere in die Theosophie Helena Petrowna Blavatskys eintauchte und mittels dieser Fusion einen dem modernen Bewusstsein angemessenen rationalen Mythos zu erschaffen suchte – die Anthroposophie [...].“
11.4.2015, Ein Klassiker der Geisteswissenschaft: Schellings "Weltalter". o 


Was bleibt hängen? (a) Steiner tat dasselbe wie schon Schelling vor ihm. (b) Steiner tauchte ein in Mystik und Theosophie nach Blavatsky-Art. (c) Er erschuf einen rationalen Mythos, die Anthroposophie.

Wenn man weiß, was Steiner selbst über die Geisteswissenschaft sagte, dann kann man nur erschüttert sein, wie leichtfertig hier die Wahrheit verdreht wird – und dazu reicht es schon, wenn etwas Bestimmtes, was zutiefst mit der vollen Wahrheit zusammenhängt, weggelassen wird.

Die Anthroposophie ist weder eine „Fusion“ von Freiheitsphilosophie, Mystik und Blavatsky-Theosophie, noch ist sie ein „rationaler Mythos“. Sie ist etwas völlig anderes, das gerade zutiefst mit dem Logos, mit dem Logos-Wesen zu tun hat. Gerade dies soll aber völlig ausgeschaltet und totgeschwiegen werden, wenn es nach der „kritischen Wissenschaft“ und anderen Strömungen ginge, die dieses Wesen nicht in seiner Wahrheit kennen.

Dem Zitat aus Fichtes „Bestimmung des Menschen“ stellt Clement voran: 

„In Johann Gottlieb Fichtes Schrift "Die Bestimmung des Menschen" (1800 ) ist in vieler Hinsicht das Experiment keimhaft vorgebildet, das Rudolf Steiner knapp 100 Jahre später unternahm, als er den Versuch unternahm, auf bruchlose Weise die Anschauungen seiner begrifflich-philosophischen  Phase in die Anschaulichkeit einer religiös-theosophischen Weltanschauung zu überführen. Der Übergang von Steiners philosophischem Werk bis 1894 zur theosophisch-anthroposophischen Geisteswissenschaft nach 1904 entspricht im Gestus dem Übergang von den ersten beiden Büchern in Fichtes Schrift ("Zweifel" und "Wissen") zum dritten Buch (über den "Glauben"):“
13.4.2015, Ein Klassiker der Geisteswissenschaft: Fichtes "Bestimmung des Menschen". o 


Was bleibt hier hängen? (a) Steiner tat dasselbe wie schon Fichte vor ihm, bei diesem ist wiederum „vielerlei keimhaft vorgebildet“. (b) Steiner unternahm einen Versuch, ein Experiment. (c) Es ging um die Überführung seiner philosophischen Anschauungen in die Anschaulichkeit einer religiös-theosophischen Weltanschauung. (d) Dieser Übergang entspricht im Gestus dem Übergang von Teil 1 und 2 zu Teil 3 in Fichtes „Bestimmung des Menschen“.

Mythos statt Geistesforschung

Ad a. Mit Worten wie „in vielerlei Hinsicht“, „keimhaft vorgebildet“ etc. kann man letztlich alles begründen und vor allem erfolgreich parallelisieren. Letztlich sind das alles bloße Worte, die alles oder nichts suggerieren können. Es kommt aber ganz darauf an, zu erkennen, wo genau Fichte ein Vorläufer Rudolf Steiners war und wo nicht.

Ad b. Mit Worten wie „Experiment“ und „Versuch“ kann man suggestiv wiederum sehr viel erreichen. Alles hängt davon ab, was dann folgt...

Ad c. Hier tritt einmal mehr zutage, was Clement erreichen will: Die Anthroposophie oder Geisteswissenschaft soll dastehen als eine religiös-theosophische (!) Weltanschauung, die im Grunde nur der Anschaulichkeit dient und nichts weiter ist als eine Veranschaulichung, Bildhaftmachung, Mythologisierung dessen, was schon die philosophische Anschauung des frühen Steiner war.

Für Clement existiert Anthroposophie überhaupt nicht – er hat keinerlei Begriff dafür. Für ihn existiert nur der „rationale Mythos“ einer religiös-theosophischen Veranschaulichung. Den Schritt von der Philosophie zur Anthroposophie oder Geisteswissenschaft erfasst er überhaupt nicht. Clements „Anthroposophie“ ist geradezu die Zerschlagung der Geisteswissenschaft, ihre Lächerlichmachung. Sie wird eingemeißelt in Clements Suggestionen, die sich dem Leser durch fortwährende Wiederholung immer mehr einprägen sollen. „Mythos“, „Veranschaulichung“, „religiös“, „Blavatsky“. Je öfter der Leser diese Worte liest und aufnimmt, um so mehr durchtränkt sich dessen Seele mit Clements Deutung...

Clement zieht die ganze Anthroposophie auf die Stufe der Imaginationen herab – und selbst diese sind eigentlich nichts weiter als ein „rationaler Mythos“, eine „Fusion“ von Freiheitsphilosophie, Mystik und Blavatsky-Theosophie. Konstrukt, Bildhaftmachung, eine neue Religion – das sind die Denkschemata, in denen Clement die Anthroposophie erfasst und die er den Menschen aufdrängt. Von der Erkenntnisstufe der Intuition und von dem wirklichen Wesen der Geisteswissenschaft hat Clement keinen Begriff – und diesen deckt er mit all seinen Deutungen auch völlig zu. 

Unglaubliche Verdrehungen

Ad d. Hier offenbart sich einmal mehr die völlige Willkür der Clementschen Behauptungen. Der Übergang von den philosophisch-erkenntniswissenschaftlichen Grundwerken zur Anthroposophie oder Geisteswissenschaft soll im Gestus dem Übergang von Teil 1 und 2 zu Teil 3 von Fichtes „Bestimmung des Menschen“ entsprechen? Schauen wir uns diese Behauptung einmal näher an.

Buch I bei Fichte hat die Überschrift „Zweifel“. Dies entspricht ganz sicher nicht der Phase der erkenntnistheoretischen Grundwerke Rudolf Steiners. Diese haben die Stufe des Zweifels vielmehr von Anfang an überwunden, weil sie den Zusammenhang des menschlichen Denkens mit der Wirklichkeit erfassen, verstehen und erkennen lassen.

Buch II bei Fichte hat die Überschrift „Wissen“. Darin schreibt Fichte, von Clement zitiert:

[...] diese ganze Sinnenwelt entsteht nur durch das Wissen, und ist selbst unser Wissen; aber Wissen ist nicht Realität, eben darum, weil es Wissen ist. [...] Aber du würdest dich vergebens bemühen, sie [die Realität] durch dein Wissen, und aus deinem Wissen zu erschaffen, und mit deiner Erkenntniss zu umfassen. Hast du kein anderes Organ, sie zu ergreifen, so wirst du sie nimmer finden.


In diesem Teil wird die Sinneswelt als Illusion entlarvt. Der Mensch erkennt die Mitwirkung seines Geistes beim Entstehen der Sinneswelt – aber selbst dies nur insoweit, dass von „Wissen“ gesprochen wird und auch in diesem „Wissen“ die Realität noch immer nicht gefunden wird. Die Sinneswelt erweist sich als Gaukelspiel, erzeugt vom Geist, aber dieser selbst wird auch nur in seiner toten Form erkannt, die bereits keine Realität mehr hat: „Wissen“.

Würde Clement erkennen, dass Rudolf Steiner bereits in seinen Grundwerken auch diese Schein-Stufe schon völlig überwunden hat, er würde nicht schreiben, was er schreibt...

Stattdessen setzt er Steiners Grundwerke mit diesen beiden Teilen „Zweifel“ und (realitätslos bleibendem) „Wissen“ gleich – und die Begründung der Anthroposophie oder Geisteswissenschaft (!) soll nun dem dritten Teil „Glaube“ (!) entsprechen. Ich möchte sagen, wer hier nicht die absolute Haltlosigkeit solcher willkürlicher, gezwungener Parallelisierungen erlebt, dem kann man offenbar alles weismachen.

In diesem dritten Teil „Glaube“ schreibt Fichte, von Clement zitiert:

Gesegnet sey mir die Stunde, da ich zum Nachdenken über mich selbst und meine Bestimmung mich entschloss. Alle meine Fragen sind gelöst; ich weiss, was ich wissen kann, und ich bin ohne Sorge über das, was ich nicht wissen kann. [...] Ich weiss in jedem Augenblicke meines Lebens sicher, was ich in ihm thun soll: und dies ist meine ganze Bestimmung, inwiefern dieselbe von mir abhängt. Hiervon, da mein Wissen nicht darüber hinausreicht, soll ich nicht abgehen; ich soll darüber hinaus nichts wissen wollen [...].


Dies also soll den Übergang von der Freiheitsphilosophie zur Anthroposophie bezeichnen? Dass Fichte sich in die Überschrift „Glaube“ flüchtet und die Bestimmung des Menschen darin sieht, dass der Wille (durch die göttliche Stimme des Gewissens) immer weiß, was er tun soll? Dass dies „meine ganze Bestimmung“ ist? Dass „mein Wissen nicht darüber hinausreicht“? Und dass ich „darüber hinaus [auch] nichts wissen wollen“ soll?

Das ist das Gegenteil von Rudolf Steiners Anthroposophie und Geisteswissenschaft! Für Rudolf Steiner gab es gerade keine Erkenntnisgrenzen. Für ihn gab es gerade keine festgelegte „Bestimmung des Menschen“. Für ihn gab es kein gläubig-sicheres „Immer wissen, was der Wille tun soll“. Keine Flucht in die Gottesstimme des Gewissens und die Überzeugung, dass man darüber hinaus nichts wissen könne und auch nicht wollen solle.

Welch eine furchtbare Verdrehung und völlige Pervertierung versucht Clement hier eigentlich? Er stellt die Dinge wirklich auf den Kopf – und glaubt, seine wissenschaftliche Autorität könnte reichen, damit Menschen ihm dies abkaufen? Möge er so viel Behauptungen in die Welt setzen, wie er mag! Die Aufgabe freier Geister ist es, die absolute Willkür und Vergewaltigung der Tatsachen zu erkennen und innerlich zu empfinden, wirklich zu erleben...

Fazit: Clements „Anthroposophie“

Schelling und Fichte, überhaupt der ganze deutsche Idealismus, waren großartige Vorläufer der Anthroposophie – dies hat Rudolf Steiner auch immer wieder betont. Dennoch gilt es, ganz klar den Punkt zu fassen, wo die Geisteswissenschaft über den deutschen Idealismus hinausgeht – und zwar schon in Steiners Grundwerken! Genau den Punkt zu fassen, wo bloße Gedankengebäude oder bloße Ich-Mystik übergehen in wirkliche Geistes-Wissenschaft, in ein wirkliches, wissenschaftliches Erforschen einer ganzen geistigen Welt, die mit dem Menschen zutiefst zusammenhängt, aber ganz anders, als es ein Clement erfassen kann.

Was Clement „erfasst“ und erfasst haben will, das offenbart sich in den beiden Mottos, die er seinen Zitat-Artikeln voranstellt. Sie stammen von Schelling und Fichte:

"Was hält sie zurück, die geahnte goldene Zeit, wo die Wahrheit wieder zur Fabel und die Fabel zur Wahrheit wird?"

"Auf das mannigfaltigste zertheilt und getrennt schaue in allen Gestalten ausser mir ich selbst mich wieder, und strahle mir aus ihnen entgegen."


Mottos sollen in der Regel irgendwie auf die Grundüberzeugung eines Autors hindeuten. Die Grundüberzeugung Clements ist: Anthroposophie ist eine moderne, rationale Fabel, eine religiöse Veranschaulichung (oder vielleicht eher: Unkenntlichmachung!?) der Tatsache, dass ich in allem eigentlich nur mir selbst entgegenkomme (Clements „Universal-Ich“). Anthroposophie als bloße Wiederauferstehung der Ich-Philosophie im Gewand eines modernen Mythos – das ist Clements Bild von der Geisteswissenschaft.

Wieviele Verdrehungen und willkürliche Parallelisierungen er fortwährend vornehmen muss, um dieses Bild in die Welt zu setzen, das bemerkt er nicht. Wir sollten es aber bemerken. Denn erst mit dieser Wahrhaftigkeit und diesem Unterscheidungsvermögen kann Geisteswissenschaft überhaupt beginnen.

Dann aber könnte man wahrhaft bemerken, wieviel Wahres auch bei Schelling und Fichte zu finden ist – wohlgemerkt: bei ihnen, nicht bei Clement.

Denn was Schelling oder auch Novalis als „Fabel“ bezeichnen würden, ist nicht dasselbe wie Clements „Mythos“. Es ist vielmehr eine höhere Wirklichkeit im Vergleich zum bloß intellektuellen Denken. Deswegen betont Rudolf Steiner, dass die Stufe der Imagination erreicht werden muss, wenn über dieses realitätslose Denken hinausgekommen werden soll. Dies ist weder „Veranschaulichung“ noch „Fabel“ im Sinne des abstrakten Denkens, sondern es ist wirklich bereits eine höhere Wirklichkeit, in der das Bild-Denken des Menschen dann lebt.

Und auch der innige Zusammenhang zwischen dem Menschen und der Welt, der der Mensch außer sich begegnet, ist von Rudolf Steiner immer wieder deutlich gemacht worden. Aber auch dies mündet schließlich in eine Geist-Erkenntnis, die eine ganz andere Welt- und Selbst-Anschauung liefert, als Clement sie holzschnittartig suggeriert, und auch eine andere, als sie Fichte skizziert hat. Es ist wirklich der Übergang vom deutschen Idealismus zur Geistes-Wissenschaft.

Wer diesen abstreiten oder unkenntlich machen will, der muss zu Suggestionen und willkürlichen Verdrehungen greifen, und sei es, dass er seinen eigenen Thesen vollkommen glaubt.

Nachtrag

Auch als Vorspann zu einem ewig langen Hegel-Zitat aus der "Phänomenologie des Geistes" [o] spricht Clement wieder nur von Steiners "Versuch" (!), sämtliche Wirklichkeitsgestaltungen als Metamorphosen des Geistes im menschlichen Selbsterkennen zu verstehen.

Dass Hegel überhaupt nicht zu einer Erkenntnis höherer Welten und Wesenheiten kam, sondern nur bis zum menschlichen Selbstbewusstsein ging, fällt Clement gar nicht auf – das heißt, Clement erklärt diese Stufe willkürlich zur absolut letzten und höchsten. Er degradiert alles Höhere (was die Idealisten noch gar nicht erfassen konnten) zu bloßen "Aspekten" des Selbstbewusstseins, weil nicht sein kann, was nicht sein darf...

Nun fehlt es allerdings, wenn Sie die Philosophie Hegels vom Anfange bis zum Ende durchgehen, überall an irgendeinem Weg in die übersinnliche Welt hinein!
16.3.1919, GA 189, S. 161.